Cover
Titel
Streetlife. The Untold History of Europe's Twentieth Century


Autor(en)
Jerram, Leif
Erschienen
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
£ 18.99 / $ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Mende, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Am Übergang zum 20. Jahrhundert wurden Städte zur dominierenden Lebensform in Europa. Während bereits um die Jahrhundertwende etwa 70 Prozent der Briten sowie die Hälfte der Deutschen und Franzosen im städtischen Raum lebten, waren es 1970 rund 70 Prozent aller Europäer (S. 3). Auch deshalb wurde die Stadt zu einer herausgehobenen Projektionsfläche und zu einem Kristallisationskern für die Ambivalenzen der Moderne, ihre Potenziale wie Bedrohungen. Dementsprechend schwankten die wohlbekannten Topoi und Bilder von der Stadt, die auch noch heutige Debatten prägen, zwischen emphatischer Bejahung und kulturpessimistischer Klage.

Jenseits solch etablierter Zuschreibungen begreift der in Manchester forschende und lehrende Historiker Leif Jerram die Stadt vor allem als Möglichkeitsraum; er sucht nach den „specific places“ und „specific spaces“ (S. 42), an denen sich Geschichte abspielt. In „Streetlife“ stellt er der Wirkmächtigkeit anonymer, groß angelegter (politischer) Ideologien und gesellschaftlicher Transformationsprozesse die Eigendynamik des Konkreten und Alltäglichen gegenüber, welche häufig aus spezifischen Bedingungen des (urbanen) Raums entstand. Dem Autor geht es um die Verschränkung von Mikro- und Makroperspektive, „the rendezvous between big and small“ (S. 1), und darum, was passiert, wenn abstrakte Theorien und Prozesse auf konkrete städtische Räume und deren Bewohner treffen. Geschichte wird hier konsequent aus der Perspektive der Stadt und ihrer spezifischen Orte erzählt, womit sich das Buch in die historiographischen Debatten um den „spatial turn“ einreiht.

Anders als es der Haupttitel nahelegen mag, handelt es sich bei „Streetlife“ nicht um eine Geschichte der Straße im engeren Sinne, sondern um eine Geschichte der Stadt und ihrer Orte, zu denen neben ihren Straßen, Plätzen und Hinterhöfen auch ihre Bars, Clubs und Varietés gehören, ihre Filmpaläste, Fabriken und Fußballstadien. Jerram verfolgt deren Geschichte in der Epoche der Hochmoderne, von den 1890er- bis zu den 1970er-Jahren, und wählt einen breiten Fokus, der von Frankreich bis Russland, von Großbritannien bis Italien reicht und damit erfreulicherweise herkömmliche Unterscheidungen zwischen West und Ost, Nord und Süd transzendiert – gefragt wird nach nationalstaatsübergreifenden Charakteristika. Der Autor nimmt Metropolen wie London, Paris, Berlin und Moskau ebenso in den Blick wie aufsteigende und rasant wachsende Industriestädte. Das ermöglicht ein breites und facettenreiches Panorama, überzeichnet jedoch bisweilen die Gemeinsamkeiten und rückt die Unterschiede eher in den Hintergrund. Gleichzeitig wirft es die schwierige Frage nach einer Typologie der „europäischen Stadt“ auf.1

Jerram hat fünf thematische Achsen ausgewählt, die er in einem diachronen Zugriff über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg verfolgt. Sie bestehen aus einzelnen Episoden, Szenen und Konstellationen, die unterschiedlichen Städten entstammen. Abgerundet wird das Ganze durch einen Epilog, der die Linie zu aktuellen Debatten über den urbanen Raum zieht und sich, obwohl bereits vorher entstanden, wie ein nachdenklicher Kommentar zu den Londoner Straßenkrawallen im Sommer 2011 liest. Es handelt sich um ein engagiertes Plädoyer dafür, den städtischen Raum von der Bürde meist negativer Bilder und Zuschreibungen zu befreien und als gestaltbar zu begreifen: „We must learn to love our cities.“ (S. 410)

Die im ersten Kapitel zusammengetragenen Beispiele verdeutlichen die stadträumliche Dimension „hoher Politik“. Besonders eindrücklich unterstreicht dies die Situation des Jahres 1934 in der französischen Hauptstadt: Anders als bei den von Nationalsozialisten und Kommunisten dominierten Straßen der späten Weimarer Republik gelang es in Frankreich der „Dritten Republik“ und ihren Unterstützern, sich gegen ihre Gegner auf der Straße zu verteidigen: „States which can, even at high cost, defend and control urban space, can preserve their political system intact.“ (S. 58) Ein anderes französisches Beispiel gerät weniger überzeugend: Indem Jerram die Pariser Maiereignisse des Jahres 1968 zwar zurecht ihres überhöhten revolutionären Mythos zu entkleiden trachtet, läuft er Gefahr, die eine Engführung – jene auf die Ideen bezogene – durch eine andere zu ersetzen, die vor allem auf die konkreten räumlichen Umstände abhebt (vor allem an der neu gegründeten Vorortuniversität Nanterre). Gerade angesichts der umfangreichen Literatur zum Thema hätte man sich zudem auch von einer Überblicksdarstellung gewünscht, dass sich ihre Argumentation auf etwas mehr stützt als vornehmlich auf eine zeitgenössische Darstellung, ergänzt um zwei Aufsätze.

Im zweiten Kapitel geht es um den Ort der Frau in der Gesellschaft, wobei der urbane Raum als erklärungsmächtiger Platzhalter fungiert. Je nach Situation und Perspektive erscheint dieser für die europäischen Frauen des 20. Jahrhunderts als zu erobernder Freiraum wie auch als neuartiger Bedrohungsraum, was Jerram anhand zahlreicher gut gewählter Beispiele differenziert darstellt. Ebenfalls sehr gelungen ist das dritte Kapitel, „Cultured Metropolis“, welches insbesondere die vielfältigen Formen der Populärkultur in den Blick nimmt, deren Aufstieg untrennbar mit der modernen Stadt des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Das vierte Kapitel, „Sex and the City“, zeigt vor allem am Beispiel männlicher Homosexualität eindrucksvoll, wie Urbanisierung sexuelle Identitäten veränderte oder auch erst hervorbrachte: „This transition of sex from ‚doing‘ to ‚being‘ was important, because on the one hand, it allowed people to organize to acquire ‚rights‘ – but also because it started to exclude people who were not willing to declare (even if only to themselves) that they fundamentally ‚were‘ one thing or another.“ (S. 10) Ähnlich wie schon im zweiten Kapitel hinterfragt der Autor damit ein bloß auf geradlinigen Fortschritt fokussiertes Liberalisierungsnarrativ, das seinen Höhepunkt in den 1960er- und 1970er-Jahren findet.

Zeigt bereits das vierte Kapitel staatliche Einflussversuche auf die Stadt und ihre Bewohner, so rückt der Staat als Interventions- und Kontrollinstanz im fünften Kapitel noch stärker in den Mittelpunkt. Eng angelehnt an Zygmunt Baumans Interpretament von „Moderne und Ambivalenz“ geht es um die Idee der Planung und den „Gärtnerstaat“ in seinen vielfältigen Ausprägungen. Ungeachtet aller Evidenz, die solche Überlegungen auch am Beispiel des städtischen Raums entfalten, wird jedoch gerade in diesem Kapitel die Problematik einer Argumentation deutlich, welche dem Stadt-Land-Unterschied eine höhere Prägekraft zumisst als Kategorien wie Nation, Religion oder Ideologie (zum Beispiel S. 385f.). So plausibel dies bei Themen und Verhältnissen erscheint, die besonders markant durch die Bedingungen der Stadt und ihrer Orte geprägt werden (wie die Kapitel 2 bis 4 überzeugend unterstreichen), so begrenzt wirkt eine solche Perspektive, wenn der (National-)Staat und die jeweils hinter ihm stehenden politischen Ordnungsmodelle entscheidende Prägekraft ausüben – wie es bei der staatlichen Planungs- und Bevölkerungspolitik in der ersten Jahrhunderthälfte der Fall war. Die Errichtung jüdischer Ghettos durch die Nationalsozialisten und die Stadtplanungspolitik liberal-demokratischer Staaten in der Zwischenkriegszeit, deren „intents“ und „effects“ Jerram klar unterscheidet (S. 361), mögen in beiden Fällen mit der „Suche nach Ordnung“ zusammenhängen, fanden aber eben doch unter fundamental anderen ideologischen Vorzeichen statt. Überspitzt erscheint in diesem Zusammenhang auch folgende Behauptung: „Planning is also the self-same logic that underpins the Holocaust and the Ukrainian famine in the 1930s and 1940s, the Great Leap Forward, the Cultural Revolution, and the Khmer Rouge in the 1960s and 1970s, and the European Union’s calamitous Common Agricultural Policy right up to the present day.“ (S. 318, ähnlich S. 363f.) Über dieses bloße Statement hinaus wäre es zumindest interessant gewesen, mehr über die gewiss nicht unumstrittenen Folgen der europäischen Agrarpolitik zu erfahren, und vor allem darüber, inwiefern es sich hierbei noch um eine genuine Stadtgeschichte handelt.

Ungeachtet solcher durchaus provokant gemeinter Zuspitzungen gelingt Leif Jerram insgesamt eine lebendige, mitunter packend erzählte Schilderung einzelner Stadt- und Straßenszenen des 20. Jahrhunderts, deren dichtes Nebeneinander ein facettenreiches Bild von europäischer Geschichte als Stadtgeschichte entstehen lässt. Die einzelnen Episoden dieser Synthese mögen Zustimmung oder Widerspruch hervorrufen, regen aber in jedem Fall zur Auseinandersetzung an. Gewiss sind sie nicht allesamt „unerzählt“, doch ermöglicht ihre Gesamtschau einen neuen und lohnenden Blick auf das 20. Jahrhundert – auch für eine breitere Leserschaft.

Anmerkung:
1 Vgl. Friedrich Lenger / Klaus Tenfelde (Hrsg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln 2006 (rezensiert von Hagen Schulz-Forberg, 2.11.2007: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-096> [18.4.2012]).