P. Kuroczyński: Die Medialisierung der Stadt

Cover
Titel
Die Medialisierung der Stadt. Analoge und digitale Stadtführer zur Stadt Breslau nach 1945


Autor(en)
Kuroczyński, Piotr
Reihe
Urban Studies 8
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 32,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Vasco Kretschmann, Berlin

Stadtführer sind Medien, die die Wahrnehmung von Stadtbildern durch Etikettierung, Hierarchisierung und Katalogisierung der Bestandteile des gebauten Raumes prägen und konstituieren. Obgleich sie sich somit besonders gut eignen, um als Grundlage von Kulturgeschichten des urbanen Raums zu dienen, geschieht dies noch relativ selten. Einen solchen Zugang wählt nun der Architekt Piotr Kuroczyński von der Technischen Universität Warschau in seinem im September 2011 erschienenen Buch zur erinnerungskulturellen Aneignung der Breslauer Architektur seit 1945. Kuroczyńskis primäres Erkenntnisinteresse zielt einerseits auf die Rolle der Medien bei der mentalen Aneignung der Breslauer Stadtlandschaft nach 1945 einschließlich der Konsequenzen des medientechnologischen Wandels wie auch andererseits auf die Bedeutung der Architektur für die geschichtspolitische Konstruktion von Erinnerungslandschaften. Es handelt sich um eine überarbeitete Version seiner Dissertation, die er 2009 bei Manfred Koob an der Technischen Universität Darmstadt eingereicht hat.

Breslau erlebte nach seiner kulturellen und materiellen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg einen vollständigen Bevölkerungsaustausch. Dieser radikale Bruch markierte den Untergang eines in Jahrhunderten symbolisch geformten Raumes. Zur Bildung eines neuen städtischen Charakters bedurfte es einer materiellen wie auch mentalen Aneignung des Ortes und eines langen Integrationsprozesses der regional heterogenen Bevölkerung in einem „Schmelztiegel der Kulturen“.1 Die polnische Regierung proklamierte die Bildung einer national homogenen Gesellschaft und deutete die Angliederung der ehemaligen preußischen Ostprovinzen als Rückkehr der urpolnischen Gebiete zum Mutterland. Damit inszenierte sich die Volksrepublik als Nachfolger der mittelalterlichen Piasten-Dynastie.2 „In Breslau […] arbeiteten die Konservatoren und Architekten […] an einem architektonischen Gesamtkunstwerk zur Visualisierung des offiziellen Geschichtsbildes. […] Die Architektur und der Raum wurden als Ganzes in den Rang eines Zeichens erhoben und in den Dienst der Gesellschaft gestellt“ (S. 97). Für die kriegszerstörte Hauptstadt Niederschlesiens bedeutete die architektonische Visualisierung des Geschichtsbildes der jungen Volksrepublik nicht nur eine politisch motivierte selektive Bau- und Abrisspolitik, sondern auch eine Neuinterpretation und symbolische Aufladung des vorhandenen städtischen Raumes. Langfristig verhinderte diese selektive Stadtaneignung eine Anknüpfung an die prägende Gestalt der deutschen Bürgerstadt. Erst seit der Demokratisierung konnte die deutsche Stadtgeschichte nach 1989/91 wieder zu einem Bestandteil der lokalen Identität Breslaus werden.3

Die Studie gliedert sich in vier Hauptkapitel. Das Herzstück bildet eine diachrone Untersuchung von zwölf Stadtführern aus dem Zeitraum 1946 bis 2009. Eine fundierte Theoriegrundlage und Beschreibung des Untersuchungsfeldes wie auch im Anschluss eine ausführliche Diskussion der Ergebnisse rahmen die Analyse. Formal überzeugt das Buch durch seine kleinteilige und durchdachte Gliederung, die Integration von Abbildungen zum Design der Stadtführer wie auch die Unterstützung durch Grafiken und farbige Kartierungen zur Stadtaneignung. Bedauerlicherweise sind aufgrund des kleinformatigen Druckes einige Karten und Auszüge aus den Stadtführern nur schwer zu entziffern.

Im ersten Kapitel werden die drei Grundlagenfelder der Untersuchung erschlossen: Architektur, medialer Raum und die Entwicklung Breslaus. Kuroczyński diskutiert zunächst die Rolle von Architektur und Medien als erinnerungskulturelle Instanzen zur Vermittlung und Konstruktion von Identitäten. Neben der Erschließung des kulturellen Raumes „Breslau/Wrocław“ werden die historische Entwicklung wie auch die Mechanismen der kulturellen und historiografischen Aneignung des Raumes mit den Mitteln der Architektur erläutert. Der Autor stützt seine Arbeit an vielen Stellen (insbesondere S. 63-94) auf das wegweisende Standardwerk von Gregor Thum zur Transformation Breslaus nach den Zweiten Weltkrieg.4 Seine medien- und architekturbezogene Untersuchung markiert dabei eine Perspektiverweiterung für die bisher hauptsächlich aus der geschichtswissenschaftlichen Perspektive erschlossene erinnerungskulturelle Aneignung Breslaus nach dem Zweiten Weltkrieg.

Obgleich Kuroczyńskis Recherche mit der Erschließung von 200 Printquellen zur medialen Stadtvermittlung (darunter Zeitungen, Zeitschriften, Bildbände, Sachbücher und Stadtführer, Literatur und Ausstellungskataloge), 90 Filmbeiträgen und 70 Radiosendungen auf einer breiten Grundlage steht, konzentriert er sich für die Analyse im zweiten Kapitel auf eine chronologische Auswahl von zwölf Stadtführern, die die Stadt als so genannte „Routenführer“ erschließen. Die untersuchten Handbücher umfassen neun Ausgaben aus dem Zeitraum 1946 bis 1989 und drei Ausgaben aus den Jahren 1993 bis 2003. Darüber hinaus werden drei Internetangebote auf dem Stand von August 2009 einbezogen, die Ähnlichkeiten zu den gedruckten Stadtführern aufweisen. Die ausschlaggebenden Kriterien für die Auswahl genau dieser zwölf Stadtführerausgaben aus dem 64-jährigen Untersuchungszeitraum bleiben indes unklar.

Der Autor stellt die zwölf Stadtführer in chronologischer Reihenfolge vor und untersucht sie hinsichtlich ihrer Struktur, ihrer Gestaltung und ihrer Vermittlung. Die Analyse der internetbasierten Stadtrundgänge beschränkt sich auf die Portale eines privaten Anbieters, einer zivilgesellschaftlichen Initiative und des Internetauftritts der Stadt Breslau. Die Gesamtanalyse bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen dem staatlich gelenkten Verlagswesen der Volksrepublik und der differenzierten kommerziellen Verlagslandschaft nach 1989/91 wie auch zwischen dem ganzheitlichen Vermittlungsanspruch der Print-Stadtführer und den individualisierten digitalen Angeboten. Bedauerlicherweise kommen die politischen und soziokulturellen Hintergründe der Medienformate bei der Analyse ihrer Vermittlung zu kurz. Während es sich bei den staatlich gelenkten Angeboten der Volksrepublik um ein überschaubares Kontingent im Sinne des staatlichen Geschichtsbildes handelt, etabliert sich nach 1989/91 ein freier Markt für ein ausdifferenziertes Angebot an allgemeinen und thematisch spezialisierten Stadtführern von einer Vielzahl polnischer und ausländischer Verlage. Auch die Fülle und Schnelligkeit der digitalen Angebote verweigert sich einer systematischen Erschließung und Klassifizierung. An dieser Stelle zeigt sich die zentrale Schwachstelle der Untersuchung: Einerseits führt die fundierte Erschließung und detaillierte Analyse der Print-Stadtführer aus der Zeit der Volksrepublik sehr treffend die mediale Implementierung und den Wandel des offiziellen Geschichtsbildes bis 1989 vor Augen. Andererseits kann der Untersuchungszeitraum 1990-2009 aufgrund der selektiven Auswahl von drei gedruckten und drei internetbasierten Stadtführern kein gesichertes Ergebnis liefern. Die Ausdifferenzierung und Demokratisierung der Breslauer Erinnerungskultur nach 1989/91, ausgehend von den zivilgesellschaftlichen Initiativen der Oppositionsbewegungen in den 1980er-Jahren, bedürfte einer wesentlich breiteren Erschließung und Analyse der Repräsentationen verschiedener Geschichtsbilder im medialen Angebot.

Als Ergebnis arbeitet Kuroczyński eine vierstufige Entwicklung der medialen Konstruktion einer städtischen Gedächtnislandschaft heraus. Den Zeitraum von 1945 bis 1960 bezeichnet er als „Phase der ‚fundamentalen Aneignung‘“ (S. 258), in der die Herausstellung der piastischen Wurzeln durch Vereinnahmung und selektive Rekonstruktion des Stadtraums vorherrschten. Hier wird eindrucksvoll gezeigt, wie im Zuge der propagandistischen Geschichtssimplifizierung Breslaus reiche Architekturfülle nach ideologischen Kriterien klassifiziert wurde. Dabei ließen sich die Herausstellung gotischer Bauwerke als piastische-urpolnische Kulturzeugnisse und die Präsentation der sozialistischen Moderne nur schwer mit dem realen Stadtbild in Übereinstimmung bringen. Diesen medial herbeigeführten Spagat, „wortreich durch die Stadt zu führen und ihr polnisches Leben auszubreiten“ unter Verdrängung der dominanten Architektur der Gründerjahre und der deutschen Moderne, hat Gregor Thum als die „Kunst des unauffälligen Verschweigens“ und einen „Hindernislauf durch die Stadtgeschichte“ bezeichnet.5 Kuroczyński zeigt, dass diese Kunst in verschiedenen Abstufungen und Wandlungen bis zur politischen Wende und teils einige Jahre darüber hinaus in den Stadtführern beibehalten wurde. Unter Fortführung des polozentrischen Geschichtsbildes der Volksrepublik kommt in der „Phase der ‚modernen Aneignung‘“ (S. 262) (1960 bis 1990) die Präsentation der Aufbauleistungen in Form moderner Plattenbausiedlungen hinzu. Nach der politischen Wende (1990-2010) wird der Fortschrittsglaube der sozialistischen Architektur fallen gelassen und durch die Skizzierung einer nostalgischen „Stadtlandschaft der ‚bürgerlichen Aneignung‘“ (S. 304) unter Berücksichtigung der modernistischen Architektur der Vorkriegszeit ersetzt. Die vierte „Phase der ‚multiplen Aneignung‘“ (S. 272) lässt Kuroczyński im Jahr 2000 beginnen. Sie ist einerseits durch eine Pluralisierung der Gedächtnislandschaft und andererseits durch Elemente einer Fiktionalisierung der Stadt in erlebnisorientierten „thematischen Besichtigungsrouten“ gekennzeichnet (S. 304f.).

Im dritten Kapitel werden die Untersuchungsergebnisse in einem Resümee hinsichtlich der Bedeutung von Architektur bei der Raumaneignung und den Folgen des medientechnologischen Wandels diskutiert. Abschließend wird ein Vergleich zwischen den spezifischen Eigenschaften von Printmedien und Internetportalen gezogen und im vierten Kapitel ein Ausblick auf die medientechnologischen Tendenzen der Stadtvermittlung geboten.

Die zum Titel erhobene programmatische Formel von der „Medialisierung der Stadt“ wirkt angesichts der Beschränkung auf eine Analyse von Stadtführern ein wenig deplatziert. Schließlich handelt sich hier um die Untersuchung einer begrenzt diskursiven Mediengattung und zudem – jedenfalls bis 1989 – um den Kontext eines politisch-instrumentellen Mediensystems. Dagegen ließe sich der Terminus für die Prozesse der erinnerungskulturellen Demokratisierung sowie der quantitativen und qualitativen medialen Ausdifferenzierung nach 1989/91 durchaus gewinnbringend verwenden. Dafür bedürfte es jedoch der Berücksichtigung weiterer Mediengattungen wie zum Beispiel der stärker diskursiv geprägten Zeitschriften und Zeitungen.

Kuroczyńskis interdisziplinäre Untersuchung öffnet einen neuen Blick auf die Rolle der Medien bei der erinnerungskulturellen Instrumentalisierung von Architektur. Mit seiner strukturierten Analyse am Beispiel der Stadtführer führt er eindrucksvoll die mentale und materielle Aneignung des Breslauer Stadtraums nach 1945 vor Augen. Empirisch fundiert wird die mediale Konstruktion des Stadtbildes im Wandel des offiziellen Geschichtsbildes der Volksrepublik Polen herausgearbeitet. Für die von erinnerungskultureller Pluralisierung und medialer Differenzierung geprägte Zeit nach 1989 fehlt der Studie allerdings das notwendige Untersuchungsfundament. Gleichwohl können zukünftige Untersuchungen hier ansetzen, denn die theoretische Grundlage zur Erschließung dieser pluralen, insbesondere digitalen Stadtvermittlungsangebote hat Kuroczyński bereits entwickelt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Krzysztof Ruchniewicz, Warum Wrocław nicht Breslau ist. Überlegungen zur Nachkriegsgeschichte der Niederschlesischen Hauptstadt, in: Ders., Zögernde Annäherung. Studien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert (= Walter Schmitz / Ludger Udolph (Hrsg.), Mitteleuropa-Studien, Band 7), Dresden 2005, S. 225-240, hier S. 232; vgl. die Rezension von Stefan Troebst, in: H-Soz-u-Kult, 08.09.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-146> (03.01.2012).
2 Vgl. Teresa Kulak, Wrocław in der Geschichte und in der Erinnerung der Polen, in: Martin Weber u. a. (Hrsg.), Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Band 42 / Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Band 1), München 2011, S. 159-176, hier S. 168ff.
3 Vgl. Jacek Grębowiec, Der Umbau der Breslauer Ikonosphäre nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund der Ausbildung einer neuen regionalen Identität, in: Peter Oliver Loew / Christian Pletzing / Thomas Serrier (Hrsg.), Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas, Wiesbaden 2006, S. 36-46, besonders S. 37, S. 46; vgl. die Rezension von Felix Ackermann, in: H-Soz-u-Kult, 27.11.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-161> (03.01.2012); Philipp Ther / Tomasz Królik / Lutz Henke (Hrsg.), Das polnische Breslau als europäische Metropole. Erinnerung und Geschichtspolitik aus dem Blickwinkel der Oral History / Polski Wrocław jako metropolia europejska. Pamięć i polityka historyczna z punktu widzenia oral history, Wrocław 2005, besonders S. 42ff.
4 Gregor Thum, Die fremde Stadt. Breslau 1945, Berlin 2003 (auf Polnisch: Obce Miasto. Wrocław 1945 i potem, Wrocław 2006; auf Englisch: Uprooted. How Breslau Became Wrocław during the Century of Expulsions, Princeton 2011); vgl. die Rezension von Thomas Fichtner, in: H-Soz-u-Kult, 01.07.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6707> (03.01.2011).
5 Thum, Die Fremde Stadt, S. 421.

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