P. O. Loew u.a. (Hrsg.): Wiedergewonnene Geschichte

Titel
Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas


Herausgeber
Loew, Peter Oliver; Pletzing, Christian; Serrier, Thomas
Erschienen
Wiesbaden 2006: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Ackermann, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder

„Wiedergewonnene Geschichte“ lautet der Titel eines Tagungsbandes, der die symbolische Aneignung von Geschichte in den Überlagerungszonen des mittleren Europas exemplarisch anhand von Städten, Landschaften und anderen Erinnerungsorten in den deutsch-polnischen und deutsch-französischen Grenzgebieten behandelt. Natürlich lässt sich Geschichte nicht in einem einfachen Sinne „wiedergewinnen“. Die damit verbundenen Schwierigkeiten werden besonders deutlich im Versuch des polnischen Nachkriegsstaats, die Ostgebiete des Deutschen Reiches als „wiedergewonnene Gebiete“ zu inkorporieren, woraus sich der Bandtitel erklärt. Jene Erzählung von Schlesien, der Neumark, Pommern und Ostpreußen als Urbestandteilen polnischer Staatlichkeit musste nach 1945 noch mit Meißel und Brechstange durchgesetzt werden – zu präsent waren die Spuren der zuvor in einem deutschen Kontext kodierten kulturellen Schichten. Gerade dieser für den Band zentrale Aneignungsprozess der polnischen Westgebiete zeigt, dass die „Wiedergewinnung“ eine Neuerfindung bedeutet, die zugleich bemüht ist, Kontinuität herzustellen, indem sie auf vermeintliche Traditionen zurückgreift und diese in Gedächtnisfiguren umwandelt. Deshalb lohnt es – wie die Autoren des Werkes – einen genaueren Blick zu werfen auf die Mechanismen der Anknüpfung, des Überschreibens, der Inklusion und Exklusion historischer Bezugspunkte im Spannungsfeld zwischen Nation und Region, zwischen Zentrum und Peripherie.

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer im Oktober 2004 von der Academia Baltica (Lübeck) gemeinsam mit dem Deutschen Polen Institut (Darmstadt) und dem Centre interdisciplinaire de recherches centre-européennes (Paris), abgehaltenen Konferenz zur Spezifik solcher Aneignungsprozesse. Er geht vom Paradigma einer Geschichte Europas als Mosaik aus, dessen Eigenheit gerade in seiner Kleinteiligkeit und Vielfalt besteht. Die Geschichte der europäischen Peripherien, die stärker als die nationalen Zentren vom Vielklang, der Überlagerung sowie vom Nebeneinander und mit dem Siegeszug des Nationalstaates im 19. und 20. Jahrhunderts auch vom Widerstreit der Kulturen geprägt war, soll damit als regional konzipierte Beziehungsgeschichte gegen eine additive Erzählung von Europa als Gemeinschaft der Nationen bestehen.

Doch auch die Betrachtung der Ränder jenes zentralen Teils von Europa, der im Band als Mitteleuropa bezeichnet wird, ist weitgehend von der Logik des Zentrums geprägt. So konzentriert sich der Blick zunächst auf Städte als Orte staatlicher Repräsentation. In einem zweiten Teil werden periphere Kulturlandschaften auf ihre geschichtspolitische Symbolkraft für die jeweiligen Zentren untersucht. Und in einem dritten Teil werden anhand von Ortsnamen, Denkmälern und Landschaften unterschiedliche Erinnerungsstrategien behandelt, deren Akteure zwar oft im regionalen Kontext agieren, aber dennoch in der Interaktion zwischen staatlichen, regionalen und lokalen Institutionen zumeist eine Mittlerrolle von oben nach unten bzw. vom Zentrum hin zur Peripherie einnehmen.

Der Vorteil des angewandten für verschiedene Disziplinen offenen Vorgehens liegt auf der Hand: durch die Einbindung von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, Historikern und Anthropologen breitet der Band eine große Vielfalt an Aspekten, Dimensionen und Implikationen des Themas aus. Daraus resultiert die Frage, ob dieses Material es ermöglicht, Aussagen über das Spezifische und Allgemeine der Aneignungsmechanismen europäischer Geschichten zu treffen. Was sagt der einzelne Stein über Form und Herstellung des Mosaiks aus? Eignen sich bestimmte Methoden besonders, um eine innereuropäische Vergleichsebene herzustellen? Und schließlich: Schafft der beziehungsgeschichtliche Ansatz einer multiperspektivischen Dekonstruktion von Geschichts- sowie Erinnerungsnarrativen einen Mehrwert, der über die Rekonstruktion der jeweiligen Prozesse hinaus geht?

Dem Band geht zum Geleit ein Gedicht des Stettiner Schriftstellers Artur Daniel Liskowacki voraus. In „Kalt – Warm“ beschreibt er anhand der Erinnerung an die Armaturen seines Kindheitshauses, dass das Fremde nicht allein als etwas Abstraktes, sondern gerade an das Gegenständliche geknüpft präsent ist. Seine Zeilen an den Anfang des Bandes zu stellen, ist konsequent, denn gerade in Polen ist die genaue Beschreibung jener Prozesse der Aneignung bereits in den 1990er-Jahren in der belletristischen Literatur geleistet worden. Dabei sind die so entstandenen Werke selbst Ausdruck des Willens der Inkorporation deutscher Geschichte in die polnische Gegenwart.

So wie Liskowackis Gedicht, dominiert den gesamten Band das Konkrete. In Christiane Kohser-Spohns Beitrag werden die Kriegsdenkmäler in ihrer Gestalt genau beschrieben. Jan Musekamp erarbeitet anhand des Umgangs mit dem Stettiner Königsplatz die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion. Die Neugestaltung des Platzes sowie der Entscheid, das von Carl Friedrich Langhans errichtete Stadttheater abzureißen, war nicht allein in Kategorien von Region, Staat und Nation zu verstehen. Auch pragmatische Argumente eines Modernisierungsdiskurses trugen zum Abriss des Gebäudes bei, das bis heute nicht durch einen damals anvisierten Neubau ersetzt wurde. Jörg Hackmann stößt bei einem ähnlichen Unterfangen am Rigaer Rathausplatz auf die Präsenz sowjetischer Hinterlassenschaften, die zwar den vorherigen historischen Zusammenhang des Platzes weitgehend zerstört haben, aber heute selbst schon Historizität verkörpern. Dabei wird deutlich, dass auch eine historische Rekonstruktion, wie sie heute in der lettischen Hauptstadt mit Verweis auf nationale Traditionen vorgenommen wird, eine neue kulturelle Schicht schafft, die mit der alten, außer der Fassade, wenig gemein hat.

Christian Pletzing und Stefan Dyroff zeigen anhand der Ortsnamen der preußischen Ostprovinzen Etappen fortschreitender Nationalisierung dieser konkreten Symbole. Dabei wird deutlich, dass nicht nur politische, sondern gerade auch wirtschaftliche Interessen mit der Überschreibung der Namenslandschaft verfolgt wurden. Zwar war die Umbenennungspolitik gesetzlich geregelt, aber auch innerhalb der preußischen Gesellschaft war diese nicht unumstritten. So regten gerade für das regionale Ohr ungeschickte Eindeutschungen slawischer und baltischer Toponyme den Protest der sich bereits in einem nationalen Sinne als Deutsche definierenden Bewohner. Beide Autoren zeigen, dass eine historische Argumentation für die Umbenennung nicht immer ausschlaggebend war und dass der Vorgang des administrativen Löschens eines Namens oft zu seiner Stärkung führte.

Im Gegensatz zu dieser Einschränkung der Wirksamkeit von Aneignungsversuchen zeigt Dorota Bazun, warum in den polnischen Westgebieten gerade Alltagsgegenstände die Möglichkeit boten, sich mit der Vergangenheit der Region zu identifizieren. Obwohl sie diesen Prozess fälschlicher Weise als Assimilation beschreibt, macht sie mit Termini wie Liminalität Begriffe aus der Migrationsforschung für das Verständnis des Ansiedlungsgeschehens nach der Vertreibung der Deutschen fruchtbar. Dabei sei am Anfang ein Gefühl der Fremdheit gerade im Umgang mit Gegenständen dominant, das einer pragmatischen Anerkennung der Funktionalität wich, um am Ende Geschirr, Werkzeuge und Leinentücher unabhängig von der deutschen Herkunft als Teil der eigenen Welt zu verstehen. Während Bazun jene Funktionalität der Gegenstände in den Vordergrund stellt, argumentiert Tomasz Rakowski in seinem Beitrag über Armenschächte in Oberschlesien, dass die bei der Abwicklung der eigenen Bergbaugeschichte als Nebenprodukt der eigenen Armutsbekämpfung gewonnenen Gegenstände eher willkürlich und aufgrund der Situation einer sozialen Entwurzelung an Bedeutung als Rohstoff für eine neue Geschichte der Region gewonnen haben. Da die oberschlesischen Bergbaureviere von Waldenburg seit 1945 ihrer historischen Form kaum entrückt worden seien, habe erst mit deren Schließung und dem „Verlust der Moderne“ Geschichte einen neuen Stellenwert erhalten: Historisches Wissen und Kartenmaterial sei für die Erschließung der unterirdischen Bergbaustruktur zwecks illegaler Gewinnung von Kohle von konkretem Nutzen. Die dabei an die Oberfläche gelangenden Gegenstände, wie z.B. alte Steine zur Markierung von Schürfrechten, haben dabei eher den Charakter von Trophäen archäologischer Grabungen, die ohne jedes historisches Erkenntnisinteresse getätigt werden. Zusammen mit der unterirdischen Landschaft von Stollen und Tunneln werden diese in den Zerstörungsprozess der eigenen Umwelt inbegriffen und erlangen ihre Bedeutung für die informellen Arbeiter nur in Zusammenhang mit diesem.

Diese Prozesshaftigkeit von Geschichtskulturen wird in anderen Beiträgen besonders deutlich herausgestellt. Peter Oliver Loew zeigt anhand der Entwicklung des Geschichts- bzw. Heimatkundeunterrichts an Danziger Schulen, dass nicht nur regionale und nationale Bezüge Konstrukte sind, denen im Zuge der Modernisierung eine besondere Bedeutung bei der kollektiven Identitätsbildung zukommt, sondern auch das Lokale als gemeinsame Kategorie Produkt einer von oben gesteuerten Entwicklung ist. Marek Rajch hingegen beschreibt in seinem Beitrag über die preußische Zensur polnischer Literatur in der Provinz Posen die Grenzen solcher Versuche, eine äußerliche Machtposition für die Durchsetzung eines bestimmten Narrativs zu nutzen. So erklärt er den Übergang von präventiven zu repressiven Maßnahmen als Folge argumentativer Schwäche seitens der preußischen Verwaltung und wirft die Frage nach der Effizienz bzw. der Schwäche der Administration auf. Im Gegensatz dazu betont Joanna Wawrzyniak in ihrer Arbeit über Militärsiedler in den polnischen Westgebieten die Relevanz staatlicher Geschichtspropaganda für die Integration der Gebiete in die Volksrepublik Polen. Es habe sich dabei trotz aller Widersprüche um eine erfolgreiche Strategie gehandelt, die den Militärsiedlern erlaubte, Teil der in der Form sozialistischen, aber im Inhalt national bestimmten „gedachten polnischen Nachkriegsgesellschaft“ zu werden, was zur Stabilisierung des kommunistischen Staates beitrug. In allen drei Texten fällt das Problem der Quellen auf, die für eine historische Argumentation für „Erfolg“ und „Misserfolg“ staatlicher Strategien nur sehr bruchstückhaft zur Verfügung stehen. Dies ist ein Punkt, an dem die Grenzen einer historisierenden Sicht auf Aneignungsprozesse genauer benannt bzw. weiter thematisiert werden sollten. Entscheidend sind hier die Kriterien und Modelle aber auch Quellen, anhand derer Inklusion und Exklusion auf den verschiedenen Ebenen so festgestellt werden können, dass ein Vergleich bzw. ein Zusammenfügen der Ergebnisse zu dem angestrebten „Patchwork Europa“ überhaupt sinnvoll wird.

Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes bilden Kulturlandschaften, die erst durch eine spezifische Konstellation von konkreten Orten, Bauten und Natur sowie deren Interpretation entstehen. Ihre Bedeutung für das regionale Gedächtnis wird anhand von Städten wie Breslau, Danzig und Königsberg, aber auch am Beispiel „herausragender Orte“ wie St. Annaberg in Oberschlesien oder die Burgruinen in den Vogesen aufgezeigt. Auffällig ist hier, dass der Standort des Betrachters deutliche Folgen für den Fokus der Beiträge hat. Während Alexander Sologubov als einer der Autoren Kaliningrader Rekurse auf das Erbe von Königsberg so mit seinem Gegenstand verwoben ist, dass er allein eine Leselandschaft von diskursiven Versatzstücken dieser vermeintlichen Rückgriffe präsentiert, betrachtet Thomas Serrier Posen unter preußischer Herrschaft mit einiger Distanz und schafft so die Grundlage, um es mit Straßburg zu vergleichen. Dieser Versuch, das Thema des Bandes vergleichend zu bearbeiten, setzt insofern Maßstäbe, als dass er ermöglicht, das Konkrete mit dem Allgemeinen und die Regionen mit der nationalen und europäischen Perspektive zu verbinden. Die Anzahl empirisch sinnvoller Vergleiche aber scheint durch die Überlagerungssituation der jeweiligen Länder begrenzt: Während Serrier Großpolen und das Elsass vergleicht, betrachtet Ryszard Kaczmarek das Elsass im Vergleich zu Oberschlesien. Serrier zeigt, warum es in Straßburg gelang, aus der Situierung in der Grenzzone zweier Nationalstaaten geschichtspolitisches Kapital zu schlagen, während in Posen allein nationale Deutungsmuster die Oberhand gewannen. Kaczmarek behandelt die Entstehung der jeweils spezifischen Formen von ethnischem Regionalismus und ihrer Evolution hin zu politischen Konzepten, die auf Autonomie abzielten, sowie die Gründe für deren Scheitern.

Die Methodenvielfalt des Bandes sorgt für Abwechslung, aber auch für die Schwierigkeit, die einzelnen Aspekte des Themas in direkten Bezug zueinander zu stellen. Maciej Górny präsentiert das Huzulenland aus historischer Perspektive als Projektionsfläche orientalisierender Wahrnehmungsmuster in Polen und der Tschechoslowakei. Arnim von Ungern-Sternberg kritisiert aus literaturgeschichtlicher Sicht für das Baltikum den Widerstreit zwischen rhetorischen Figuren wie „Barone“ und „Bauern“. Und Katarzyna Stoklosa zeigt anhand eines Vergleichs der Gegenwart der deutsch-polnischen und des ukrainisch-slowakischen Grenzgebiete(s) die Relevanz historischer Bedingtheit für die Qualität der Grenze auf. Der daraus resultierende Unterschied zwischen gewachsenen Übergangsgebieten, in denen Grenzen nicht allein teilen, sondern eher variable, aber gemeinsame Bezugslinien darstellen, und Regionen, in denen Grenzen infolge von Vertreibung und Neuansiedlung einen umfassenden Schnitt bedeuten, ist für die Erschließung des Themas von zentraler Bedeutung, wird aber von anderen Autoren nicht aufgegriffen.

Der sorgfältig lektorierte und übersetzte Sammelband bietet ein weites Spektrum an Narrativen von der symbolischen Aneignung historischer Kulturlandschaften, die insbesondere im Zuge der Nationalisierung in den Fokus rivalisierender Meistererzählungen geraten sind. Besonders aufschlussreich sind hier jene Regionen, in denen wie im Elsass oder in Schlesien ein eigenes regionales Selbstverständnis bereits stark genug war, um sich zumindest teilweise gegen nationale Vereinahmungen zu behaupten. Entscheidend ist aber, dass diese Strategien zur politischen Mobilisierung von Identität nicht unabhängig voneinander existierten, sondern gerade durch die bestehende Konkurrenz aufeinander Bezug nahmen und sich so oft ineinander verschränkten. Der Band zeigt in der dominanten Periodisierung der einzelnen Artikel, deren Eckpunkte das Ende der Weltkriege und des Kalten Krieges ausmachten, dass die Vorstellung von linear vollzogenen Nationalisierungsprozessen gerade für das 20. Jahrhundert falsch ist. Stattdessen waren es insbesondere die Zäsuren kriegerischer Gewalt am Ende der Weltkriege sowie des Kalten Krieges, die den Rahmen für erneute „Wiedergewinnungsversuche“ von Geschichte im nationalen Sinne schufen.

Ein stärkerer Vergleichsrahmen würde hier noch mehr Erkenntnisgewinn versprechen. Gerade das gemeinsame Instrumentarium in der Betrachtung unterschiedlicher Phänomene würde die Grauzonen symbolischer Repräsentation erhellen. Auch das genaue Funktionieren und die Mechanismen von Inklusion und Exklusion historischer Bezugspunkte ließen sich mit einem noch schärferen methodischen Fokus weiter gewinnbringend untersuchen. Dabei bleibt vor allem die Frage nach Quellen und Modellen, die es ermöglichen, die Wirkung von ideologischen Strategien bei der jeweiligen Zielgruppe genau zu untersuchen und zu erklären. Bislang stützen sich die übergreifenden Thesen wegen der Methodenvielfalt und Quellenlage oft allein auf Indizien, was zur Folge hat, dass die De- bzw. Rekonstruktion nationaler Konstruktionen anhand von regionalen und lokalen Zusammenhängen vor allem im Lichte des Konzeptes eines Europas der Ränder, der Vielfalt und der Regionen zu verstehen ist. In diesem Sinne, erlangt der Begriff der "wiedergewonnenen Geschichte" an neuer Bedeutung, denn das Verfertigen der vielstimmigen Erzählung von den Rändern des vermeintlichen Kontinents, versucht die Geschichte Europas „wiederzugewinnen“.

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