J. R. Snyder: Dissimulation and the Culture of Secrecy in Europe

Cover
Titel
Dissimulation and the Culture of Secrecy in Early Modern Europe.


Autor(en)
Snyder, Jon R.
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 35,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Gordian, Warburg Institute London

Qui nescit dissimulare, nescit regnare – wer sich nicht zu verstellen vermag, weiß nicht zu regieren – war eine weitverbreitete Maxime der politischen Theorie der Frühen Neuzeit. In abgewandelter Form des Qui nescit dissimulare, nescit vivere – wer sich nicht zu verstellen vermag, weiß nicht zu leben – ist sie in die Lebensklugheitslehren jener Epoche eingegangen. Genau um dieses moralphilosophisch kontroverse Postulat und die zahlreichen, damit zusammenhängenden Debatten dreht sich Jon R. Snyders neues Buch.

Zeitgenössische Diskussionen um Lügen, Verstellung, Verhüllung und Verschleierung oszillieren wiederholt in der Problematisierung der Konzepte von simulatio und dissimulatio. Während erstere eine res absens darstellt, also eine Sache, die nicht existiert und nur vorgetäuscht wird, letztere eine Strategie der Verhüllung, in welcher die res praesens, da heißt eine tatsächlich vorhandene Sache verschleiert, bzw. verschwiegen wird. Der Lüge nahestehend, war simulatio moralisch nur sehr schwer legitimierbar; die Kunst der dissimulatio hingegen barg durchaus apologetisches Potenzial und fand entsprechend zahlreiche Fürsprecher.

In den letzten Jahren genoss dieses Themenfeld – vor allem in akademischen Kreisen hierzulande – zunehmende wissenschaftliche Aufmerksamkeit und fand vielschichtigen Ausdruck in Beiträgen zum Beispiel von August Buck, Manfred Hinz, Ursula Geitner oder Ulrich Schulz-Buschhaus – um nur einige zu nennen – oder auch in einer im Frühjahr 2010 abgehaltenen Konferenz.1 Im englischsprachigen Raum dagegen wurde diesem Thema bis vor kurzem kaum mehr als marginale Beachtung geschenkt. Dem setzt nun Snyders Studie erfreulicherweise ein Ende.

Auf dem Pionierwerk von Jean-Pierre Cavaillé aufbauend2 zeichnet Snyder den komplexen und verwobenen Diskurs um Strategien individueller Verstellung und Verhüllung für den Zeitraum zwischen ca. 1500 und 1700 nach. Im Unterschied zu Cavaille jedoch, welcher den Neologismus „dis/simulation“ einführte und damit eine stringente philosophische Trennung beider Konzepte in Frage stellte, versucht Snyder nachzuweisen, dass die Zeitgenossen klar zwischen Praktiken der Verstellung und der Kunst der Verhüllung unterschieden haben.

Dabei vermeidet Snyder Spekulationen und stellt den Diskurs um simulatio und dissimulatio und nicht die damit zusammenhängende, aber nur in historischer Retrospektive und auf mangelnder Quellenbasis nachvollziehbare Praxis in den Fokus seiner Betrachtung: „The present book is concerned specifically with the emergence of a discourse on dissimulation among the dominant social groups of the Old Regime.“ (S. XIV) Denn schon Torquato Accetto hatte angemerkt, dass sich schwer nachweisen lasse, wer sich – im Falle einer gekonnten und erfolgreichen Ausübung der Strategie – im Einzelnen in der Kunst der Verstellung und Verhüllung übe.

Die kulturellen und politischen Eliten des Ancien Régime stehen im Fokus der Studie, welche in fünf Hauptabschnitte gegliedert ist. Dem ersten, ein kaleidoskopisches Themenspektrum eröffnenden Hauptabschnitt folgen die Themenfelder „Civil and moral dissimulation“ (S. 27-67), „Dissimulation at court“ (S. 68-105), „Dissimulation and Reason of State“ (S. 106-158) und schließlich das letzte Kapitel „The writing on the walls“ (S. 159-178). Das erste Kapitel bespricht unter anderem ein interessantes, heute leider weitgehend zerstörtes Manuskript von Alessandro Anguissola. In einem Kapitel dieses, mit „Del buon governo del principe“ betitelten Traktates aus dem Jahre 1612 ist in der Überschrift bezeichnenderweise das Wort simulatio vom Autor durchgestrichen und mit seinem Gegenpart dissimulatio ersetzt worden.

Im zweiten Abschnitt werden Betrachtungen wohlbekannter Autoren, etwa von Stefano Guazzo, Giovanni della Casa, Girolamo Cardano, Giovanni Pontano oder Francis Bacon, aber auch weniger beachteter Figuren, wie zum Beispiel Pietro Andrea Canonieri oder Pino da Cagli untersucht. Abgerundet wird dieser Abschnitt mit einer feingliedrigen Analyse von Torquato Accettos Apologie der ehrlichen Verhüllung, seiner „Della dissimulazione onesta“ (1641).

Das darauffolgende Kapitel bietet eine elegante Synthese aus Betrachtungen berühmter Werke, wie etwa Baldassar Castigliones „Il Libro del cortegiano“ (1528) und späteren, weniger bekannten Traktaten von Lucio Paolo Rosello oder Lorenzo Ducci zur Verstellung und Verhüllung am Hofe. Die Besprechung der lakonischen Lebensklugheiten Baltasar Graciáns ist anregend; sich nur auf dessen Oráculo manual (1647) beschränkend, blendet Snyder aber leider andere Werke jenes großen barocken Denkers aus.

Die Ausführungen zur frühneuzeitlichen politischen Theorie setzen sich vor allem aus der Betrachtung bereits ausführlich untersuchter Figuren wie Niccolò Machiavelli, Francesco Guicciardini, Giovanni Botero, Justus Lipsius oder Scipione Ammirato zusammen. In der insgesamt guten Übersicht zu der „shadowy statecraft“ (S. 132) und den Strategien der Arcana imperii hätten mehr Quellen herangezogen werden können. So bespricht Snyder – um ein Beispiel zu nennen – zwar Saavedra Fajardos berühmte „Idea de un Príncipe politico cristiano“ (1640), Juan de Solorzanos „Emblemas regio-politicos“ (1653) ist aber ausgelassen.

Das ikonographische Programm der „Saletta del Silenzio“ (1706) im Palazzo Salmatoris in Cherasco steht im Mittelpunkt des letzten Kapitels. Als Beispiel für die Verbreitung der vielfältigen Konzepte zur lebensklugen Verhüllung und Verschwiegenheit auch in politisch und kulturell peripheren Regionen einleuchtend, lässt dieser Abschnitt die analytische Tiefe der vorherigen Abschnitte stellenweise vermissen. So wäre ein genauerer Bezug auf die vorangehende ikonographische Tradition, vor allem auf die der emblematischen Literatur, aus welcher sich die Bildsprache der Fresken der Räumlichkeiten speist, wünschenswert gewesen.

Snyders Fokus auf italienische Quellen, welche zweifellos einen überaus reichhaltigen Materialfundus bieten, ist verständlich. Dennoch könnte man fragen, ob nicht etwa auch zeitgenössische Texte aus dem deutschsprachigen Raum etwas mehr Beachtung verdient hätten. Eine solche Verschiebung der Quellenauswahl würde nicht nur das Gesamtbild bereichern, sondern könnte auch möglicherweise ein etwas anderes Gesamtbild der paneuropäischen Debatten und der intellektuellen Verflechtungen der respublica literaria liefern. Die Vernachlässigung deutscher Quellen zeigt sich auch etwa darin, dass zwar Carl Ittigs „De simulatione et dissimulatione“ (1709) erwähnt wird, jedoch nicht die kurze Zeit später erschienen Traktate von Johann Gottlieb Bohn.3

Bedauerlich – doch die Gesamtdarstellung nicht verzerrend – ist, dass die einschlägige kasuistische Literatur der für ihre Praktiken von dissimulatio und equivocatio berüchtigten Jesuiten ausgeblendet wird. Snyder betont zwar, dass er den komplexen Bereich religiöser Dissimulation bzw. des Nikodemismus bewusst weglässt und sich auf den säkularen Diskurs konzentriert, doch könnte man dem entgegenhalten, dass der Orden Jesu durch seine Hofprediger, Fürstenerzieher und Beichtväter Einfluss auf das gesamte höfische Umfeld ausübte.

Es hätten sich, um es kurz zu halten, neben einer Reihe von nicht behandelten Quellen auch andere soziale Gruppen und soziokulturelle Kontexte jenseits der höfischen Verhaltenslehren und der Theorie der Staatsraison zur Betrachtung angeboten. Es leuchtet aber zugleich ein, dass ein zu weitgefasstes kulturhistorisches Panorama potenziell Gefahr laufen würde, nicht über eine an der historischen Oberfläche kratzende Analyse hinauszureichen. Diese Feststellung soll daher keine Kritik an einem zu limitierten Blickwinkel des Autors sein, sondern verdeutlicht vielmehr die weite Verbreitung und Bedeutung dieses Themas in jener Epoche.

Snyders Studie bietet innerhalb der vom Autor klar und sinnvoll abgesteckten methodologischen und inhaltlichen Grenzen eine stichhaltige Analyse des heterogenen Quellenmaterials. Die sprachlich abwechslungsreiche und anregende Darstellung ist ebenfalls hervorzuheben. Entsprechend wird dem Leser ein spannender, in seiner Vielfalt aber noch weiter zu erforschender Aspekt der Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit nahegebracht.

Eine letzte Bemerkung noch: Obwohl, wie Snyder in seinen abschließenden Bemerkungen festhält, mit dem Zerfall des Ancien Régime für lange Zeit eine weitgehende diskursive Marginalisierung des Problems von „dis/simulation“ einher ging und Ideale der Transparenz zunehmend an Bedeutung gewannen, haben mit Verhüllung und Verstellung zusammenhängende Fragen in den darauffolgenden Epochen nicht an Relevanz und Brisanz verloren. Das zeigt sich etwa noch im 20. Jahrhundert an Texten, wie zum Beispiel Helmuth Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ (1929), sowie anderen Werken zeitgenössischer „Verhaltenslehren der Kälte“.4

Anmerkungen:
1 Kristina Steyer, Tagungsbericht Dis/simulatio und die Kunst der Maske, Maskerade, Verstellung und Täuschung im Barock. 03.03.2010-05.03.2010, Wolfenbüttel, in: H-Soz-u-Kult, 29.04.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3086> (17. April 2011).
2 Jean-Pierre Cavaillé, Dis/simulations. Jules-César Vanini, François La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto. Religion, morale et politique au XVIIe siècle, Paris 2002.
3 Disputatio moralis, de eo an liceat simulare et dissimulare? (1714) und Simulatio religionis ipso iure naturae illicita (1719).
4 Helmuth Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994.

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