F. Boll u.a. (Hrsg.): Versöhnung und Politik

Cover
Titel
Versöhnung und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er-Jahre und die Entspannungspolitik


Herausgeber
Boll, Friedrich; Wysocki, Wieslaw; Ziemer, Klaus
Reihe
Beihefte zum Archiv für Sozialgeschichte 27
Erschienen
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Gerster, Department of History and Civilization, European University Institute, Florence

1965 kann als ein Wendejahr in den Beziehungen zwischen Deutschen und Polen gelten: Gleich zwei kirchliche Initiativen setzten sich mit der gemeinsamen Geschichte beider Völker auseinander und plädierten für deren Aussöhnung – die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Brief der katholischen Bischöfe Polens mit seiner berühmten Schlussformel „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. 2005 nahmen die Friedrich-Ebert-Stiftung und das Deutsche Historische Institut in Warschau zusammen mit der Katholischen und der Evangelischen Akademie zu Berlin sowie der Kardinal-Wyszyński-Universität in Warschau den 40. Jahrestag dieser Initiativen zum Anlass, um in einer Konferenzreihe an die Ereignisse zu erinnern und deren historische Bedeutung auszuloten.1 Dazu wurden nicht nur deutsche und polnische Historiker geladen, sondern auch eine Vielzahl an Zeitzeugen aus über 40 Jahren deutsch-polnischer Zusammenarbeit. Fast vier Jahre nach den Veranstaltungen von 2005 ist nun ein Sammelband erschienen, in dem die wichtigsten Konferenzbeiträge zusammengefasst sind. Dieser nähert sich dem Thema der deutsch-polnischen Aussöhnung in vier sich weitenden Kreisen: Zuerst werden die Versöhnungsinitiativen des Jahres 1965, deren Entstehungskontexte und Inhalte in den Blick genommen; zweitens wird deren unmittelbare Wirkungsgeschichte untersucht. Die Initiativen werden daraufhin in einem dritten Themenkomplex in weitere gesellschaftliche und politische Kontexte und Folgen eingeordnet, um das Ganze schließlich mit essayistischen Gesamteinschätzungen der deutsch-polnischen Versöhnung bis zum heutigen Tag abzurunden.

Martin Greschat fasst eingangs die Aussöhnungsdebatte im deutschen Protestantismus zusammen. Sehr detailliert zeichnet er deren Wandel nach und attestiert der Ostdenkschrift der EKD vom Oktober 1965 eine Katalysatorfunktion in diesem Prozess. Der nur drei Monate später (zum Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils) veröffentlichten katholischen Versöhnungsbotschaft der polnischen Bischöfe widmen sich gleich drei Aufsätze der Eingangssequenz: Robert Żurek porträtiert zunächst den Breslauer Erzbischof Bolesław Kominek als Vater des polnischen Bischofsbriefs, bevor er in einem zweiten Aufsatz das polnische Schreiben und seine deutsche Antwort miteinander in Beziehung setzt. Andrzej Grajewski ergänzt dies durch eine fundierte Darstellung der Vatikanischen Ostpolitik. Die Beiträge belegen zweierlei: Zum einen waren beide Dokumente Ergebnisse gruppeninterner „Diskussions- und Klärungsprozesse“ (S. 11), die weitgehend ohne eine Rückkopplung an die jeweiligen Adressaten entstanden sind. Zum anderen unterstrichen sie die Entfremdung und die Probleme beider Gesellschaften. Diesem Manko nahm sich auf westdeutscher Seite erst das Memorandum des Bensberger Kreises von 1968 an, auf dessen Entstehungsgeschichte Friedhelm Boll in einem gelungenen Aufsatz eingeht. Mit seiner Untersuchung zum Bensberger Kreis und dessen Rolle in der katholischen Aussöhnungsdebatte schließt Boll zugleich ein wichtiges Desiderat deutscher Katholizismusforschung.

Auf die Wirkungsgeschichte der kirchlichen Versöhnungsinitiativen geht die zweite Themensequenz ein. Zentral ist dabei die verschärfte Auseinandersetzung zwischen Regime und Kirche in der Volksrepublik Polen, die der Versöhnungsinitiative der Bischöfe folgte. Vor diesem Hintergrund zeichnet Jerzy Eisler zunächst die diametral entgegengesetzten Visionen des Parteivorsitzenden Władysław Gomułka und des Primas Stefan Wyszyński nach: Während dem Bischof die Vision eines kirchlich-katholisch-abendländischen Polens vorschwebte, hielt Gomułka an der Idee einer kommunistischen Volksrepublik fest. Trotz dieser klaren ideologischen Konfrontation bleibe es wichtig, so Tadeusz Krawczak in seinem Beitrag, einen differenzierten Blick auf die Aktionen des Apparates wie auf die Reaktionen der Katholiken zu werfen. Ähnlich argumentiert Jan Żaryn, der das Verhalten der selbstständigen katholischen Laienorganisationen Polens beleuchtet. Piotr Madajczyk schließt die zweite Themensequenz ab, indem er die polnische Rezeption der deutschen Antworten auf das Versöhnungsschreiben untersucht. Er verdeutlicht noch einmal die polnische Enttäuschung über die ersten Reaktionen westdeutscher Katholiken, versucht jedoch zugleich, dies im Rahmen der verschiedenen historischen Kontexte verständlich zu machen.

Der weitere politische und gesellschaftliche Rahmen der kirchlichen Aktivitäten wird in den Beiträgen des dritten Themenblocks eingehender untersucht. Das zentrale Anliegen ist es hier, die Versöhnungsinitiativen in die longue durée der deutsch-polnischen Zusammenarbeit einzuordnen und sie mit den Aktivitäten anderer Akteure in Beziehung zu setzen. Thomas Großbölting liefert dazu, ergänzend zum Aufsatz von Friedhelm Boll, einen Einblick in den grundlegenden Wandel, den die bundesdeutschen Katholiken und die Vertriebenen in der Nachkriegszeit durchlaufen haben. Ähnliche Langzeitperspektiven ermöglichen Dieter Bingen in einem Überblick zu polnischen und deutschen Entspannungspolitiken sowie Burkhard Olschowsky für die bundesdeutsche Polenpolitik. Theo Mechtenberg ergänzt diese Beiträge durch einen zum Teil sehr persönlichen Bericht über die Rolle kirchlicher Gruppen in der DDR. Dagegen beschäftigt sich Matthias Stickler ausführlich mit der Haltung der westdeutschen Vertriebenenverbände, deren zwiespältigem Verhältnis zu den gesellschaftlichen Versöhnungsinitiativen und deren Beziehung zu den Unionsparteien. Hieran schließt eine Untersuchung von Oliver Bange und Tim Geiger an, die nach der Resonanz der kirchlichen Versöhnungstaten im politischen Handeln der westdeutschen Parteien fragen. Bange und Geiger gewähren dank einer reichen Quellenlage neue Einblicke in die vielseitigen Aktivitäten der beiden Volksparteien, was vor allem mit Blick auf die Ausrichtung konservativer Polenpolitik manch neue Erkenntnis bringt. Die Auseinandersetzung mit den sozialdemokratischen Politikansätzen wird durch einen Beitrag Bernd Rothers erweitert, der sich anhand von Willy Brandts Warschau-Besuch vom Dezember 1985 mit dem Verhältnis der westdeutschen Sozialdemokraten zur polnischen Opposition beschäftigt.

Die wissenschaftlichen Beiträge des Sammelbands werden am Ende durch fünf Essays ergänzt, in denen Zeitzeugen der deutsch-polnischen Aussöhnung – der Journalist Peter Bender, der Politikwissenschaftler Gottfried Erb, der Religionspädagoge Egon Spiegel, der Dolmetscher Winfried Lipscher sowie die Historikerin Anna Wolff-Powęska – ihre persönlichen Erfahrungen schildern und Ausblicke auf das Verhältnis von Deutschen und Polen skizzieren. Dass der Sammelband durch diese Essays graduell an wissenschaftlicher Ausrichtung verliert, mag der eine oder andere Leser als störend empfinden; es belegt aber zugleich, dass eine konsensuelle Historisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses auch im Jahr 2009 nicht möglich ist. Jeder wissenschaftliche Beitrag bleibt Teil der Auseinandersetzung um die gemeinsame Geschichte.

In dieser Aufgabe verorten sich auch die Konferenzreihe und der hier vorliegende Sammelband. Beide zielten darauf ab, ein breites Spektrum gesellschaftlicher und politischer Akteure zu Wort kommen zu lassen. Während dies im dritten Teil des Bands durchweg gelingt, erweisen sich die ersten beiden Themenbereiche als äußerst „katholikenlastig“. Dieses Manko ist vor allem dem starken Fokus dieser Teile auf die polnischen Aktivitäten geschuldet – es wird jedoch durch die ausführliche Einleitung aufgefangen, in der auch jene Aspekte des deutsch-polnischen Verhältnisses Beachtung finden, die nicht in einem eigenen Beitrag gewürdigt werden konnten. Auf diese Weise gelingt es dem Sammelband tatsächlich, den Leser im Hinblick auf „kirchliche und zivilgesellschaftliche Initiativen [...], die dadurch beeinflussten politisch-diplomatischen Kontakte und Verträge [und die] [...] Erinnerungs- und Geschichtspolitik“ (S. 10) auf den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Dinge zu bringen. Dagegen hätte man an mancher Stelle gern mehr über „Symbole und Emotionen“ (ebd.) und damit über das Proprium religiösen und kirchlichen Engagements in den deutsch-polnischen Beziehungen erfahren. Denn der inzwischen verstorbene Peter Bender stellt in seinem Essay zu Recht fest: „Die Denkschrift sowie der Brief der polnischen Bischöfe waren ein Einbruch christlichen Denkens in die Politik – Vergebung ist keine politische Kategorie.“ (S. 349)

Anmerkung:
1 Vgl. die Tagungsberichte von Thomas Roth: Tagungsbericht Kirchliche Versöhnungsinitiativen und deutsch-polnische Verständigung. 04.11.2005-05.11.2005, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 14.12.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=969> und Tagungsbericht Von der Versöhnung zur Zusammenarbeit. Zum 40. Jahrestag des Briefwechsels der polnischen und deutschen Bischöfe. 26.11.2005-27.11.2005, Warschau, in: H-Soz-u-Kult, 15.12.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=972>.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension