Von der Versöhnung zur Zusammenarbeit. Zum 40. Jahrestag des Briefwechsels der polnischen und deutschen Bischöfe

Von der Versöhnung zur Zusammenarbeit. Zum 40. Jahrestag des Briefwechsels der polnischen und deutschen Bischöfe

Organisatoren
Friedrich-Ebert-Stiftung, Deutsches Historisches Institut Warschau, Kardinal Wyszynski-Universität Warschau
Ort
Warschau
Land
Poland
Vom - Bis
26.11.2005 - 27.11.2005
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Von
Thomas Roth, Bonn

In der Fülle der Veranstaltungen und Publikationen, die im deutsch-polnischen Jahr das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben, kommt die Sprache immer wieder auf die 1965 erschienene Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „über die Lage Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ und den kurze Zeit später geführten Briefwechsel zwischen dem deutschen und polnischen katholischen Episkopat. Beide stehen für einen „Paradigmenwechsel“ in den deutsch-polnischen Beziehungen und den Beginn eines gesellschaftlichen Dialogs unter den Leitbegriffen der „Versöhnung“ und „Vergebung“, eines Dialogs, in dem die historischen Belastungen der NS-Verbrechen offen zur Sprache kamen, das Problem der Vertreibungen einer neuen Betrachtung zugeführt und die Feindbilder und Begriffe des „Kalten Krieges“ in Frage gestellt wurden. Die bedeutende Rolle der „kirchlichen Versöhnungsinitiativen“ im Verhältnis beider Länder zu untersuchen, zugleich aber den zweiten Wegbereiter der deutsch-polnischen „Aussöhnung“, die „neue Ostpolitik“ der Regierung Brandt, in den Blick zu nehmen und die Wechselwirkungen zwischen kirchlichem Engagement, staatlichem Handeln und zivilgesellschaftlichen Akteuren zu untersuchen, war Thema einer Anfang November in Berlin veranstalteten Konferenz von Friedrich-Ebert-Stiftung, Deutschem Historischen Institut Warschau und Evangelischer Akademie zu Berlin.1 Erklärtes Ziel der Tagung, der eine Diskussionsveranstaltung am 19. Oktober vorausging und am 26. und 27. November eine auf die polnische Öffentlichkeit zielende Warschauer Konferenz folgte, war es, die Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses nicht nur faktisch zu bilanzieren, sondern im Gespräch von engagierten Wissenschaftlern und Zeitzeugen auch unterschiedliche Bewertungen und Wahrnehmungen deutlich zu machen. Wie die angeregten, zum Teil kontrovers geführten Diskussionen zeigten, wurde dieses Vorhaben auch vollauf erreicht.

Den Auftakt der Berliner Tagung bildete ein Vortrag von Martin Greschat (Gießen-Münster), der mit der so genannten „Ostdenkschrift“ der EKD eine der bedeutendsten deutschen Wortmeldungen zum deutsch-polnischen Verhältnis in den Blick nahm. Er skizzierte nicht nur die Kernaussagen und gesellschaftlichen Nachwirkungen der Denkschrift, sondern lenkte den Blick auch auf einen wesentlichen Vorläufer und Impulsgeber: das 1962 veröffentliche Tübinger Memorandum, eine Schrift exponierter evangelischer Persönlichkeiten, die für eine neue „Wahrhaftigkeit“ der Politik eintraten und auch beim Konfliktthema der Vertreibungen eine neue Offenheit forderten. Die im Tübinger Memorandum geforderte Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war zu diesem Zeitpunkt in Westdeutschland noch weitgehend tabuisiert, wie sich auch an der zurückhaltenden Reaktion der Parteien zeigte. Gleichwohl begann die vom Bund der Vertriebenen propagierte und gegen Grenz-Anerkennung wie Normalisierung gerichtete „Abwehrfront“ seit dem Tübinger Memorandum zu bröckeln. Dies zeigte sich auch am folgenden innerkirchlichen Diskussionsprozess, aus dem schließlich die EKD-Denkschrift hervorging. Sie enthielt das Bekenntnis zur besonderen historischen Verantwortung der Deutschen für die Existenz des polnischen Staates und entwickelte grundlegende Einwände gegen den bis dahin aufrecht erhaltenen Rechtsanspruch auf die „Ostgebiete“. Die Schrift, die zunächst die Situation der deutschen Vertriebenen ins Auge fasste, das Thema der Vertreibungen jedoch aus seiner nationalen Verengung löste und aus politischer, historischer, ethisch-theologischer wie völkerrechtlicher Perspektive reflektierte, formulierte – wie Greschat betonte und auch die von Andreas Kossert (Warschau) geleitete Diskussion deutlich machte – ein mit kirchlicher Autorität ausgestattetes, gleichwohl offen gehaltenes Gesprächsangebot. Sie nahm die Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas – die Hinwendung zur Entspannungspolitik, den veränderten Blick auf die NS-Vergangenheit – auf, um gleichzeitig eine Grundlage für neue Denk- und Handlungsweisen zu schaffen: „Anerkennung“ und „Versöhnung“ gegenüber Polen waren durch die Denkschrift sag- und diskutierbar geworden – ungeachtet der zum Teil heftigen Gegenreaktionen.

In der zweiten Sektion widmete sich Robert Zurek (Berlin) dem etwa zeitgleich entstandenen, im Kontext des II. Vatikanischen Konzils formulierten Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Amtsbrüder – der aus polnischer Sicht entscheidenden Wegmarke im Aussöhnungsprozess. Der Brief betonte die kategoriale Bedeutung der Oder-Neiße-Grenze für die Existenz des polnischen Staates, appellierte jedoch zugleich an die Beziehungsgeschichte und Wertegemeinschaft beider Länder, plädierte für einen unverstellten Blick auf die NS-Vergangenheit und die jeweiligen Vertreibungserfahrungen und postulierte einen Dialog im „allerchristlichsten Geist“: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“. Im Anschluss an Wlodzimierz Borodziej2 betrachtete Zurek den Brief der polnischen Bischöfe als einen oft beschworenen, mitunter mythisch verklärten „Gründungsakt der deutsch-polnischen Normalisierung“ – um vor diesem Hintergrund einige Differenzierungen und Richtigstellungen vorzunehmen. Zurek machte deutlich, dass der Brief nicht allein an Kirche und Gesellschaft in Deutschland gerichtet war, sondern unter dem polnischen Primas Wyszyński auch zu einem Medium des Aufbegehrens gegen das außen- und geschichtspolitische Monopol der kommunistischen Partei wurde. Zurek arbeitete auch die ambivalente Wirkungsgeschichte des Briefes heraus: einmal im Hinblick auf die als enttäuschend eingestufte Antwort des deutschen Episkopats, das zwar „mit brüderlicher Ehrfurcht“ die „dargebotenen Hände“ ergriff, die existenzielle Grenzfrage aber unbeantwortet ließ, und deshalb auf polnischer Seite eine Distanzierung von der emphatischen „Vergebungsformel“ hervorrief; zum anderen im Hinblick auf die vom Gomulka-Regime 1965/66 entfesselte antikirchliche Kampagne, die jedoch unintendiert zu einer Festigung des polnischen Katholizismus und einem Bekenntnis des Kirchenvolkes zu der anfangs keinesfalls unumstrittenen Versöhnungsbotschaft führte. Der Auffassung vom „Gründungsakt“ stellte Zurek eine kritischere Interpretation entgegen: Ohne die parallel geführte neue Ostpolitik und zahlreiche Basisinitiativen hätten die Kirchen nicht den ihnen heute zugeschriebenen Durchbruch erreicht.

Damit wechselte der Fokus wieder zur deutschen Seite. Anhand des „Bensberger Kreises“, einer Gruppe katholischer Laien, die angesichts der zurückhaltenden Reaktion des deutschen Episkopats, eine eigene „Antwort“ auf den polnischen Bischofsbrief formulierten, in der auch die Anregungen der EKD-Denkschrift aufgegriffen wurden, ging Thomas Großbölting (Berlin) auf die strukturellen Veränderungen der deutschen Gesellschaft der 1960er-Jahre ein. Er las die Diskussionen um Denkschrift, Briefwechsel und das Bensberger Memorandum als Folge wie Schrittmacher sozialer und politischer Pluralisierung. Insbesondere im katholischen Milieu und im Umfeld der Vertriebenen seien während der 1960er-Jahre tradierte Positionen und Vergemeinschaftungsformen aufgebrochen und neue Artikulationsmöglichkeiten wie Resonanzräume entstanden. Großbölting regte an, die Perspektive kirchlicher und politischer Eliten mit einer Geschichte zivilgesellschaftlicher Basisprozesse zu verbinden.
Im Anschluss hieran ging Friedhelm Boll (Bonn) genauer auf Vorgeschichte, Struktur und Motivationslage des Bensberger Kreises, dessen Mitglieder ein neues Forum jenseits der Kirchenhierarchie schaffen wollten und sich zu einem politisch eingreifenden Christentum bekannten. Neben der deutsch-polnischen Aussöhnung, die der Kreis bewusst mit der Forderung nach staatlicher Wiedergutmachung für nationalsozialistisches Unrecht verknüpfte, nahm er auch zum Vietnam-Krieg oder dem Problem der Kriegsdienstverweigerung Stellung. Die aus der Pax-Christi-Bewegung hervorgegangene Gruppierung wurde von Boll als Netzwerk mit unterschiedlichen Kristallisationskernen beschrieben, das Theologen wie Historiker und Politologen, Wissenschaftler und Praktiker einband und zur EKD ebenso Kontakt aufnahm wie zum Zentralkomitee der deutschen Katholiken oder den reformorientierten Kräften der Amtskirche. Neben den so apostrophierten „Linkskatholiken“ versuchte der Bensberger Kreis auch Personen aus dem Umfeld der CDU/CSU zu integrieren, und schaltete sich als Mittler zwischen Kirche und Politik immer wieder in die Debatten zur deutsch-polnischen Aussöhnung ein.
Wie Boll so betonte auch Gottfried Erb (Gießen), einer der Mitbegründer des Kreises, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit (insbesondere die Erfahrung des Auschwitz-Prozesses) als wichtigen Ausgangspunkt für das „Polen-Engagement“. Erbs Kommentar und die anschließende Diskussion verdeutlichten überdies, in welch komplexem Spannungsfeld die Bensberger „Agenda“ stand: Das Plädoyer des Bensberger „Polenmemorandums“ für einen Verzicht auf Grenzrevisionen und eine vorbehaltlose Annäherung an Polen führte einerseits zum Rückzug konservativer Kräfte und dem Konflikt mit den Vertriebenenverbänden, förderte jedoch andererseits den produktiven Austausch mit den „neuen Ostpolitikern“ der SPD – ohne, dass freilich dadurch die allgemein wahrgenommene Distanz zwischen Katholizismus und Sozialdemokratie überwunden werden konnte. In Polen traf die Initiative der Bensberger auf positive Resonanz von Laienorganisationen und Amtskirche, die im „Polenmemorandum“ die längst fällige Antwort auf den polnischen Bischofsbrief erkannten, gleichwohl weiterhin auf eine adäquate Antwort des deutschen Episkopats warteten.

Die Vertriebenenverbände, als „Gegner der Aussöhnung“ bereits in den ersten Referaten präsent, wurden in der folgenden Sektion von Matthias Stickler (Würzburg) einer genaueren Inspektion unterzogen. Stickler umriss das Selbstverständnis des Bundes der Vertriebenen als „Avantgarde des deutschen Volkes“, skizzierte dessen politisch-ideologische Orientierungspunkte (Antikommunismus, „Heimatrecht“, Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937) und machte auf die Wahrnehmungsverweigerung gegenüber den polnischen Erfahrungen und Rechtsansprüchen aufmerksam. Die 1960er-Jahre kennzeichnete der Referent als entscheidende Umbruchphase. So sei man von Verbandsseite mit einer schwindenden Binnenintegration und der Ablösung der „Erlebnisgeneration“ konfrontiert gewesen, einer Situation, auf die man durch verstärkte Mobilisierung und das Beharren auf immer anachronistischer werdenden „Rechtspositionen“ reagiert habe. Gleichzeitig habe man aber an gesellschaftlichem Boden verloren: Mit den Versöhnungsinitiativen sei nicht nur die Hegemonie der Vertriebenenverbände im Bezug auf die „Grenzfrage“ gefallen, auch die enge Bindung zu den Kirchen habe sich gelockert. Zudem verschob sich ihre Position im Parteienspektrum: Gab es zu Beginn der 1960er-Jahre noch zahlreiche Kontakte zwischen den Vertriebenenverbänden und der unverkennbar um deren Wählerpotenzial buhlenden SPD, so habe sich nach der Hinwendung zur Brandtschen Ostpolitik eine weitgehend ungebrochene Koalition mit der CDU/CSU entwickelt.
Wie Stickler fasste auch Dieter Bingen (Darmstadt), der die zwischenstaatlichen Kontakte und außenpolitischen Konzepte im deutsch-polnischen Verhältnis thematisierte, die 1960er-Jahre als Übergangsphase, in der sich – zu Zeiten der großen Koalition und der Regierung Brandt/Scheel – allmählich die Parameter und Begriffe einer neuen Polenpolitik durchsetzten. Er machte jedoch auch deutlich, wie weit die deutsche Politik auf das Entgegenkommen der polnischen Führung angewiesen war. Nachdem sich diese bis 1968 einer Anerkennung des westdeutschen Kurswechsels verweigert hatte, öffnete sich erst gegen Ende der Dekade ein „window of opportunity“, als das Gomulka-Regime angesichts der atmosphärischen Entspannung zwischen den Blöcken und wachsender innenpolitischer Proteste durch die Annäherung an die deutsche Regierung politische Terraingewinne zu erzielen versuchte.

Das folgende Panel nahm noch einmal die zivilgesellschaftlichen Akteure in den Blick – nun vor allem im Bezug auf die Staaten des Ostblocks, wo jenseits der Meinungslenkung und des außenpolitischen Alleinvertretungsanspruchs des Staates eine Vielzahl „eigensinniger“ Initiativen und Beziehungen entstanden. Basil Kerski (Berlin) sprach angesichts dieser Vielfalt auch von einer fortschreitenden „Vergesellschaftung“ der deutsch-polnischen Beziehungen. Es sei zwischen den späten 1950er und den 1980er-Jahren über die Blockgrenzen hinweg ein stabiles Kontaktnetz entstanden, über das nicht nur Erfahrungen und Informationen ausgetauscht, sondern auch konkrete Anregungen in das jeweilige politische System eingespeist worden seien. In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte Kerski drei politisch-konzeptionell profilierte Akteursgruppen: die Klubs der katholischen Intelligenz, die demokratische Opposition seit den späten 1970er-Jahren und das polnische Exil um die Zeitschrift „Kultura“. Kerski verwies aber auch auf zahlreiche andere Gruppierungen und forderte angesichts der bestehenden Forschungsdesiderate zu einer verstärkten Beschäftigung mit dieser „anderen“ deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte auf.
Ein vergleichbares Plädoyer hielt auch Theo Mechtenberg (Vlotho), der an Versöhnungsinitiativen aus der DDR erinnerte. Mechtenberg skizzierte zunächst das Terrain für derartiges Handeln: „Versöhnung“ war angesichts des „verordneten Antifaschismus“, der proklamierten „sozialistischen Brudergemeinschaft“ und des zumindest latent stets vorhandenen negativen Polenbildes kein offizielles Thema des SED-Regimes, sodass derartige Bemühungen ohne gesellschaftlichen Resonanzraum, gegen staatliche Widerstände und mit nur partieller kirchlicher Unterstützung unternommen werden mussten. In seinen Ausführungen, die Mechtenberg vor allem auf Lothar Kreißig, Günther Särchen und die „Aktion Sühnezeichen“ konzentrierte, wurde eine eigene Traditionslinie interkultureller Verständigung erkennbar, die mehr war als ein bloßes Echo des westdeutsch-polnischen Dialogs.

Noch deutlicher als die Referate von Kerski und Mechtenberg griff die folgende Sektion über die „Gründungsphase“ der Aussöhnung hinaus. Sie widmete sich mit den 1980er-Jahren einer Periode, die in Erinnerungskultur und Historiographie immer noch scharfe Kontroversen hervorruft. Kazimierz Woycicki (Stettin) legte in seinem Referat deren Kern frei. Er schilderte die 1980er-Jahre als Jahrzehnt gesellschaftlichen Aufbruchs in Polen, zog aber zugleich eine betont kritische Bilanz der deutsch-polnischen Beziehungen. Diese Bilanz summierte nicht nur die scharfe antipolnische Kampagne der DDR und das Versanden des kirchlichen Dialogs, sondern auch die selektive, national verengte Geschichtspolitik der Regierung Kohl wie das Scheitern der von der SPD propagierten, auf Kooperation mit den Führungen des Ostblocks angelegten Entspannungspolitik angesichts der Solidarnosc-Bewegung und des Kriegsrechts.
Woycicki erkannte in den 1980er-Jahren zahlreiche Muster, die auch heute noch die deutsch-polnischen Beziehungen prägen würden – eine Auffassung, die Ludwig Mehlhorn (Berlin) in einem Kommentar mit der Formulierung vom Jahrzehnt der „verpassten Gelegenheiten“ unterstrich. Kritik der Diskutanten fand vor allem Woycickis im Bezug auf die Entspannungspolitik entwickelte These von einem „linken Nationalismus“ der deutschen Friedensbewegung, der vor allem außenpolitischen Interessen gefolgt, primär auf Russland gerichtet, gegenüber Polen allenfalls paternalistisch orientiert gewesen sei und die dortige Bevölkerung nicht als politisches Subjekt anerkannt habe. Dem hielten mehrere Diskutanten entgegen, es habe während des Kriegsrechts eine starke Solidaritätsbewegung von Seiten der westdeutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gegeben, ein Phänomen, das – darüber waren sich beide Seiten einig – hinsichtlich seines Ausmaßes und der dahinter stehenden Intentionen noch genauerer Erforschung bedarf.
Das spannungsreiche Verhältnis der westdeutschen Sozialdemokratie zur polnischen Opposition war auch das Untersuchungsthema von Bernd Rother (Berlin). Er präsentierte eine Fallstudie zum Polen-Besuch Brandts 1985 und widmete sich jener Geste, die in der polnischen Erinnerung die zentrale Bildikone deutsch-polnischer Aussöhnung, den „Kniefall“, häufig zu überlagern droht: die Begegnung mit Jaruzelski und das gescheiterte Treffen des Solidarnosc-Führers Walesa. Rother rekonstruierte Planung und Verlauf der Brandt-Reise und zeigte, dass von einer Verweigerung Brandts keine Rede sein kann. Dessen Vorgehen sei vielmehr von dem Wunsch geprägt gewesen, die polnische Führung als Verhandlungspartner nicht zu brüskieren, zugleich die Opposition in angemessener Weise zu würdigen, ohne dadurch aber eine Verschärfung der staatlichen Repression zu provozieren – eine komplexe Entscheidungssituation, die sich durch die von Walesa geforderte demonstrative Geste nicht einfach habe lösen lassen. Rother argumentierte aber auch, dass Brandt sich weiterhin an den Erfahrungen des Kalten Krieges orientiert und nur ein eingeschränktes Sensorium für die gesellschaftlichen Basisprozesse in Polen gehabt habe. Das Konzept eines „Wandels durch Annäherung“ habe somit – wie Ludwig Mehlhorn pointierte – eine Wahrnehmungssperre gegenüber dem „Wandel durch Auflehnung“ erzeugt.

Am Ende der Tagung stand der Blick auf die Gegenwart, den erinnerungskulturellen Stellenwert von kirchlichen Versöhnungsinitiativen und Entspannungspolitik sowie die Perspektiven der bilateralen Beziehungen. Zunächst ging der Publizist Peter Bender (Berlin) noch einmal die Stationen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte ab und markierte die 1960er-Jahre als entscheidenden Durchbruch: Die Kirchen wie die Regierung Brandt hätten hier zum ersten Mal die Rhetorik der Verständigung mit konkretem politischen Handeln und wegweisenden Gesten verbunden, und als „Türöffner“ die Basis gelegt, für einen breiten publizistischen, kulturellen oder wissenschaftlichen Austausch. Im Bezug auf die aktuellen Belastungen betonte Bender die kategorialen Unterschiede zwischen 1965 und 2005: Die historischen Belastungen seien nicht mehr unmittelbar gegenwärtig, sondern allenfalls Stoff für geschichtspolitische Instrumentalisierungen. Angesichts dessen empfahl Bender die Anknüpfung an einen selten zitierten Satz aus dem polnischen Bischofsbrief: „Versuchen wir zu vergessen“ – eine Empfehlung, die im Hinblick auf manche geschichtspolitische Skandalisierung zwar nahe liegt, als generelle erinnerungspolitische Maxime jedoch Widerspruch fand.

Das Schlusspodium unter Leitung von Klaus Ziemer (Warschau; mit Friedhelm Boll/Bonn, Hans Henning Hahn/Oldenburg, Jerzy Kranz/Warschau, Anna Wolff-Poweska/Posen) diskutierte noch einmal die unterschiedlichen Akteure, Ebenen und Geschwindigkeiten sowie die zahlreichen Ungleichzeitigkeiten, Blockaden und Rückschläge im Prozess der Aussöhnung, der eben nicht, wie in Festreden oftmals suggeriert, linear und weitgehend widerspruchsfrei ablief. Zur Sprache kam auch ein anderes Kernthema der Konferenz: die Bedeutung symbolpolitischen Handelns in den internationalen Beziehungen und die Wirkmächtigkeit von Geschichtsbildern wie auch nationalen, politischen und konfessionellen Stereotypen. Diese Muster sind seit den 1960er-Jahren zunehmend erodiert oder durch offenere Formen ersetzt worden, können in Konflikt- und Krisenzeiten jedoch stets – wie aktuell ersichtlich – wiederbelebt werden.

Drei Wochen nach der Berliner Tagung wurde das Thema in Warschau vor einem mehrheitlich polnischen Publikum noch einmal aufgenommen. Die von dem dortigen Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Deutschen Historischen Institut und der Kardinal Wyszynski-Universität organisierte Konferenz mit dem Titel „Von der Versöhnung zur Zusammenarbeit“ nahm zahlreiche Ansätze, Referenten und Vorträge der Berliner Tagung auf, erweiterte den Blickwinkel jedoch in mehrerlei Hinsicht.3
So analysierte Oliver Bange (Mannheim) in Ergänzung zu den Berliner Vorträgen von Dieter Bingen und Matthias Stickler die Reaktionen der deutschen Volksparteien auf die kirchlichen Versöhnungsinitiativen (1965-72) und die Entstehung einer neuen Konfliktlinie zwischen der auf Entspannung setzenden SPD und der „ostpolitisch“ weitgehend obstruktiven CDU/CSU. Beim Blick auf die langfristigen Wirkungen der kirchlichen Versöhnungsinitiativen widmete sich Burkhard Olschowsky (Oldenburg) den Veränderungen der Bevölkerungsstimmung und der „Normalisierung“ im Alltag der 1970er und 1980er-Jahre (Reisen, Partnerschaften, Hilfsaktionen); Egon Spiegel (Vechta) skizzierte Bedeutung und Reichweite der Wissenschaftskooperation am Beispiel der Religionspädagogik; und Winfried Lipscher (Berlin/Warschau) beschrieb die seit 1965 zunehmend institutionalisierte Zusammenarbeit der katholischen Kirchen Deutschlands und Polens, die den Briefwechsel des Jahres 1965 mittlerweile zum zentralen Bezugspunkt gemeinsamer Erinnerungskultur bestimmt haben. Schließlich referierte Klaus Ziemer (Warschau) zum sich wandelnden Deutschlandbild der polnischen Opposition – wobei er mit den Ende der 1970er-Jahre publizierten Dokumenten der PPN (Polnische Unabhängigkeitsbewegung) ein äußerst wichtiges, in der Forschung jedoch noch nicht ausreichend beachtetes Kapitel „alternativer Außenpolitik“ präsentierte.

Ein Schwerpunkt der Warschauer Konferenz lag auf der Entstehungs- und unmittelbaren Wirkungsgeschichte des polnischen Bischofsbriefs (Referate u.a. von Andrzej Grajewski/Kattowitz sowie Slawomir Stepien, Jerzy Eisler, Jacek Zurek und Jan Zaryn/alle Warschau). Dabei trat einmal die Bedeutung des Breslauer Bischofs Kominek hervor, der nicht nur wichtigster Autor des Briefes war, sondern diesen bereits über Jahre hinweg vorbereitet hatte. Breit diskutiert wurde überdies die Rolle des katholischen Primas Wyszynski als „Galionsfigur“ der Auseinandersetzung mit dem deutschen Episkopat und der Konfrontation mit dem polnischen Staat. In diesem Zusammenhang kamen auch die zahlreichen innerpolnischen Widerstände gegen den Bischofsbrief zur Sprache. Darunter fällt nicht allein die skeptische Aufnahme durch Bevölkerung und unteren Klerus, sondern vor allem die massive antikirchliche Kampagne des Staats- und Parteiapparats, der durch gefälschte Dokumente und Pressepropaganda, weit gefächerte Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen eine positive Aufnahme der kirchlichen „Versöhnungsbotschaft“ zu verhindern versuchte.
Neben neuen Informationen vermittelte die Warschauer Konferenz auch Einblicke in den unterschiedlichen historiographischen Ansatz und erinnerungspolitischen Ort deutscher und polnischer Forschung: Während die kirchlichen Versöhnungsinitiativen in Deutschland (zumal im Westen) mehr und mehr zum Gegenstand einer allgemeinen Gesellschaftsgeschichte werden, stehen sie auf polnischer Seite immer noch inmitten der Aufarbeitung von kommunistischer Repression, „Verfolgung und Widerstand“. Überdies stieß die Konferenz auf zahlreiche noch unbearbeitete Fragestellungen, etwa im Bezug auf die vatikanische Ostpolitik, das deutsch-polnisch-russische „Dreiecksverhältnis“, die Biographie Komineks oder das Weltbild Wyszynskis. Diese Fragen zu klären erforderte – wie nicht zuletzt die polnischen Teilnehmer anmerkten – auch eine großzügige Öffnung der kirchlichen Archive.
Am Schluss der Veranstaltung stand wiederum eine Podiumsdiskussion, die historische Erfahrung mit aktueller Politik zu verklammern versuchte (Leitung: Kazimierz Woycicki/Stettin, Stanislaw Ciosek, Antoni Dudek, Jan Truszczynski/Warschau sowie Friedhelm Boll/Bonn und Angelica Schwall-Düren/Berlin) und neben den spezifischen Konflikten und Kooperationsbeziehungen der Eliten auch die Medien und Möglichkeiten gesellschaftlicher „Normalisierung“ erörterte.

An dieser Stelle ist natürlich – wie die Warschauer Runde andeutete und die Berliner Schlussdiskussion betonte – auch die Wissenschaft gefragt. Als Vermittler fachlicher und individueller Kontakte wie als Reflexionsinstanz im öffentlichen Raum könne sie den Prozess interkultureller Verständigung fördern. Dementsprechend ist auch eine Publikation zu beiden Tagungen geplant, die nicht nur die Ereignisgeschichte klärt, sondern auch die unterschiedlichen Geschichten der Verständigung zusammenführt – „polnische“ und „deutsche“, „katholische“ wie „sozialdemokratische“.

Anmerkungen:
1 Zum Kontext vgl. den diesjährigen Band des Archivs für Sozialgeschichte, der unter dem Schwerpunktthema „West-Ost-Verständigung im Spannungsfeld von Gesellschaft und Staat seit den 1960er-Jahren“ unter anderem zehn Beiträge zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen versammelt. Näheres dazu: http://library.fes.de/afs-online/index.html.
2 Wlodzimierz Borodziej, Die kirchlichen Versöhnungsinitiativen des Jahres 1965 aus polnischer Sicht, Vortrag auf der Veranstaltung „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ - 40 Jahre Deutsch-Polnische Verständigung, 19.10.2005, Berlin. Vgl. hierzu http://www.katholische-akademie-berlin.de/Flyer/19102005Vergebung.pdf.
3 Zum genaueren Programm der Konferenz, die hier nur ausschnittsweise besprochen werden kann: http://www.dhi.waw.pl/de/aktualnosci/konferencje/index2.php?nr_art=193


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