K. Wolf: Troja – Metamorphosen eines Mythos

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Titel
Troja – Metamorphosen eines Mythos. Französische, englische und italienische Überlieferungen des 12. Jahrhunderts im Vergleich


Autor(en)
Wolf, Kordula
Reihe
Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 13
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grischa Vercamer, Deutsches Historisches Institut Warschau

Herkunft als Legitimation einer bestimmten Gemeinschaft stand stets im Mittelpunkt historiografischen und schließlich auch historischen Interesses.1 Man bediente sich im Mittelalter gerne der Römer und später auch der Franken als Legitimität stiftende Völker.2 Die Auswahl an noch älteren Herkunftsmythen war begrenzt, zumal man einer einprägsamen Figur wie des Aeneas bedurfte, der aufgrund seines jahrelangen Umherirrens in Europa und Afrika prädestiniert war, als Gründer verschiedener Völker zu fungieren. Vergils Aeneis war im Mittelalter weit verbreitet, und so wundert es nicht, dass sich sowohl Historiografen als auch verstärkt ab dem 12. Jahrhundert volkssprachige Dichter dieser Materie annahmen und sie für ihre Zwecke veränderten.3

Der bei diesen Adaptionen von der Forschung vorausgesetzte Zusammenhang zwischen Legitimation/Identifikation und Historiografie scheint auf den zweiten Blick nicht so selbstverständlich wie bislang angenommen. Hier setzt die im Jahre 2006 an der Humboldt-Universität in Berlin bei Michael Borgolte eingereichte Dissertation von Kordula Wolf an – vergleichend, wie es für die Arbeiten in der Reihe „Europa im Mittelalter“ fast schon selbstverständlich ist, zwischen England, Frankreich und Italien im 12. Jahrhundert. Ihr formuliertes Ziel ist es gerade nicht, einen europaweit existierenden Mythos in seinen Verästelungen zu untersuchen, um dann auf einen Europa einenden Terminus zu kommen, sondern sie fragt a) nach dem als „selbstverständlich vorausgesetzten Zusammenhang zwischen Mythos und Identitätsstiftung bzw. Herrschaftslegitimation“, b) nach den „Biographien der Autoren und ihren sozialen Netzwerke[n]“ und schließlich c) nach dem Zusammenhang zwischen historiografischen Texten und „anderen zeitgenössischen Thematisierungen des Troja-Stoffs“ (alles S. 12).

In der Einleitung beschäftigt sie sich zunächst mit der wissenschaftlichen Mythendiskussion (S. 40–57) und entscheidet sich dabei methodisch für einen „offenen“ bzw. „aspektiven“ Zugang, während sie den „funktionalen und an göttliche Ursprünge gebundenen Mythosbegriff“ aufgibt (S. 53). Die zugrunde gelegte Länderauswahl hinterlässt ein kleines Fragezeichen vor dem Hintergrund, dass England und Frankreich doch ähnliche strukturelle Voraussetzungen mitbrachten, während Italien mit seiner Städtelandschaft völlig aus dem Rahmen fiel. Das tut aber der Gesamtkonzeption grundsätzlich keinen Abbruch, da sie ihren Fokus auf drei, jeweils aus diesen Ländern stammende, historiografische Werke richtet, die unterschiedlichen Textsorten zuzuordnen und somit wiederum gut miteinander vergleichbar sind: die Weltgeschichte (Cronica) des Cremoneser Bischofs Sicard, die biografisch-französische Gegenwartsgeschichte (Gesta Philippi Augusti) von Rigord sowie die als Vorgeschichte Englands angelegte Historia Regum Brittanie des Geoffrey von Monmouth.

Den Hauptteil der Arbeit (Metamorphosen eines Mythos, S. 63–284) gliedert Kordula Wolf in drei gleichwertig nebeneinander stehende Kapitel. Im ersten dieser Kapitel ("Variabilität", S. 63–148) arbeitet sie zunächst die Unterschiede der ihrer Studie zugrunde gelegten Werke in Bezug auf Troja heraus. Plastisch wird dem Leser vor Augen geführt, dass alle drei Historiografen auf jeweils andere Urahnen und somit andere Herkunftsgeschichten aus dem Umfeld von Troja setzten. Sicard von Cremona bezog sich auf Aeneas, während sich Rigord Francios bediente und schließlich Geoffrey von Monmouth Brutus als Urahn der Briten anführte. Obgleich Geoffrey den trojanischen Ursprüngen in seiner Erzählung ungleich mehr Raum (15 von insgesamt 147 Seiten) widmete als die anderen beiden Autoren (Sicard eine von insgesamt 100 Seiten, Rigord sechs von insgesamt 167 Seiten), bescheinigt Wolf allen drei Historiografen gleiches Interesse – hier könnte man wohl geteilter Meinung sein – und sucht die Unterschiede in der jeweiligen Textsorte (S. 88f.). Mit diesen Erkenntnissen geht sie zu einer allgemeinen Blütenlese von Troja-Rückgriffen in den historiografischen und literarischen Werken des 12. Jahrhunderts in Frankreich, England und Italien über. Sie kommt für diesen nicht vollständigen, aber sehr repräsentativen Überblick zum Ergebnis, dass die Variationsvielfalt des Troja-Mythos in der historiografischen und nicht-historiografischen Überlieferung wesentlich breiter ausfällt als bislang erkannt (S. 146). Außerdem kann sie aufgrund der Kontextualisierung der Texte feststellen, dass viele Werke mit Troja-Bezug im klösterlichen, im Besonderen im benediktinischen Milieu zu verorten sind.

Im zweiten Kapitel des Hauptteils ("Transformationen", S. 149–194) geht die Autorin auf das Spannungsverhältnis „zwischen Tradition und individuellem Spielraum“ (S. 149) ein. Sie bezieht sich dabei vor allem auf die Gründungsmythen der Städte London, Paris und Cremona in ihren drei Hauptquellen sowie deren Rezeption in späteren Werken. Wichtig ist ihr hierbei, darauf hinzuweisen, dass die verschiedenen Mythenstränge, verbunden mit den Urahnen Aeneas, Brutus und Francio, in den besprochenen und in späteren Werken durchaus nebeneinander vorkommen konnten (Rigord setzt sich beispielsweise ablehnend mit der englischen Fassung auseinander) und sich, bis auf den Gründungsmythos von Cremona, durch das ganze spätere Mittelalter zogen. Für Paris und Cremona kann sie feststellen, dass die Beschreibungen zu den Gründungen der genannten Städte durch Priamus’ Sohn Paris Alexander respektive durch die Gefährten des Aeneas neu waren. Aus dieser Tatsache schließt sie für Paris, dass Rigord die Gründungsgeschichte von Paris „als eine Reaktion auf die behaupteten trojanischen Ursprünge Londons“ (S. 164) konstruierte. Die Tatsache, dass Paris unter Philipp II. Augustus sehr an Zentralität und Wichtigkeit gewann und sich dadurch eine Mythenvariante in dieser Weise für Rigord ohnedies geradezu anbot, wird an dieser Stelle allerdings nicht genannt.

Im letzten Kapitel ("Relevanz", S. 195–284) widmet sich Kordula Wolf der Frage nach der Funktionalität des Troja-Mythos. Die eingangs von ihr formulierte Kritik an dem gängigen Forschungsmodell des notwendigen Zusammenhangs von Herrschaftslegitimation/Identitätsstiftung und Historiografie wird hier durch eine profunde Analyse untermauert. Eindeutig innovativ ist hier Wolfs Zugriff auf das Problemfeld, indem sie die Trojapassagen eben nicht getrennt von dem Rest der Werke und dem sozialen Umfeld der Autoren betrachtet, sondern sie in dieses Gesamtbild einpasst. Geoffreys Undifferenziertheit („Wie das Gesamtwerk hielt die trojanische Herkunftsgeschichte ein offenes Assoziationspotenzial bereit [...]“, S. 238), Rigords Angebot unter mehreren (zeitgleiche Rückgriffe auf Karl den Großen und Alexander den Großen beweisen, dass „die Trojaner bei der herrscherlichen Selbstdarstellung offensichtlich keine Rolle [spielten]“, S. 263) und Sicards Ordnung nach Weltzeitaltern und Anschluss an Autoritäten wie Hieronymus und Augustin, welche die Erwähnung der Trojaner förmlich unabdingbar machte, zeigen, dass schon auf der Intentionsebene der Autoren nicht eindeutig geurteilt werden kann. Die Verfasserin kommt daher für die schwerer zu analysierende Wirkungsebene zu dem Ergebnis, „dass diese [Mythenvariationen] für die Rezipienten der damaligen Zeit keinen identifikatorischen bzw. herrschaftslegitimierenden Bezugspunkt bildeten“ (S. 279). Dabei betont sie, dass die Autoren auf der intentionalen Ebene durchaus solche Ziele verfolgen konnten (S. 278), diese aber eben von dem Umfeld nicht angenommen wurden. Es bleibt dann allerdings die Frage, warum die Autoren die Zeichen der Zeit offenbar nicht verstanden, also nach dem Missverhältnis zwischen Intention und Wirkung; zumal der Troja-Mythos im 12. Jahrhundert erst wieder reaktiviert wurde – aus welchem Grund also, wenn nicht herrschaftslegitimierend oder identitätsstiftend? Zu reinen Aufzählungszwecken, weil die Trojaner zum Bildungskanon gehörten? Dieses Missverhältnis kann Kordula Wolf am Schluss nicht gänzlich auflösen, was aber insgesamt die Qualität der Arbeit absolut nicht beeinträchtigt. Ihr Ansatz und ihr methodisches Vorgehen können ohne Vorbehalte als zukunftsweisend bezeichnet werden. Künftige literaturwissenschaftliche oder historische Arbeiten auf diesem Feld sollten sich daher an ihrer Arbeit orientieren.

Anmerkungen:
1 In den letzten Jahren hat sich die Diskussion und das Nachdenken über Troja und dessen Rezeption, nochmals gefördert durch die öffentliche Kontroverse zwischen Manfred Korffmann und Frank Kolb, in mehreren Tagungen fruchtbar niedergeschlagen, vgl. Monika Schuol: Rezension zu: Zimmermann, Martin (Hrsg.): Der Traum von Troia. Geschichte und Mythos einer ewigen Stadt. München 2006, in: H-Soz-u-Kult, 07.01.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-009> (07.01.2008). Auch Mediävisten beteiligten sich jüngst an dieser dem Thema angemessenen, periodenübergreifenden und interdisziplinär geführten Diskussion, vgl. beispielsweise Michael Borgolte, Europas Geschichten und Troia. Der Mythos im Mittelalter, in: Troia. Traum und Wirklichkeit, Stuttgart 2001, S. 190–203; Knut Görich, Troia im Mittelalter – der Mythos als politische Legitimation, in: Martin Zimmermann (Hrsg.), Der Traum von Troia. Geschichte und Mythos einer ewigen Stadt, München 2006, S.120–134.
2 Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen, Berlin 2006, S. 366f.
3 Vgl. Jan-Dirk Müller, Das höfische Troja des deutschen Mittelalters, in: Heinz Hoffmann (Hrsg.), Troia. Von Homer bis heute, Tübingen 2004, S. 119–141.

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