J.I. Engels u.a. (Hrsg.): Korruption

Cover
Titel
Geld - Geschenke - Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa


Herausgeber
Engels, Jens Ivo; Fahrmeir, Andreas; Nützenadel, Alexander
Reihe
Historische Zeitschrift Beiheft 48
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Grüne, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Nach sporadischen Vorläufern gewinnt die „historische Korruptionsforschung“ in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit schärfere Konturen. Hatten die wichtigen Pionierarbeiten von Wolfgang Schuller zur Antike und von Valentin Groebner zum Spätmittelalter anfangs wenig Nachahmung gefunden1, zeichnet sich mit mehreren Konferenzen2, Projekten3 und Publikationen4 nun eine Verdichtung des Forschungsfelds ab. Der vorliegende Sammelband, der auf eine Tagung im Sommer 2006 zurückgeht5, zeugt von diesem Aufschwung und setzt zugleich hohe Maßstäbe für künftige Untersuchungen. In drei theoretischen Aufrissen und acht Fallstudien, die sich vom Beginn des 17. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erstrecken, wird der Gegenstandsbereich zunächst konzeptionell abgesteckt und anschließend exemplarisch ausgeleuchtet.

Das steigende akademische Interesse an „Korruption“ verdankt sich nicht zuletzt der Sensibilisierung der Medien und eines größeren Publikums für dieses Thema und, damit zusammenhängend, der Häufung einschlägiger Affären und Skandale in der jüngeren Vergangenheit; genereller auch dem Umstand, dass die Trennung zwischen privaten und öffentlichen Handlungsbereichen in der Postmoderne auf irritierende Weise (wieder) zu verwischen scheint. Gerade vor diesem Hintergrund wird in der Einleitung aber zu Recht das heuristische Potential einer historischen Korruptionsforschung betont, die sich nicht in der Rekonstruktion juristischer Grenzziehungen erschöpft, sondern dem langfristigen Wandel politisch-sozialer Rollenerwartungen in breiterem Umfang nachspürt. Denn die „Beschäftigung mit Korruption verspricht“, wie die Herausgeber unterstreichen, „wertvolle Einblicke in die Geschichte der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften.“ (S. 13)

Dieser Kerngedanke wird in den drei konzeptionellen Aufsätzen genauer entfaltet. Werner Plumpe geht von dem kategorialen Spannungsverhältnis aus, das zwischen „Korruption“ als sozialwissenschaftlichem Terminus und als historischem Quellenbegriff besteht, und erörtert daraufhin ein Entwicklungsmodell, das sich an Veränderungen in der „Kommunikation über Korruption“ (S. 20) orientiert. Demnach rekurriere die Wortverwendung zwar durchweg auf ein semantisches Schema, in dem „Korruption“ den Gegenpol zu „Perfektion“ bilde. Jedoch habe sich der Referenzrahmen dieses Dualismus allmählich von theologisch-kosmologischen Bezügen zu Fragen weltlicher Ordnung verschoben und damit in der Art politisiert, dass Korruptionskritik zunehmend auf die zukunftsoffene Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Institutionen zielte. Unter Rückgriff auf systemtheoretische Interpretamente bringt Plumpe diese Umprägung in enge Verbindung mit funktionalen Ausdifferenzierungen, insbesondere dem Aufstieg organisationaler Strukturen und der Normierung von Mitgliedschaftsrollen, die ihrerseits in einem dynamischen Prozess die Deutung von Regelverstößen als korruptiver Devianz begünstigt hätten. In solchem Sinne seien daher „Korruption und Moderne koevolutiv angelegt“ (S. 29). Ebenfalls um eine „systemtheoretische Historisierung“ (S. 50) bemüht sich Karsten Fischer, der ähnlich wie Plumpe strukturelle Differenzierung und die Dissoziation „öffentlicher“ und „privater“ Normensphären als konstitutiv für das neuzeitliche Korruptionsverständnis ansieht. Fischers Augenmerk gilt speziell den methodologischen Folgerungen einer kommunikationsgeschichtlichen Perspektive für die historische Komparatistik. Da Korruptionsphänomene diachron nicht unmittelbar vergleichbar seien, komme es hierbei vor allem auf eine „Beobachtung von Korruptionsbeobachtern“ (S. 65) an, womit der „historische[n] Semantik von Korruptionskommunikation“ (S. 64) erhebliches Gewicht zuwachse. Abgerundet wird der Theorieteil durch einen Beitrag von Andreas Fahrmeir, der eine Reihe der bisher aufgeworfenen Probleme – unter anderem in Bezug auf komparative Ansätze – anhand sich wandelnder politischer Karrieremuster im langen 19. Jahrhundert illustriert.

Die acht materialreichen und sehr erhellenden Einzelstudien können hier nur stichwortartig gewürdigt werden. Hillard von Thiessen vergleicht die zeitgenössische Kritik an dem spanischen Günstling-Minister Lerma (bis 1618) und seinem englischen Pendant Buckingham (bis 1628) und leitet die unterschiedliche Tragweite von Korruptionsvorwürfen in diesen Fällen aus den differierenden politischen Verfassungsbedingungen und Kulturen der beiden Länder her. Alexander Nützenadel untersucht Stimmenkauf und Wahlmanipulation („broglio“) im Venedig des 17./18. Jahrhunderts und erblickt in solchen Spielarten „informelle[r] Politik“ (S. 125) stabilisierende Elemente in einer sozial fragmentierten Adelsgesellschaft. Jens Ivo Engels analysiert französische Korruptionsdebatten vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ende der Dritten Republik konsequent als „Artikulationsformen von Reflexivität in der Moderne“, wobei er die vier umkämpften Prinzipien „(funktionale) Differenzierung“, „Inklusion“, „Transparenz“ und „Partizipation“ im Brennpunkt der Auseinandersetzungen sieht (S. 144). Frank Bösch wendet sich Großbritannien im frühen 20. Jahrhundert zu und schildert, wie Korruptionsanschuldigungen zunächst im Gefolge des Burenkriegs von den Liberalen gegen die Tory-Regierung eingesetzt wurden; nach dem Machtwechsel 1906 aber fungierten sie – gipfelnd im „Marconi“-Skandal von 1912/13 – umgekehrt als ein Bestandteil der konservativen Kampagnen gegen sogenannte „radical plutocrats“. Mit Patronageverhältnissen in der russischen Provinzadministration des 19. Jahrhunderts befasst sich Susanne Schattenberg, die entlang etablierter Ehrvorstellungen innerhalb klientelarer Reziprozitätsbeziehungen der Frage nachgeht, warum – dem Anschein zum Trotz – „die Staatsdiener nicht korrupt waren“ (S. 203). Der letzte, zeitgeschichtliche Block beginnt mit zwei Beiträgen, die den Erscheinungsbildern von und Reaktionen auf Korruption in diktatorischen Regimen des 20. Jahrhunderts gewidmet sind, nämlich im Nationalsozialismus (Frank Bajohr) und in der DDR (André Steiner). Beschlossen wird der Band von Axel T. Paul, der den Korruptionskomplex in vielen Ländern des heutigen Afrika aus der Transformation („Vertikalisierung“, S. 287, und „Dekontextualisierung“, S. 279) traditioneller Reziprozität bis hin zu einem „ethnischen Klientelismus“ (S. 300) erklärt – einem mehrschrittigen Prozess, den Paul am Beispiel des ostafrikanischen Zwischenseengebiets tiefenscharf für die vorkoloniale, koloniale und postkoloniale Phase nachzeichnet.

Aus den konzeptionellen Überlegungen, die sich übrigens nicht auf die theoretischen Eingangstexte beschränken, und der Fülle empirischer Veranschaulichungen schälen sich drei allgemeine Aspekte heraus, welche die künftige historische Korruptionsforschung anzuleiten und – mitunter vermutlich kontrovers – zu stimulieren vermögen.

Erstens: Obschon in den Analysen „korruptes“ (bzw. als „korrupt“ klassifizierbares) Handeln selbst keineswegs ausgeblendet wird, stehen diskursive Praktiken der Thematisierung von „Korruption“ eindeutig im Mittelpunkt. Zumeist kreisen die Betrachtungen um die Frage, wer mit welchen Intentionen und Effekten bestimmte Verhaltensweisen als „korrupt“ etikettierte, unter welchen normativen, institutionellen und medialen Bedingungen dies geschah und wie derartige Zuschreibungsmuster gesellschaftshistorisch einzuordnen sind. Jenseits der mehrfachen Erläuterungen eines solchen Zugangs lässt sich diese Grundausrichtung auch daran ablesen, dass der treffende, aber nirgends explizit eingeführte Begriff der „Korruptionskommunikation“, den man wohl in Anlehnung an die Luhmannsche „Moralkommunikation“ fundieren könnte, von etlichen Autorinnen und Autoren zwanglos benutzt wird. In jedem Fall vollzieht die Korruptionsforschung damit eine begrüßenswerte Öffnung zur politischen Kulturgeschichte.

Zweitens: Verschiedentlich werden begriffsgeschichtliche Exkurse zum Sinnhorizont von „Korruption“ eingeschaltet (zum Beispiel W. Plumpe, S. 30-35), und wenn Karsten Fischer konstatiert, dass der kommunikationsanalytische Ansatz auf „ein noch weitgehend unbestelltes, fruchtbares Arbeitsfeld historischer Semantologie“ (S. 65) lenke, benennt er zweifellos ein gravierendes Desiderat. Der Band führt diesen Gesichtspunkt jedoch (zumeist stillschweigend) auf die semasiologische, wortbedeutungskundliche Dimension eng – eine Tendenz, die bereits in der Einleitung mit dem Postulat anklingt, dass „auf den Begriff der Korruption nicht verzichten [kann], wer Korruptionsforschung zu betreiben beansprucht“ (S. 12). Dagegen legen etwa die Beobachtungen Hillard von Thiessens, typischerweise im Lichte frühneuzeitlicher Quellenbefunde, ein Suchraster nahe, das lexikalisch nicht auf Ableitungen vom lateinischen „corruptus“ fokussiert (S. 100). Insgesamt müssten deshalb für vormoderne (wie außereuropäische) Gesellschaften die onomasiologische, sachbezeichungsgeschichtliche Ebene und die Synonyme von „Korruption“ stärker einbezogen werden.

Drittens: Weithin Einigkeit besteht darin, dass die Genese von Korruptionsvorstellungen als Projektionen spezifischer Normenverstöße – namentlich im Bereich „öffentlichen“ Amtshandelns – untrennbar mit politisch-mentalen Modernisierungsvorgängen verknüpft war. Im Korruptionsdiskurs spiegeln sich das Vordringen und die Verwerfungen dieser Prozesse, so dass er sich auch als Sonde für umfassendere gesellschaftshistorische Erkenntnisinteressen eignet. Eine gewisse Unsicherheit scheint indessen bezüglich der Periodisierung zu existieren – genauer in der Frage, wann herrschafts- und verwaltungsorganisatorische Entwicklungen tatsächlich korruptionsgeschichtlich wirksam wurden. So setzt Werner Plumpe mit seiner exemplarischen Skizze einschlägiger Veränderungen in Bürokratie und Beamtenethik aus guten Gründen im 16. Jahrhundert ein (S. 38-43), während die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren zumindest implizit das späte 18. und 19. Jahrhundert als zentrale Umbruchphase einstuft. Für die Frühmoderne wäre dann – mit Hillard von Thiessen (S. 93-97) – im proto-staatlichen Raum eine unentschiedene Konkurrenz zwischen partikularen und universalistischen Normen anzunehmen, bevor Letztere die kulturelle Hegemonie erlangten. Um diese anregende Hypothese überprüfen zu können, hätte es freilich im Ganzen einer intensiveren Berücksichtigung der Frühen Neuzeit (und auch des Spätmittelalters) bedurft. Gerade hier bieten sich der historischen Korruptionsforschung daher nach wie vor lohnende Betätigungsfelder.

Anmerkungen:
1 Vgl. Wolfgang Schuller (Hrsg.), Korruption im Altertum, München 1982; Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000.
2 Etwa „Politische Korruption in historischer Perspektive“, Bielefeld, 20.-22.02.2008; Bericht, in: H-Soz-u-Kult, 19.03.2008 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2038> (09.08.2009). „Legitimation – Integration – Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne“, Darmstadt, 12.-14.03.2009; Bericht, in: H-Soz-u-Kult, 31.07.2009 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2712> (09.08.2009).
3 „Korruption in der Moderne“, Darmstadt, <http://www.korruptionsforschung.tu-darmstadt.de> (09.08.2009); „Politische Korruption in der Frühen Neuzeit“, Bielefeld, <http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/sfb584/project/phase3_b17.html> (09.08.2009).
4 Beispielsweise Arne Karsten / Hillard von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttingen 2006; Niels Grüne / Simona Slanicka (Hrsg.), Korruption in historischer Perspektive. Zugänge zu einer Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2010 [im Druck].
5 „Geld – Geschenke – Politik. Korruption in Europa seit dem 18. Jahrhundert“, Köln, 30.06.-01.07.2006; vgl. die Ankündigung <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=5665> (09.08.2009).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension