„Österreichs Weg nach EU-Europa war ein sehr langer. Er war daher auch anstrengend, zeitaufwendig und kräfteraubend“ (S. 224). Diese Sätze aus der Bilanz des hier vorzustellenden Buches charakterisieren die Erfahrungen bei der Lektüre dieses im Vorwort verschämt als „Büchlein“ bezeichneten, neuesten Werkes Michael Gehlers, der seit 2006 an der Stiftung Universität Hildesheim lehrt. Bei einem Umfang von 420 Seiten, davon ca. 230 Seiten Text, alles relativ klein gesetzt, kann von einem Büchlein nicht die Rede sein. Zu prüfen bleibt, ob der Anspruch, einen Reader bzw. eine Studienausgabe vorheriger, wesentlich voluminöserer Publikationen Gehlers zum selben Thema vorzulegen, eingelöst wurde, denn mit einem solchen Vorhaben wäre der Umfang noch vereinbar.
Keine Frage, Gehler ist als Experte bestens ausgewiesen. Das Literaturverzeichnis nennt einschließlich von ihm (mit-)herausgegebener Sammelbände sage und schreibe 51 Gehler-Titel zum Generalthema österreichische Außen- und EU-Integrationspolitik. Man versteht die Schwierigkeiten, aus einer derartigen Textmasse ein Studienbuch zusammenzustellen, das die Kapitel übersichtlich anordnen und den Fußnotenteil knapp halten will (Vorwort). Leider bleibt es bei der Ankündigung, woran ein Umstand Schuld trägt, den man als Überqualifizierung des Verfassers bezeichnen könnte.
Das Vorwort liefert nur vage Angaben, aus welchen „vorangegangene(n) einschlägige(n) Arbeiten und Editionen“ Gehler dieses sehr preiswerte Studienbuch zusammengestellt hat. Bleibt zu vermuten, dass es sich primär um Gehlers zweibändiges Werk „Der lange Weg nach Europa“ von 2002, um „Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik“ (2005, zwei Bände) sowie um „Vom Marshall-Plan bis zur EU“ (2006) handelt. Schon angesichts dieser mehrere Tausend Druckseiten umfassenden Monographien war ein Textabgleich unmöglich zu leisten, aber auch nicht notwendig, da gegen die Synopse umfangreicherer Texte und deren Aufbereitung für ein breiteres Leserpublikum nichts einzuwenden ist. Die Frage ist, ob daraus ein in sich geschlossenes (neues) Werk resultiert oder nicht.
Wer Gehlers Jahr für Jahr vorgelegte, zum Teil mehrbändige Monographien, seine langen Aufsätze sowie seine vielfältigen Herausgeber- und Beiträgerschaften verfolgt, kann sich eines gewissen Neidgefühls angesichts der Produktivität dieses Autors nicht enthalten. Man mag sich fragen, mit welchen Arbeitsmethoden Gehler seinen beeindruckenden Output erzielt. Der hier zu besprechende Band beantwortet diese Frage wenigstens teilweise.
Leider merkt man ihm nahezu auf jeder Seite an, dass er kompiliert und nicht aus einem Guss geschrieben wurde. Er ist in zehn Kapitel und eine Bilanz gegliedert, abgesehen von Kapitel 10 ohne Zwischenüberschriften. Die Themensprünge, fehlenden Übergänge und Wiederholungen mit inhaltlich parallelen, wenn nicht wortgleichen Formulierungen sind Legion. Das Zusammenfügen der Textbausteine erfolgte offenbar mit einer Eile, die dem Endprodukt nicht gut getan hat. Selbiges gilt für die nicht immer stringente Anordnung der geschilderten Ereignisse. Beispielhaft mögen die Seiten 93f. im Kapitel über die Integrationspolitik 1972-1986 stehen: Hier ist innerhalb weniger Absätze von der palästinenserfreundlichen Nahostpolitik des damaligen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, der Krise rund um die Kriegsvergangenheit des Bundespräsidenten Kurt Waldheim ab 1985 sowie anschließend vom Ölschock 1973 die Rede.
Derlei verwirrende, dem Leser jegliche Orientierung vorenthaltende Anordnungen des Stoffs sind beileibe kein Einzelfall. So beginnt auf Seite 143 der Abschnitt über „Österreich als Mitglied der Europäischen Union 1995-2008“ mit einer Zwischenüberschrift, die den Abschnitt von 1995 bis 1999 darzustellen vorgibt. Schon auf der nächsten Seite jedoch handelt Gehler von der 2004 erfolgten Osterweiterung der EU und deren ökonomischen Folgen für Österreich. Die Ausführungen und Graphiken auf den folgenden Seiten bringen Daten für die Zeit nach der Jahrtausendwende, ja sogar Prognosen für den Ausgang der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ab 2010! Sie sind in einem Unterkapitel über die Jahre 1995 bis 1999 schlechterdings deplatziert.
Von der Gliederung abgesehen, bleiben mancherlei Monita, die den Band durchziehen. Da ist etwa die Bildauswahl des reich illustrierten Buches: Sie wirkt mitunter willkürlich und redundant (Bundeskanzler Vranitzky ist gleich mit zwei Porträtfotos vertreten). Unbegreiflich sind die Abbildung auf Seite 73 unten (eine beliebige Straßenszene) sowie die intendierte Aussage der Karte auf Seite 23. Manche Illustrationen scheinen Gehlersche Familienfotos wiederzugeben. Hier zeigt sich erneut die Selbstverliebtheit des Autors, der nicht davor zurückschreckt, seine älteren Formulierungen nicht bloß in Fußnoten, sondern auch im Text nachzuweisen, was nach den Selbst-Zitierungen durch Klammerausdrücke (Michael Gehler) erfolgt (S. 161 und andere).
Das Literaturverzeichnis eines Studienbuches sollte eine rasche Orientierung ermöglichen, was bei 25 Seiten kaum möglich ist. Obendrein folgt Gehler der Unsitte, die Bibliographie in insgesamt sechs Blöcke (Dokumentationen, Bibliographien etc., Memoiren und zeitgenössische Publikationen, Monographien, Aufsätze usw.) zu zersplittern. Wer einen Titel sucht, muss sich vorab klar werden, in welche Kategorie dieser fallen könnte. Die beiden Bände von Gehlers „Der lange Weg nach Europa“ (Darstellung und Dokumente) finden sich, dieser Logik folgend, an zwei verschiedenen Stellen (S. 338 bzw. S. 341)! Nützlich sind hingegen das umfangreiche Linkverzeichnis, da dieses die Angebote der angeführten Webpages beschreibt, das Glossar, die bis Ende 2008 geführte Zeittafel sowie das Personenregister.
Die auf 100 Druckseiten präsentierten 75 Dokumente decken den gesamten Untersuchungszeitraum ab; im Text wird jeweils auf sie verwiesen. Überflüssig ist Dokument 44, das ohnedies im Darstellungsteil faksimiliert abgebildet ist. Einige Dokumente (etwa Nummer 71 und 75) weisen lediglich eine vage Quellenangabe auf und man fragt sich, wie Gehler an derartige interne Unterlagen aus den letzten Jahren herangekommen ist.
Hatte Gehler sein nahezu 1300 Seiten starkes Werk „Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik“ mit der Moskauer Deklaration von 1943 begonnen, so geht er hier sogar bis 1918 zurück. Die wesentlichen Stationen des Wegs der Alpenrepublik nach Europa werden in weitgehend chronologischer Reihenfolge abgehandelt: Teilnahme am Marshallplan, Staatsvertrag, Abzug der Besatzungsmächte und immerwährende Neutralität 1955, die jahrzehntelange EFTA-Mitgliedschaft und die frühen, halbherzigen und gescheiterten Aufnahmebemühungen in die damalige EWG bzw. EG. Die 1989 eingetretene Wende wird gewürdigt, das neuerliche Beitrittsansuchen dieses Jahres und die mühevollen, zeitweilig vor dem Scheitern stehenden Verhandlungen werden ebenso breit geschildert wie die Volksabstimmung über den Beitritt 1994, der Beitritt selbst sowie Österreichs manchmal als unbequem verstandene Rolle in der EU seither.
Nicht immer ist die Gewichtung der einzelnen Themen nachvollziehbar: Während die ergebnislosen Debatten über einen Beitritt der Türkei lang und breit referiert werden, finden die sogenannten EU-Sanktionen gegen Österreich 2000 sowie die Osterweiterung 2004 nur geringe Aufmerksamkeit. Dies alles wird ständig durchbrochen von innenpolitischen Einschüben, die zu lang und zu detailverliebt geraten sind: Den Unfalltod des EU-Kritikers Jörg Haider 2008 zu erwähnen ist in Ordnung, aber muss der Leser eines Readers unbedingt wissen, dass sich der Unfall „in der Ortschaft Lambichl in Kärnten“ ereignete, dass Haider ein „Überholmanöver mit seinem Dienstwagen“ durchführte und mit welcher Geschwindigkeit er unterwegs war (S. 218)? Überflüssig ist es ferner, bei Zitierung von Forschungsmeinungen ständig den beruflichen Hintergrund der Autoren zu erläutern.
Im Gegensatz zu den Monographien, welche die Bausteine dieser Kurzausgabe bilden, hält sich Gehler hier mit prononcierten Urteilen zurück; vor allem das letzte Kapitel gleicht mehr einer Aneinanderreihung von Fakten denn einer Analyse. Position bezieht Gehler insbesondere, wenn er den Politikern Unehrlichkeit im Umgang mit der obsolet werdenden Neutralität vorwirft und wenn er die hemmungslose Anti-EU-Agitation der auflagenstarken, von Gehler als „Asphalt“ titulierten Kronenzeitung anprangert. Gehlers Urteile sind durchgängig solide, wenngleich es Ausnahmen gibt, die unüberlegten Formulierungen geschuldet sind. Kann man wirklich sagen, „das Jahr 1918 mit verheerenden außenwirtschaftlichen und zollpolitischen Folgen“ sei für Österreich erst 1995 bzw. gar erst 2004 „überwunden“ gewesen (S. 229)? Im Widerspruch dazu formuliert Gehler als Resümee der letzten Jahre: „Der Kreis sollte sich ausgehend von 1918 im Jahre 2008 mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise ante portas schließen“ (S. 148). Ohne Erklärung bleibt die Feststellung, die auf Mittel- und Osteuropa orientierte Wirtschaft der Alpenrepublik sei nach der Jahrtausendwende der auf Westeuropa zentrierten Politik „vollends enteilt“ (S. 229).
Günther Bischof hat in einer kritischen Rezension von Gehlers „Österreichs Außenpolitik“ dem Verfasser vorgehalten, sein Monsterwerk gleiche der „Veröffentlichung eines ersten Entwurfes“ (HZ 284, 2007, S. 800). Denselben Eindruck hat man auch hier: Uneinheitliche Zitierweisen, nicht aufgeschlüsselte Abkürzungen (z.B. S. 145f.), die permanente Verwechslung von Prozent und Prozentpunkten (z.B. S. 143), ermüdende Wiederholungen, sprachliche Unebenheiten, Pleonasmen usw. sind untrügliche Indizien für die Eile, mit der das Buch erarbeitet wurde. Offenkundig ist es leichter, einen Aufsatz zum Buch zu erweitern als aus Tausenden Textseiten ein kompaktes Studienbuch zusammenzustellen. Jedenfalls erfordert dies mehr Zeit und Sorgfalt, als hier aufgewendet wurde. Aus Bischofs Kritik, Gehler produziere Quantität zu Lasten der Qualität, hat Letzterer keine Konsequenzen gezogen. Daher sei erneut betont: Weniger kann manchmal mehr sein. Ein Studienbuch zu schreiben ist ein anspruchsvolles Unterfangen und sollte nicht das Nebenprodukt vorheriger Arbeiten sein, um die ohnedies kilometerlange Publikationsliste seines Verfassers auszuweiten.