S. Paletschek u.a. (Hrsg.): The Gender of Memory

Cover
Titel
The Gender of Memory. Cultures of Remembrance in Nineteenth- and Twentieth-Century Europe


Herausgeber
Paletschek, Sylvia; Schraut, Sylvia
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Mühlhäuser, Hamburger Institut für Sozialforschung

In nationalen Narrativen erscheinen die politischen Akteure zumeist ausschließlich als Männer oder als quasi geschlechtslos. Frauen kommt demgegenüber eine symbolische Rolle zu. Sie sind kein Teil der „national agency“, sondern stehen für die „imagined community“ (Benedict Anderson).1 Auch die historische Forschung hat die Kategorie Geschlecht lange „übersehen“, nahm man doch als gegeben an, dass historische Akteure in erster Linie Männer seien. Erst seit den 1980er-Jahren haben wissenschaftliche Arbeiten die politischen Aktivitäten von Frauen, ihre Biografien und Erinnerungserzählungen in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Im Ergebnis wurde erkennbar: Historische Darstellungen, die die Positionen und Handlungsräume von Frauen vernachlässigen, bleiben verzerrt und führen nicht selten zu fehlerhaften Deutungen der historischen Situation. Geschlechtergeschichtliche Forschungen haben darüber hinaus gezeigt, dass nationale Traditionsbildungen – und die mit ihnen verknüpften Unterscheidungen in männliche Stärke und Heldentum einerseits, weibliche Schwäche und Schutzbedürftigkeit andererseits – keineswegs natürlich und ebenso wenig universell sind.2

Der Buchtitel „The Gender of Memory“ lässt erwarten, es handele sich um einen Band, der sich damit auseinandersetzt, wie die Vorstellungen von der Natur „des Männlichen“ und „des Weiblichen“ Erinnerungskulturen strukturieren, und zudem danach fragt, welche geschlechtsspezifischen Räume und sprachlichen Voraussetzungen für individuelle Erinnerungserzählungen von Männern und Frauen gegeben sind.3 Der Fokus des Sammelbandes von Sylvia Paletschek und Sylvia Schraut liegt stattdessen aber darauf, Frauen und die Repräsentation des Weiblichen in Erinnerungskulturen sichtbar zu machen. Dabei spielt die Frage, von welchen (konkurrierenden) Männlichkeitsdeutungen die Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken geprägt sind, oder welche männlichen Erinnerungen verdrängt und verleugnet werden, keine Rolle.

Die Beiträge gehen auf die Tagung „Gendering Memory“ (Mannheim 2005) zurück, auf der die zentralen Fragestellungen entwickelt und diskutiert wurden (S. 7): Wie muss eine Erinnerungskultur aussehen, die Gender als Analysekategorie von historischen Ereignissen berücksichtigt? Welche Rolle spielt die Erinnerung an historische Geschehnisse für die politische Partizipation von Frauen? Und welche Veränderungen sind nötig, damit der Kanon der Gedächtniskultur die Erfahrungen und Sichtweisen von Frauen berücksichtigt?

Generell sind diese Fragen nicht neu. Gleichwohl ermöglicht der Band eine andere, vielschichtige Perspektive auf das Thema, indem er zwölf Beiträge zu ganz unterschiedlichen europäischen Ländern zusammenbringt. Diese sind thematisch in drei Kapitel gegliedert: „Women and Political Allegories in Political Cultures of Memory“; „Violence, War and Gender – Memory and Remembrance in Family and State“; „Concepts of Gendered Memory“.

Auf welche Weise die Zusammenstellung neue Korrespondenzen ermöglicht, zeigt sich zum Beispiel beim Vergleich der Texte zu den nationalen Ausformungen der Allegorie der Mutter. In seinem Beitrag „Mother Bulgaria, Mother Russia and their Sisters: Female Allegories between Nation and Religion as ‚Histoire Croisée‘?“ untersucht Stefan Rohdewald literarische Texte aus Bulgarien, Serbien, Russland und der Ukraine. Dabei zeigt er, wie die Allegorie der Mutter im Russland des 18. Jahrhunderts durch die europäische Renaissance inspiriert wurde, während sie in Bulgarien erst im 19. Jahrhundert auftauchte, und zwar im Zuge der Idee einer „imagined community of national mothers“. Überzeugend demonstriert Rohdewald die Veränderungen der nationalen und religiösen Zuschreibungen, die mit politischen Umbrüchen einhergingen. So diente die Figur im sowjetischen Russland metonymisch dazu, die Verbindung zwischen dem traditionellen nationalen Bewusstsein und der neuen kollektiven sowjetischen Identität herzustellen. Demgegenüber bestand die Funktion von „Mutter Bulgarien“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darin, die Verteidigung und Expansion des nationalen Territoriums zu verbalisieren und die Söhne zu ehren, die für sie kämpften. Nach 1989 wurde die Rede von „Mutter Russland“ ideologisch neu aufgeladen, um gesellschaftliche Einheit zu erzeugen, während „Mutter Bulgarien“ ihre gemeinschaftsstiftende Bedeutung verlor.

Auch der Beitrag „Modern yet Modest: Woman Allegories in Turkish Modernization“ von Pinar M. Yelsali Parmaksiz nimmt die Frage nach der Figur der Mutter in der nationalen Rhetorik auf, jedoch anhand von völlig anderem Material. Parmaksiz untersucht die Biografien und öffentlichen Inszenierungen von Latife Ussaki, der Ehefrau von Mustafa Kemal (Atatürk), und Mevhibe Inönü, der Ehefrau des zweiten Präsidenten der Türkischen Republik Ismet Inönü. In verschiedenen Sequenzen zeigt die Autorin, dass beide Frauen als emanzipierte und beruflich erfolgreiche Rollenmodelle dargestellt wurden, um die Modernität der neuen Republik zu symbolisieren. Gleichzeitig fürchtete man aber, Frauen würden im Zuge dieser Modernisierung maskulinisiert und könnten ihre weiblichen Pflichten vernachlässigen. Vor diesem Hintergrund, so Parmaksiz, wurden Mutterschaft und Hausarbeit in der Türkei in den 1930er- und 1940er-Jahren immer gezielter als nationale Pflichten glorifiziert. Das Bild der „modernen Mutter“ konnte dabei unterschiedliche Formen annehmen.

Mit solchen in der deutschsprachigen Forschung weitgehend unbekannten Perspektiven im Hinterkopf werden auch beim Lesen der eher traditionell anmutenden Beiträge des Bandes – wie „Marginal Figure in the Nation: Gendered National Memories in Late Nineteenth-Century Western European Metropoles“ von Helke Rausch oder „‚Deutschland, bleiche Mutter’. Allegories of Germany in Post-Nazi Cinema“ von Guido Vitiello – neue Fragen nach der vergleichenden Geschichte und den internationalen Perspektiven aufgeworfen. Inwiefern haben sich weibliche Allegorien der Nation in West- und Osteuropa gemeinsam oder in Abgrenzung voneinander entwickelt? Auf welche Weise gleichen oder ähneln sich die Inszenierungen von Frauenfiguren, gerade in historischen Umbruchphasen?

Um den Blick auf die Kontinuitäten und Brüche zu schärfen, wünscht man sich als Leserin zu Beginn des Bandes eine grundlegende Einführung in die begrifflichen Konzeptionen von weiblicher Nation und nationaler Weiblichkeit. Die Einleitung der Herausgeberinnen („Gender and Memory Culture in Europe – female representations in historical perspective“) konzentriert sich stattdessen auf die Begriffe der Erinnerungsforschung – kollektives, kommunikatives und kulturelles Gedächtnis; hegemoniale und marginale Erinnerungskulturen. Auch die eher fragmentarischen methodischen Erwägungen am Schluss des Bandes können dieses Defizit nicht ausgleichen.

Insgesamt zeigt der Band, wie erhellend und notwendig eine Reflexion von Erinnerungskulturen unter Gender-Aspekten ist. Den Band auf Englisch zu veröffentlichen und ihn auf diese Weise einem europäischen Publikum zugänglich zu machen ist lohnend und verspricht neue Diskussionen. Allerdings wäre ein genaueres Lektorat förderlich gewesen – die „denglischen“ Formulierungen sind mitunter etwas irritierend.

Anmerkungen:
1 Anne McClintock, „No longer in a Future Heaven“. Nationalism, Gender, and Race, in: Geoff Eley / Ronald Grigor (Hrsg.), Becoming National. A Reader, New York 1996, S. 240-284.
2 Vgl. etwa die zahlreichen Arbeiten zu Frauen im politischen Widerstand, z.B. Claudia Lenz, Haushaltspflicht und Widerstand. Erzählungen norwegischer Frauen über die deutsche Besatzung 1940–1945 im Lichte nationaler Vergangenheitskonstruktionen, Tübingen 2003 (rezensiert von Annette Storeide: in: H-Soz-u-Kult, 20.07.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-051>.
3 Zu den unterschiedlichen Ebenen und Perspektiven vgl. Insa Eschebach / Sigrid Jacobeit / Silke Wenk (Hrsg.), Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt am Main 2002 (rezensiert von Jan-Holger Kirsch: in: H-Soz-u-Kult, 14.07.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-095>).