C. Boyer (Hrsg.): Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen

Titel
Zur Physiognomie sozialistischer Wirtschaftsreformen. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR und Jugoslawien im Vergleich


Herausgeber
Boyer, Christoph
Reihe
Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte (Band 14)
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dierk Hoffmann, Institut für Zeitgeschichte München - Berlin, Abteilung Berlin

Auf den ersten Blick scheinen vergleichende Studien zur Entwicklung der Planwirtschaft im ehemaligen Ostblock nicht sonderlich Erfolg versprechend zu sein, da letztlich das privatkapitalistische Modell als Sieger aus dem Systemwettstreit hervorgegangen ist, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa mit weitreichenden globalen Folgen wesentlich beeinflusst hat. Somit scheint auch die Frage nach der Reformfähigkeit von Zentralverwaltungswirtschaften vordergründig falsch gestellt zu sein, denn Reform kann angesichts einer Ex-post-Betrachtung letztlich nur eine Transformation der planwirtschaftlichen in marktwirtschaftliche Systeme beinhalten. Dass eine kritische Untersuchung sowohl notwendig als auch erkenntnisfördernd ist, beweist der von Christoph Boyer vorgelegte Sammelband, der hier kurz vorgestellt werden soll.

Für das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte hatte Boyer bereits ein Jahr zuvor einen ersten Band herausgegeben, der die Wirtschaftsreformen in der DDR und der CSSR während der 1960er-Jahre zum Inhalt hatte.1 Der im ersten Band zunächst vorgenommene Zweiländervergleich wurde nunmehr erweitert um die Sowjetunion sowie weitere Länder Ostmittel- und Südosteuropas. Einleitend präsentiert Boyer die Fragestellungen sowie eine erste Typologisierung der staatssozialistischen Länder des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Im Mittelpunkt steht selbstredend die Ökonomie, wobei politische, soziale und kulturelle Zusammenhänge im Bedarfsfall deutlich gemacht werden sollen, wie Boyer betont. Dabei geht es ihm jedoch nicht nur darum, Möglichkeiten und Grenzen der für die Wirtschaftssteuerung notwendigen Verwaltungsapparate zu umreißen, sondern auch darum, das Wechselspiel von Herrschaft und Gesellschaft zu beleuchten. Darüber hinaus unternimmt Boyer den Versuch, eine Typologie der Reformverläufe in den einzelnen staatssozialistischen Systemen zu entwerfen, um die oftmals eingeklagte komparative Analyse voranzutreiben. Dabei fasst er die Ergebnisse der Einzelbeiträge teilweise zusammen und bündelt sie so in einem stark systematisierenden Überblick, um auch den Zusammenhang von Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen deutlich werden zu lassen. Dieser einleitende Essay, den er in Teilen erstmals an anderer Stelle publiziert hatte2, ist in seinem Anspruch recht ambitioniert und schlägt erste Schneisen in das Dickicht der Geschichte der osteuropäischen Planwirtschaften.

Der Sammelband besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil widmet sich jeder der insgesamt sieben Beiträge einem Land im sowjetischen Herrschaftsbereich. Jörg Baberowski analysiert die Neue Ökonomische Politik in der Sowjetunion Anfang der 1920er-Jahre, die auf den ersten Blick eine Abkehr vom Kriegskommunismus bedeutete. Dagegen untersucht Stefan Plaggenborg die Reformen in der Sowjetunion nach Stalins Tod 1953. Während Jacek Kochanowicz die Wirtschaftsreformen in Polen eingehend betrachtet, fragt Christoph Boyer in seinem Beitrag nach den Spezifika des tschechoslowakischen Reformprozesses. Im Mittelpunkt der Beiträge von János Mátyás Kovács und André Steiner stehen die Reformvorhaben in Ungarn bzw. der DDR. Als letztes präsentiert Zoran Pokrovac die sozialistischen Reformen in Jugoslawien. Während in diesem ersten Teil Länderberichte aufgenommen wurden, die einen informativen Überblick bieten, geht es im zweiten Abschnitt des Bandes um so genannte Vertiefungen, bei denen es sich um empirisch gestützte Detailstudien zur DDR sowie zu drei ostmitteleuropäischen Ländern (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn) handelt. Dabei werden bis auf die Tschechoslowakei zu jedem Land jeweils zwei Beiträge vorgelegt. Maciej Tyminski untersucht die Arbeiterräte während der polnischen Unruhen 1956/58; Helena Flam stellt die so genannten Gierek Reformen vor. Jaroslav Kucera analysiert die tschechoslowakischen Reformen und den RGW in den sechziger Jahren. Zsuzsanna Varga und Maria Csanádi geben mit ihren Beiträgen detaillierte Einblicke in den Ablauf des ungarischen Reformmodells. Im letzten Teilabschnitt beschäftigt sich Friederike Sattler mit den Folgen des novellierten Vertragsgesetzes vom Februar 1965 für die DDR-Betriebe und Peter Hübner geht der Frage nach, inwieweit es einen Zielkonflikt (Stichwort: „Ökonomisierung“ der Sozialpolitik) im ostdeutschen Reformprojekt gegeben hat.

Insgesamt handelt es sich um einen sehr gelungenen Band, der Anregungen für weitere vergleichende Studien bietet. So könnte etwa in Zukunft der enge Zusammenhang von Wirtschaftsreform und Stabilität der kommunistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa weiter vertiefend untersucht werden. Boyer, aber auch andere Autoren verweisen zu Recht darauf, dass die Hegemonialparteien die wirtschaftliche Liberalisierung stoppten, als ihr alleiniger Herrschaftsanspruch in Frage gestellt zu werden schien. Daraus ließe sich die Frage nach der Ernsthaftigkeit der Reformvorhaben ableiten. Dienten die Wirtschaftsreformen also nur als Spielwiese für eine neue, junge, nachrückende Generation von Parteitechnokraten, die auf diese Weise für die Ziele der jeweils herrschenden Partei mobilisiert werden konnte? Wie sieht das Sozialprofil der Wirtschaftsreformer aus? Welche generationellen Erfahrungen brachten sie mit? Gab es hier Gemeinsamkeiten oder Unterschieden zwischen den RGW-Staaten? Als letztes sei noch die Volksrepublik China genannt, welche den sowjetischen Führungsanspruch innerhalb der kommunistischen Bewegungen ab ungefähr Mitte der 1950er-Jahre streitig machte. Hatte dieser eskalierende Dualismus zwischen den beiden kommunistischen Supermächten Auswirkungen auf die Reformbestrebungen in Osteuropa? So nahm beispielsweise die SED-Führung 1956 ganz gezielt Fühlung auf zur chinesischen KP, um auch Eigenständigkeit gegenüber der KPdSU (B) zu demonstrieren. Diese Fragen zeigen, wie wichtig es ist, die Forschungen zu einer vergleichenden Betrachtung der staatssozialistischen Systeme und ihrer Reformbestrebungen weiter voranzutreiben. Der hier vorliegende Sammelband ist ein erster wichtiger Beitrag dazu.

Anmerkungen:
1 Boyer, Christoph (Hrsg.), Sozialistische Wirtschaftsreformen. Tschechoslowakei und DDR im Vergleich, Frankfurt am Main 2006. Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Marcel Boldorf, 14.11.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-127>.
2 Boyer, Christoph, Sozialgeschichte der Arbeiterschaft und staatssozialistische Entwicklungspfade: konzeptionelle Überlegungen und eine Erklärungsskizze, in: Hübner, Peter; Kleßmann, Christoph; Tenfelde, Klaus (Hrsg.), Arbeiter im Staatssozialismus – Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln 2005, S. 71-86. Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Jan C. Behrends, 16.02.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-107>.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension