P. Hübner u.a. (Hgg.): Arbeiter im Staatssozialismus

Cover
Titel
Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit


Herausgeber
Hübner, Peter; Kleßmann, Christoph; Tenfelde, Klaus
Reihe
Zeithistorische Studien 31
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 57,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Wissenschaftszentrum Berlin

Fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa mehren sich die Anzeichen, dass die zeitgeschichtliche Forschung die bisher dominanten nationalen Perspektiven zu erweitern versucht. Ein Indikator dieses Prozesses ist die Kooperation zwischen westlichen Forschern und ihren ostmitteleuropäischen Kollegen und die beginnende Integration der lange isolierten DDR-Forschung in europäische Zusammenhänge. Ein Resultat solcher Bemühungen ist der vorliegende Sammelband, der eine Tagung des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung in Kooperation mit dem Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum dokumentiert. Die drei Herausgeber hatten im September 2003 Forschende aus unterschiedlichen Ländern gebeten, in drei Sektionen ihre Ergebnisse zur Arbeitergeschichte in der kommunistischen Diktatur zu präsentieren. Unter den drei Rubriken „‘Arbeiterstaat’ als politische Konstruktion und Inszenierung“, „Arbeitsbeziehungen, Arbeitsverhältnisse, Arbeiterexistenzen“ und „Arbeiter in sozialen und politischen Konfliktkonstellationen“ finden sich Beiträge zur Geschichte der Arbeiterschaft in der UdSSR, Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn und der DDR.

Der erste Teil widmet sich kulturhistorischen Perspektiven auf die Arbeitergeschichte im Kommunismus; es dreht sich um den Topos des „Arbeiterstaates“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Nach einer Einleitung Peter Hübners widmet sich Dietrich Beyrau der sowjetischen Vorbildgesellschaft, deren Entwicklung von „bekennendem Terror“ bis zur poststalinistischen Behäbigkeit nachgezeichnet wird. Im Anschluss bemüht sich Christoph Boyer, den Nutzen sozialwissenschaftlicher Terminologie („Entwicklungspfad“) zur Erklärung verschiedener Typen kommunistischer Herrschaft plausibel zu machen. In den folgenden sechs Beiträgen erläutern die Autoren am Beispiel verschiedener Gesellschaften die Konflikte, die sich durch die Spannung zwischen parteistaatlicher Inszenierung und gesellschaftlichen Realitäten aufbauten. Hervorzuheben ist insbesondere der Aufsatz von Dragoş Petruscu, dem es in einem Überblick gelingt, das ambivalente Verhältnis der rumänischen Arbeiter zu „ihrem“ Staat zu beleuchten.

Jennifer Schevardo führt in den zweiten, stärker an der klassischen Sozialgeschichte orientierten Teil des Bandes ein. Die Beiträge kreisen hier um Fragen der inneren Differenzierung der Arbeiterschaft, der Entstehung sozialer Subsysteme, des Alltags im sozialistischen Betrieb sowie der Einordnung der Arbeitergeschichte unter staatssozialistischer Herrschaft in die Geschichte der Arbeiterbewegung insgesamt. In einem wirtschaftshistorischen Beitrag vergleicht André Steiner die Einkommensentwicklung in der ČSSR, der DDR, Ungarn, Polen und der UdSSR. Trotz der Probleme eines quantifizierenden Vergleichs entsteht ein aussagekräftiges Bild, das Steiner dadurch ergänzt, dass er die für den Ostblock errechneten Daten mit der Wirtschaft Österreichs kontrastiert. Peter Hübner kann am Beispiel der DDR und Polens zeigen, wie nationale Traditionen und sowjetische Modelle miteinander interagierten und jeweils spezifische Wohlfahrtsmodelle hervorbrachten. Die Beiträge von Annette Schuhmann, Małgorzata Mazurek und József Ö. Kovács analysieren Besonderheiten der Kulturarbeit und des Arbeiteralltags in der DDR, Polen und in Ungarn. Aus der Mikroperspektive der Warschauer Rosa-Luxemburg-Werke gelingt es Mazurek, eindrucksvoll die Spezifika der Entfremdung im sozialistischen Betrieb zu zeigen, während Kovács’ Beitrag verdeutlicht, wie fruchtbar der Konzepttransfer aus der DDR-Forschung – hier der alltagsgeschichtlichen Fragestellungen, wie sie Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger entwickelt haben – in den ostmitteleuropäischen Kontext ist.

Der dritte und abschließende Teil des Bandes beschäftigt sich mit sozialen und politischen Konflikten unter kommunistischer Herrschaft. Helke Stadtland beschreibt frühe Konflikte zwischen Arbeitern und sowjetischer Besatzungsmacht in Ostdeutschland, Renate Hürtgen reflektiert die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit im DDR-Betrieb und Bernd Gehrke erklärt das schwierige Verhältnis von Opposition und Arbeiterschaft im SED-Staat. Jędrzej Chumiński und Krzysztof Ruchniewicz liefern einen Überblick zu Arbeitern und Opposition im kommunistischen Polen. Den Band beschließen Beiträge von Mark Pittaway über Arbeiter im Ungarn der Kadar-Zeit und von Peter Heumos über das Verhalten von tschechischen Arbeitern im Konflikt mit dem Parteistaat. Die durchweg fundierten Studien dieses Abschnitts weisen auf die Spezifika von Arbeitskonflikten im Kommunismus hin. Während das traditionelle Kampfinstrument des Streiks immer mehr in den Hintergrund trat, entwickelten sich auf betrieblicher Ebene neue Formen des Arrangement und der Konfliktvermeidung. Individuelle Strategien und der Protest kleiner Kollektive wie der Brigaden lassen sich insbesondere in der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei nachweisen. Zugleich verweisen Chumiński und Ruchniewicz auf die ungezügelte Gewalt, die der Parteistaat gegen arbeiterliche Massenproteste einzusetzen bereit war. Die Danziger Streiks von 1970 wurden mit einer militärischen Großaktion niedergeschlagen, die den Einsatz von 1.700 Panzern beinhaltete (S. 448). Der Einsatz des Militärs gegen unbewaffnete Arbeiter gehört ebenso zur Geschichte des Kommunismus in Europa wie die informellen Einigungen und der informelle Bummelstreik in bleierner Zeit.

Der vorliegende Band ist ein weiterer Schritt in Richtung einer vergleichenden Geschichte kommunistischer Diktaturen. Die Sammlung zeigt, wie produktiv der Dialog zwischen Historikern aus Deutschland und Ostmitteleuropa sein kann. Für die DDR-Forschung wie für die Zeitgeschichte allgemein gilt es nun, den einmal beschrittenen Weg des Vergleiches konsequent weiter zu gehen. Noch stehen viele Ergebnisse unvermittelt nebeneinander, noch sind Fragen des systematischen Vergleichs größtenteils unbeantwortet. Die sich abzeichnende Tendenz, die UdSSR aus einer Geschichte des Kommunismus in Europa auszuklammern, ist problematisch. Gerade die zahlreichen Verflechtungen zwischen der Vorbildgesellschaft Sowjetunion und den Peripherien ihres Imperiums sollten in den Blick zukünftiger Forschung genommen werden. Neben der Arbeitergeschichte gilt es, auch andere gesellschaftliche Felder in den Blick zu nehmen; die Geschichte des sowjetischen Imperiums bietet vielfältige Möglichkeiten, zu vergleichen, Transferprozesse zu erforschen und – trotz der zentralen Rolle der Nationalstaaten – eine Verflechtungsgeschichte zu schreiben.

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