A. Franzmann u.a. (Hrsg.): Zwischen Idee und Zweckorientierung

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Titel
Zwischen Idee und Zweckorientierung. Vorbilder und Motive von Hochschulreformen seit 1945


Herausgeber
Franzmann, Andreas; Wolbring, Barbara
Erschienen
Berlin 2007: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Lambrecht, Technische Universität Chemnitz

Die vorliegende Aufsatzsammlung ist das Ergebnis einer Tagung, die im März 2006 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main stattfand und vom Sonderforschungsbereich 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ ausgerichtet wurde. Ziel dieser Tagung war es, „über die Darstellung der aufeinander folgenden Reformansätze und Reformen hinaus in einem diskursgeschichtlichen Ansatz nicht allein nach den Krisendiagnosen und Reformvorschlägen, sondern nach den dahinter sichtbar werdenden Leitvorstellungen von der Institution Universität und ihrer Aufgabenstellung zu fragen“.1

In der Einleitung des Bandes begründen Andreas Franzmann und Barbara Wolbring die Notwendigkeit einer tiefergehenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Hochschulreformphasen nach 1945 damit, dass diese bisher kaum systematisch untersucht worden seien. Universitätsgeschichten oder Teilstudien hätten dies bisher nur für Ausschnitte geleistet. Außerdem handle es sich bei der vorhandenen Literatur, insbesondere für die Zeit nach den 1950er-Jahren, eher um Stellungnahmen innerhalb der jeweiligen Hochschuldiskussionen als um deren Analyse. Auch die vorliegende Publikation wollen Franzmann und Wolbring nur als „erste Annäherung“ an die Thematik verstanden wissen, da sie weder eine Gesamtdarstellung noch auch nur eine Skizze des Reformprozesses sein solle, sondern den „Hochschulreformdiskurs selbst facettenhaft in den Blick“ nehme (S. 9).

Der Tagungsband umfasst elf Artikel, die sich auf die drei klassischen Phasen deutscher Hochschulgeschichte nach 1945 verteilen: Je vier Beiträge befassen sich mit dem Wiederaufbau des Hochschulwesens in der Nachkriegszeit und der Hochschulexpansion der 1960er-Jahre. Drei weitere Analysen setzen sich mit der heutigen Hochschulreformpolitik auseinander. Da die Tagung auch das Ziel verfolgte, den interdisziplinären Dialog zu fördern, handelt es sich bei ihnen um soziologische Fallanalysen, während die acht Untersuchungen zu früheren Reformphasen aus historischer Perspektive erfolgen.

In der ersten Rubrik – „Orientierung in Trümmern“ – setzt sich Notker Hammerstein mit der „nachträglichen Kollektivschuld der Universitäten“ (S. 30) auseinander. Einer gängigen Meinung zufolge hätten diese den Nationalsozialismus begünstigt und auch nach dem Krieg eine grundlegende Hochschulreform zu verhindern gewusst, indem nur die offensichtlichen nationalsozialistischen Eingriffe rückgängig gemacht worden seien, die Universitäten sonst aber überwiegend personelle und strukturelle Kontinuität gewahrt hätten. Dieser Argumentation begegnet Hammerstein mit dem Beispiel Frankfurter Professoren, die „für das damalige Verständnis unbelastet“ gewesen seien und die eine „Scham über den tiefen Fall Deutschlands [...] beseelte“ (S. 33), als sie in ihren Reformvorstellungen unmittelbar nach dem Krieg „Menschenwürde, Freiheit und Demokratie, Toleranz und Völkerverständigung [...] als Leitideen postuliert[en]“ (S. 27). Die Gründe für weitgehend ausgebliebene Reformen nach 1945 seien, so Hammerstein, nicht allein in dem Beharrungswillen der Ordinarien zu suchen, die um ihre herausgehobene Stellung besorgt gewesen seien, sondern in einer generellen Restauration älterer Werte – auf die sich auch reformwillige Ordinarien rückbesonnen hätten –, in der katastrophalen materiellen und personellen Situation der Universitäten sowie in einer Gesellschaft, die sich durch Kriegseinwirkungen und Besatzung in einem rapiden Wandel befunden habe.

Die zeitgenössische Gegenposition zur Rolle der Ordinarien untersucht Barbara Wolbring in ihrem Aufsatz über Artikel zum Hochschulwesen, die während der amerikanischen Besatzung in den politisch linksorientierten „Frankfurter Heften“ und in „Der Ruf“ erschienen. Dort forderten Protagonisten wie Eugen Kogon und Alfred Andersch dazu auf, die Universität grundsätzlich neu zu denken, zumal sie den endgültigen Bruch mit ihrer Tradition selbst vollzogen habe, indem sie sich dem Nationalsozialismus gegenüber nicht widerständisch gewesen sei.

Eine interessante Zusammenstellung bieten die Beiträge im zweiten Abschnitt („Expansion und Planungseuphorie im ‚modernen Deutschland’“). Nicht das klassische Thema der gesamtgesellschaftlichen Bildungsdiskussion um die Antipoden Georg Picht, Ralf Dahrendorf und die so genannten „68er“ mit der daraus resultierenden Politik wird wiederaufbereitet. Vielmehr versuchen die Autoren, über praktische Umsetzungen der damaligen Ideen einen neuen Zugang zu ihnen zu finden, das heißt über Hochschulneugründungen, deren Architektur, die Entwicklung einzelner Fachdisziplinen (hier: Wirtschaftswissenschaften, Beitrag von Jan-Otmar Hesse) oder den bereits 1957 entstandenen Wissenschaftsrat (Beitrag von Stefanie Lechner).

Wilfried Rudloff befasst sich dabei mit den unterschiedlichen Philosophien, die hinter den Universitätsgründungen in Bochum, Bielefeld und Konstanz, Kassel sowie Bremen standen. Sie reichten von einer angestrebten „Versöhnung“ zwischen Ingenieur- und Sozialwissenschaften (Bochum) über reine Forschungsuniversitäten (Bielefeld/Konstanz) und ihnen entgegengesetzte Einrichtungen mit vorwiegender Ausbildungsfunktion, die bisher ohne Vorbild waren (Gesamthochschule Kassel) bis hin zu „politisierte[n] Gründung[en]“ (S. 97), wie etwa in Bremen.

Thematisch zugehörig ist der Aufsatz von Oliver Schmidtke über die bauliche Ausführung der Universitäten Bochum und Bielefeld, die er als symptomatisch für „gestalterisches Scheitern“ des Hochschulbaus der 1960er-Jahre ansieht, weil dieser „wenig angemessen“ sei „für die Praxis, die sich in der entworfenen Architektur beherbergen soll“ (S. 174). Als Gründe nennt er das damals moderne Denkschema, Wissenschaft auf technisches Handeln zu reduzieren und die Organisation wissenschaftlicher Einrichtungen denen von Verwaltungs- und Industriebetrieben anzupassen.

Die den Tagungsband abschließende soziologische Untersuchung der aktuellen Reformbestrebungen („Wissenschaftsmanagement in der Bologna-Hochschule“) steht vorwiegend im Zeichen der Textanalyse. Axel Jansen befasst sich mit einem „offenen Brief“ aus dem Jahr 2005, in dem deutsche Stipendiaten, die in den USA forschten, von den politisch Verantwortlichen in ihrem Heimatland bessere Rückkehrbedingungen forderten. Jansen kommt zu dem Schluss, dass es sich hier um eine „Eliteninszenierung“ handele (S. 185), die dazu diene, „die ‚Reformer’ in Deutschland mit einer neuen Ladung öffentlichkeitswirksamer Munition zu versorgen“ (S. 192).

Hart ins Gericht mit den Reformen gehen auch Peter Münte und Andreas Franzmann. So erkennen sie in der von einem Befürworter behaupteten Opposition zwischen der „veralteten“ Idee der Universität als „Gelehrtenrepublik“ und der „modernen“ Idee eines „Dienstleistungsunternehmens“ eine „modernistische Pseudorationalisierung [...], die aus einem mangelnden Bewußtsein der Modernität des alten Universitätsmodells heraus betrieben wird“ (S. 226). Dies diene nur dem Ziel, die Reformen als Modernisierungsleistung zu inszenieren, ohne sie vor der Tradition legitimieren zu müssen.

Sascha Liebermann und Thomas Loer schließlich weisen den Wissenschaftlern selbst eine erhebliche Mitschuld an der beinahe widerstandslosen Durchsetzung der Reorganisationsmaßnahmen zu. Die Wissenschaftler würden sich nicht in konstruktiver Kritik zusammenfinden, sondern betrieben durch „vorauseilenden Gehorsam“ oder eine Haltung des „Wir können ja sowieso nichts machen“ (S. 196) die „Selbstentmachtung der Wissenschaft“ (S. 198).

Resümierend lässt sich feststellen, dass die Lektüre dieses Tagungsbandes lohnend und gewinnbringend ist, da er sich interdisziplinär und kritisch mit dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen „Mainstream“ auseinandersetzt sowie zum Teil innovative Forschungsansätze wählt: Für die Nachkriegszeit wird aufgezeigt, dass nicht alle Ordinarien nur beharrend, sondern zumindest einige von ihnen durchaus reformwillig waren, wenngleich sie mangels adäquat erscheinender Vorbilder auf Traditionen zurückgriffen, die nicht mehr zeitgemäß waren. Die 1960er-Jahre werden nicht unter dem gängigen Blickwinkel der gesamtgesellschaftlichen Bildungsdiskussion betrachtet, sondern anhand konkreter Resultate analysiert. Schließlich wird in der letzten Rubrik die aktuell so häufig geäußerte Forderung das deutsche Hochschulwesen nach amerikanischem Vorbild unter ökonomischen Gesichtspunkten zu „modernisieren“, skeptisch erörtert.

In diesem Zusammenhang wäre der kritische Einwand möglich, dass im letzten Abschnitt keine Reformbefürworter zu Wort kommen, was dem Band den Vorwurf einhandeln könnte, einmal mehr nur die Traditionsverhaftung der Universitäten widerzuspiegeln. Wünschenswert wäre auch die Einbeziehung der drei Hochschulreformen in der DDR gewesen, um das Bild der Hochschulreformversuche nach 1945 abzurunden.

Anmerkung:
1 Siehe das Konferenzprogramm unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4949> und den Bericht von Jennifer Stähle: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1109>.

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