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Titel
Warum die Deutschen?. Antisemitismus, Nationalsozialismus, Genozid


Autor(en)
Burrin, Philippe
Erschienen
Anzahl Seiten
140 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Meyer zu Uptrup, Arbeitsstelle für Gedenkstättenpädagogik, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Potsdam

In drei Vorlesungen ging der Genfer Historiker der Frage nach, warum gerade in Deutschland der Antisemitismus zu der extremsten Form der Vernichtung der Juden führte. Nachdem von Daniel J. Goldhagen diese Frage in öffentlichkeitswirksamer Weise gestellt und insgesamt so wenig überzeugend beantwortet worden war, ist der Diskussionsstand nach wie vor unbefriedigend. Burrin nähert sich in drei Schritten einer Antwort, indem er zunächst nach der Besonderheit des deutschen Antisemitismus fragt, dann nach dem Antisemitismus der Nationalsozialisten und zuletzt nach den Gründen für die Radikalisierung der NS-Politik.

Unzweifelhaft richtig ist die These, dass dem modernen Antisemitismus die “Juden als negativer Bezugsrahmen für die Definition einer Identität” dienten, in dem diese dem Eigenbild in einem dualistischen System gegenübergestellt wurden (und - leider - immer noch werden). Von daher definiert Burrin die Radikalität des Antisemitismus neu: “Radikal ist [...] ein Antisemitismus, der die Juden [...] in den Mittelpunkt der eigenen Identitätsdefinition stellt [...], woraus denn auch folgt, dass die eigene Identität nur dann gedeihen kann, wenn die jüdische Identität unmittelbar verschwindet.” (S. 38f.) Deutschland litt nach Burrin seit 1918 an einer Identitätskrise, die durch die Verknüpfung der Krise der nationalstaatlichen Konzeption mit religiöser Desorientierung (nach der Fixierung auf Thron und Altar) und einer autoritär-militaristischen Kultur charakterisiert war. All das führte zur Entwicklung eines tief gehenden Ressentiments, durch das viele Deutsche nach 1930 (wieso erst dann?) für die Forderungen der Nationalsozialisten empfänglich geworden seien. Damit ist Burrin aber doch wieder recht nahe an der Annahme eines spezifischen deutschen Nationalcharakters à la Goldhagen. Dem geschichtspsychologischen Modell ist ein mehr politologisches entgegenzuhalten, nach dem die Nazis in der Krisensituation ein besonderes durch Antisemitismus geprägtes Analysemodell propagierten und von diesem ausgehend jahrelang seit 1919 für ihre politischen “Lösungen” warben. Mit dem “Erfolg” einer “Machtergreifung” nach 14 Jahren.

Burrin versucht auf Basis von Hitlers “Mein Kampf” die Tiefenstruktur des Antisemitismus zu untersuchen. Mit einem grundlegend rassistischen Welt- und Geschichtsbild versuchte Hitler eine “germanische Moral” wieder einzuführen. Dieser Aspekt wird von Burrin eher überbewertet, da Hitlers Vorstellungen vielmehr von sozialdarwinistischen Elementen geprägt war. Völlig richtig - und von vielen Forschern leider unterschätzt - ist seine Betonung einer transzendenten Komponente in Hitlers Weltanschauung, aus der dieser seine “Mission” und “Aufgabe” ableitete. Innerhalb dieser Vorstellungen bildete der Kampf zwischen “Juden” und “Ariern” wiederum den zentralen Antagonismus. Das Ziel der Juden sei die Weltherrschaft, Burrin verweist auf die unsäglichen “Protokolle der Weisen von Zion”, ohne aber die Verschwörung als Aktionsform der “Juden” in ihrer zentralen Bedeutung zu erkennen. Dieses Moment wird wohl auch in “Mein Kampf” deutlich herausgestellt, aber erst eine weitere Lektüre von NS-Quellen gibt einen Eindruck, welche Stellung es in der politischen Analyse und PR der Nationalsozialismus hatte. Im Anschluss an Claus Bärsch erkennt Burrin den totalitären und pseudoreligiösen Charakter von Hitlers Weltanschauung, und vor allem seinen politischen Anspruch, der diesen von den anderen Antisemiten unterschied. Burrin charakterisiert den Antisemitismus als “rassistsich-apokalyptisch” (S. 69), was nicht ganz falsch ist, aber den Akzent wieder von der mit diesem verbundenen politischen Qualität entfernt.

Eine der Leitfragen von Burrin richtet sich auf die Akzeptanz der Judenverfolgung bei der deutschen Bevölkerung. Ex negativo schließt er, dass diese relativ hoch gewesen sein müsse, in Anbetracht der geringen Widerstände, die diese der Verfolgung entgegensetzte (S. 75). Das wäre in dreierlei Hinsicht zu differenzieren (worauf wir in der angekündigten ausführlicheren Arbeit Burrins hoffen): zum einen gab es Anzeichen von Solidarität und Mitgefühl, wie in den Wochen nach der Einführung des “Judensterns” am 19. September 1941. Zum anderen sollte nicht unbeachtet bleiben, mit welchen antisemitischen Argumenten die NS-Führung um Zustimmung und Unterstützung in der alltäglichen Massenkommunikation warb. Und zuletzt ist zu beachten, wie die antisemitischen PR-Kampagnen, die pöbelhaften und pogromartigen Wellen der Judenverfolgung und administrativen Maßnahmen in einander griffen.

So absurd die Argumentationslinien der Nazi-PR uns heute erscheinen: die politische Berichterstattung und Kommentierung war geleitet von einer konspirationstheoretischen Tiefenstruktur, die offenbar vielfach überzeugte. Auch deshalb, weil sie so selbstverständlich in allen sozialen und politischen Bereichen vertreten wurde. Zu diesem Befund kommt man, wenn man über “Mein Kampf” hinausgehend, auch die wichtigsten Periodika einbezieht, sowie die NS-Bibliothek und das “Aufklärungs- und Redner- Informationsmaterial der Reichspropagandaleitung” und die Presseweisungen, mit denen der Interpretationsrahmen und die Sprachregelungen vorgegeben wurden. Bleibt nur noch anzufügen, dass mit diesen Mitteln nicht allein die “negativen” Aspekte der NS-Politik vermittelt wurden, sondern auch das Konzept eines “völkischen Staates” als Ziel. Das Ziel lag nicht allein in der Schaffung einer neuen Identität des deutschen Volkes (S. 86), sondern vor allem in der Schaffung einer völlig neuen Gesellschaft.1

In einem letzten Schritt geht Burrin der Frage nach, wie aus der deutschen “Apartheidgesellschaft” eine “genozidäre Gemeinschaft” wurde. Anhand Hitlers Rede vom 30. Januar 1939 versucht er aufzuzeigen, welche Bedeutung die NS-Führung der Vernichtung der Juden beimaß. Hier überzeugt Burrin am wenigsten, da er weder die konspirationstheoretische Basis von Hitlers Analyse und Politik richtig erkannte, noch - aufgrund fehlenden Vergleichs mit anderen Quellen - die Veränderung in der Rhetorik registrierte. Das könnte an Burrins Betonung der apokalyptischen Aspekte liegen, in deren Folge er die Rolle Hitlers beschreibt: “Hitler ist im Wortsinn ein Prophet des Unglücks.” (S. 101) Das ist zweifelsohne common sense, doch lässt es außer Acht, dass die Selbstbezeichnung (und Selbststilisierung) als Prophet seiner Rolle als Staats- und Regierungschef nicht gerecht wird, der um Macht und für seine Ziele kämpft und eine weitreichende Weisungs- und Richtlinienkompetenz gegenüber Staats- und Parteiinstitutionen ausübte. Und folglich ist Burrins Darstellung ähnlich unbefriedigend wie Christopher Brownings Buch zur Endlösung.2 Hier wie dort wird der Herrschaftsorganisation und der öffentlichen Kommunikation, die der Verwirklichung der politischen Ziele diente, eine zu geringe Aufmerksamkeit gewidmet. Wenn man diese Aspekte in den Blick nimmt und berücksichtigt, dass die (wegen des Tunnelblickes auf Hitler unberücksichtigten) Argumentationen in den Massenmedien und in den Schulungsmaterialien für Polizei, Wehrmacht und SS darauf zielten, Menschen zu überzeugen und zu motivieren, dann stellt sich manches anders dar. Richtig ist, dass die Gesellschaft in den Kriegsjahren immer mehr antisemitische Propaganda und Verfolgung billigte und unterstützte (S. 125), doch ist es kaum möglich, eine Unterscheidung zwischen “nationalsozialistischem” und “gemäßigtem” Antisemitismus zu treffen. Vielleicht ist diese Unterscheidung dem Wunsch des Forschers geschuldet, der, zwischen “radikalem” und “gemäßigtem” Antisemitismus unterscheidend, bewusst oder unbewusst die Mehrheit der Deutschen nicht mit Mit-Wissen und Mit-Schuld belasten möchte. Wer jedoch davon ausgeht, das der NS ein umfassendes Modell zur Erklärung von Geschichte und Politik liefern wollte, und damit natürlich ein Angebot zu einer umfassenden “Sinnstiftung” darstellte, der muss konstatieren, dass dieses Modell sehr breit akzeptiert wurde, Kritik nur vereinzelt geäußert und ein hohes Maß an stillschweigender Billigung vorhanden gewesen sein muss sowie eine hohe Bereitschaft zur Unterstützung der NS. Ohne eine breite Akzeptanz und große Unterstützung ließen sich weder die militärischen Aktionen durchführen noch die Judenverfolgung.

Anmerkungen:
1 Janka, Franz, Die Braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert, Stuttgart 1997.
2 Browning, Christopher R., Die Entfesselung der ‘Endlösung’. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942, Berlin 2003; vgl. meine Rezension: Browning, Christopher R.: Die Entfesselung der 'Endlösung'. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942. Berlin 2003. In: H-Soz-u-Kult, 20.07.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-050>.

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