Chr. R. Browning: Die Entfesselung der 'Endlösung'

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Titel
Die Entfesselung der 'Endlösung'. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942


Autor(en)
Browning, Christopher R.
Erschienen
Anzahl Seiten
832 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Meyer zu Uptrup, Beauftragter für Gedenkstätten, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Potsdam

In seiner Arbeit integriert Browning eine Fülle von Einzelstudien und die Auswertung umfangreicher Quellenbestände in Europa, Israel und den USA. Er vermag es, das gigantische kriminalistische Puzzle der Judenverfolgung und der „Endlösung“ in einer bisher nicht da gewesenen Weise zu einem Bild zusammenzufügen, das wesentliche Details klar erkennen lässt. Es gelingt ihm, die dialektische Beziehung, in der die Vernichtungspolitik zwischen den Aktionen von “Zentrale” und “Peripherie” mit mörderischer Konsequenz vorangetrieben wurde, mit analytischer Schärfe darzustellen und Lücken mit plausiblen Überlegungen zu schließen. Die Zusammenhänge zwischen der “Aktion T 4”, der “Aktion 14f13”, der Verfolgung und Ermordung der “Zigeuner”, den Umsiedlungen von Volksdeutschen und Polen und dem Genozid am europäischen Judentum werden von ihm dargestellt.1

Brownings Stärke liegt in der Rekonstruktion der Ereignisse auf der Basis umfangreicher Akten beteiligter Institutionen und Personen, eingeschlossen der Akten diverser staatsanwaltlicher Ermittlungsverfahren. Mit der Kombinationsgabe eines Kriminalisten rekonstruiert er das deutsche Staatsverbrechen in geradezu gerichtsfester Beweisführung. Leider konnte Browning die Arbeit von Isabel Heinemann2 noch nicht kennen. Das wäre für eine präzisere Darstellung der Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik in Polen hilfreich gewesen.

Im Hinblick auf die Quellen zeigt auch Brownings Arbeit wie problematisch es ist, dass nach der Öffnung von Archiven im Osten Europas deren Bestände vielfach kopiert und aus den Überlieferungszusammenhängen herausgerissen wurden. So sind viele der Quellen nicht mehr mit den Signaturen der Originalbestände angegeben, sondern mit denen des Holocaust-Museums (USHMM) in Washington oder von Yad Vashem in Jerusalem. Das ist eine grundsätzlich unbefriedigende Entwicklung, nicht zuletzt auch deshalb, weil nicht sofort erkennbar ist, welche altbekannten oder neu entdeckten Dokumente sich hinter den Siglen der USHMM-Filme verbergen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Verlag die Anmerkungen hinten im Anhang des Buches versteckte, um die Sorgfalt des Lesers mit permanentem Blättern zu strafen.

In den letzten Jahren suchte ein Teil der Forschung Antworten auf die Frage, wie die Entscheidungen abliefen, die die Judenverfolgung stufenweise radikalisierten. Nach Browning wies Hitler durch “ideologische Erklärungen” auf seine Wünsche hin, “durch relativ ungenaue und verschlüsselte Äußerungen, Mahnungen und Prophezeiungen” (S. 606). Andere hätten dann diese Signale in konkrete Weisungstexte umformuliert, die sie Hitler wiederum zur Bestätigung vorlegten. Hitler hätte letztlich alle Schritte der Judenpolitik kontrolliert. Das entspricht dem Modell des vorauseilenden Gehorsams, das Ian Kershaw für seine Hitler-Biografie zugrunde legte.3 So kann Browning knapp formulieren: “Wer erfahren will, was Hitler dachte, muss sich ansehen, was Himmler tat.” (Ibd.)

Ein weiteres charakteristisches Moment sieht Browning darin, dass in Momenten militärischer Erfolge Entscheidungen zu weiterer Eskalation der Judenpolitik fielen. Browning wendet sich damit entschieden gegen Positionen, die die Radikalisierung an z.B. Hitlers Kriegserklärung an die USA oder gar militärische Misserfolge gebunden sahen.

Diese These Brownings zur Entwicklung in den Jahren 1941/42 bestätigt über seine Darstellung hinausgehend ein Grundmuster der NS-Judenpolitik seit 1933, wonach in Momenten politischer Erfolge, in denen sich Handlungsoptionen neu eröffneten, die Verfolgung schrittweise verschärft wurde, situativ angepasst, mitunter suchend nach dem Prinzip von trial and error. Hitler hatte ein feines Gespür dafür, was er “seinem Volk” zumuten konnte, und was (noch) nicht. Spannend ist in diesem Zusammenhang die Rekonstruktion der internen Kommunikation und Entscheidungswege zwischen Hitler, dem engsten Führungszirkel und den ausführenden Verantwortlichen. Als Beispiel hierfür mag Brownings Darstellung der Monate von August bis Oktober 1941 gelten, in denen verschiedene Massenmord-Praktiken bereits angewandt und gleichzeitig neue Methoden entwickelt wurden, die zu den Vernichtungslagern “im Osten” führten. Intern wurde nicht mehr von einer “künftigen Endlösung” nach dem Kriegsende, sondern von einer jetzt “in Vorbereitung” befindlichen Endlösung gesprochen (Adolf Eichmann an das Auswärtige Amt, S. 532). Browning stellt überzeugend dar, wie unterschiedliche Teile der Exekutive zunächst über die Radikalisierung informiert und unter der Ägide Reinhard Heydrichs sofort einbezogen und aktiviert wurden. Erschütternd ist die Erkenntnis, dass offenbar allen Beteiligten sehr genau bewusst war, was mit den Bezeichnungen “Evakuierung” der Juden “nach dem Osten” oder “über den Bug” in “Auffanglager” und mit “besonderen Maßnahmen” gemeint war.

Ein Kapitel des Buches über “Das Unternehmen Barbarossa und der Beginn der Judenvernichtung Juni - Dezember 1941" wird von Jürgen Matthäus verantwortet, der Mitarbeiter des USHMM in Washington ist. Vieles in diesem Kapitel ist schon bekannt 4, leider gibt es Dubletten zum übrigen Text. Matthäus scheint das “Schwarzbuch” von Grossman und Ehrenburg nicht zu kennen; es wäre lohnend, dieses auf seinen Quellenwert zu überprüfen.5 Im Vergleich zu Browning fällt auf, dass Matthäus eine etwas höhere Sensibilität für die Bedeutung der Ideologie als treibendes Motiv der Judenpolitik hat. Damit unterscheidet er sich von vielen neueren Arbeiten der historischen Forschung, deren Autoren weder die Öffentlichkeitsarbeit der NSDAP seit 1920 wahrnahmen, noch die Medien, mit denen sie für ihre politischen Ziele erfolgreich warben. Jedoch darf weder das eine als “ideologische Erklärungen” pauschal unterbewertet noch das andere als Propaganda abgetan werden.

Nachdem vor einigen Jahren die Frage nach der Motivation und den Ursachen der NS-Judenverfolgung etwas intensiver diskutiert worden war, ist es nun etwas stiller geworden. Im Kapitel “Der Hintergrund” gibt Browning seine Begründung der NS-Judenverfolgung. Es stellt sie - wie auch schon Daniel J. Goldhagen - in eine jahrhundertelange Tradition, wonach sich seit der Apologie des Urchristentums das “negative Stereotyp des xenophoben Antisemitismus” (S. 16) entwickelt hätte, der sich in mehreren Stadien zu einem “chimärischen” rassistischen Erlösungsantisemitismus transformiert hätte. Browning schließt an Gavin A. Langmuir an, der in der chimärisch antijüdisch motivierten Feindlichkeit per definitionen keinen Realitätsbezug mehr sah.6 Er verstand den chimärischen Antisemitismus als ein Konstrukt über die Juden, für das sich kein empirischer Beleg mehr finden ließ. Diese Annahme geht an der Wirklichkeit des NS-Antisemitismus vorbei, der als ein paranoides Denken irreale Grundannahmen mit höchst realen Vorstellungen zu einer kriminellen Ideologie verbinden konnte. Er war zentrales Element einer Weltanschauung, die Geschichte erklärte und die Politik ihrer eigenen Logik folgend bestimmte.

Falls man ein anderes Modell als Browning zugrunde legt, das von einer Vermittlung politischer Ziele über die Kommunikation ausgeht und davon, dass Mitläufer und Handelnde in unterschiedlichen Graden von der Richtigkeit dieser Ziele überzeugt sein müssen, damit selbst ein ‘totalitärer’ Staat funktioniert, kann man die langfristige Entwicklung der Judenverfolgung von ihrer Formulierung bis zur Umsetzung verfolgen.7 Es ist anzunehmen, dass im Hinblick auf die Behandlung der Juden ein Minimalkonsens der NS-Anhängerschaft bestand, die Juden müssten aus dem deutschen Volk “entfernt” werden. Zweites und wichtigeres Element dieses Konsensus war die Zustimmung zu dem Ziel eines rassistischen “völkischen Staates”, in ‘Mein Kampf’ formuliert und in den Alltagsmedien vielfach dargestellt. Auf diese beiden Kernpunkte lassen sich die politischen Begründungen zurückführen, die zu einzelnen Schritten der Diskriminierung und Verfolgung gegeben wurden.

Wer heute die “Propaganda” der NS intensiver liest, dem fällt es zunächst schwer zu verstehen, dass sie die Juden als politische Gegner eo ipso auffassten, die überall zur Beherrschung der Nichtjuden wirkten. Die NS glaubten allen Ernstes an die Existenz einer “robusten jüdischen Weltverschwörung” (Zeitgenosse Konrad Heiden). Wäre dieser Glaube im Bereich der Esoterik geblieben, würde heute niemand mehr darüber sprechen. Er leitete aber nicht nur die Analyse von Geschichte und Politik, die in den NS-Medien gegeben wurden, sondern auch die Entwicklung politischer Konzeptionen in unterschiedlichen Politikfeldern.

Gehen wir von einem antisemitischen Grundkonsens in der NS-Führerschaft und bei der Mehrheit der Parteimitglieder aus, dann stellt sich das Modell der Politikvermittlung folgendermaßen dar: Hitler und Rosenberg formulieren die politischen Ziele und die ideologischen Begründungen für diese Ziele, die u.a. der Bindung der Anhänger an Hitler und die Partei diente. Gemeinsam ist allen, dass aus der “Weltanschauung die Tat folgen” (‘Mein Kampf’) müsse und eine konsequenzenlose Ideologie wertlos sei. Nach der “Machtergreifung” erhalten politische Aussagen von Hitler eine neue Funktion: Sie kündigen eine Politik an bzw. begründen aktuelle politische Schritte. Aus diesen Gründen sind die Reden Hitlers und weiterer Funktionäre wichtig für die historiografische Interpretation.

Hitlers Reden werden aber bis heute zumeist nur auf der Grundlage gekürzter Fassungen interpretiert, wie sie z.B. Max Domarus herausgab. Dieser druckte vielfach die entscheidenden ideologischen Passagen nicht ab, sondern beschränkte sich auf die ‘Realpolitik’. Dadurch werden die Quellen stark verfälscht und infolge dessen nimmt die Forschung häufig entscheidende Aussagen nicht wahr.8

Wenn unser Führungsmodell für die Zeit ab 1933 davon ausgeht, dass Hitler die Richtlinien der Politik bestimmte und es seinen Unterführern auf den weiteren Ebenen überlassen konnte, sie in konkrete Maßnahmen umzusetzen, dann hat schon die Veränderung einer Formulierung politisches Gewicht. So war es zentral, dass Hitler in seiner Rede vom 30. Januar 1939 nicht mehr von “Entfernen”, sondern von “Vernichten” im Zusammenhang mit dem Krieg sprach, den er vorbereitete. Von daher ist die Annahme berechtigt, dass den meisten Akteuren des Jahres 1941 das politische Ziel von Anfang an klar war, nicht jedoch die einzelnen Schritte dahin.

Gerade im Vergleich zu der detailreichen Beweisführung in anderen Kapiteln ist das Kurzreferat einiger Positionen zu dem Thema „Hintergrund“ der am Wenigsten überzeugende Teil in Brownings Werk, nur wenig besser sind entsprechende Passagen der “Schlussbetrachtung”. Es wäre die zentrale Frage nach dem Ursprung dieser Politik und ihrer ideologischen Motive zu diskutieren. Hier sollten wir uns um überzeugendere Antworten bemühen.

Anmerkungen:
1 Der Einfluss von Götz Aly (“Endlösung”. Völkerverschiebung und der mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995) und Henry Friedländer (Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, München 1997) auf Brownings Arbeit ist groß.
2 Heinemann, Isabel, “Rasse, Siedlung, deutsches Blut”. Das Rasse- & Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003.
3 Kershaw, Ian, Hitler, Bd. 1 und Bd. 2, Stuttgart 1998 und 2000.
4 Z.B.: Krausnick, Helmut; Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981; Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/42, Frankfurt am Main 1996.
5 Grossmann, Wassilij; Ehrenburg, Ilja, Das Schwarzbuch - Der Genozid an den sowjetischen Juden, Reinbek 1995.
6 Langmuir, Gavin A., Towards a Definition of Antisemitism, Berkeley 1990.
7 Etwas ausführlicher: Meyer zu Uptrup, Wolfram, Kampf gegen die ‘jüdische Weltverschwörung’. Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919-1945, Berlin 2003.
8 Domarus, Max, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, 2 Bde., Wiesbaden 1973.

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