Nach Angaben von Andreas Hilger und Mike Schmeitzner sind zwischen 1941 und 1955 insgesamt rund 70.000 Deutsche von sowjetischen Militärtribunalen (SMT) einerseits wegen Kriegsverbrechen und andererseits aus politischen Gründen, die im Zusammenhang mit dem Aufbau des kommunistischen Besatzungsregimes standen, verurteilt worden. Davon seien 35.000 bis 40.000 deutsche Zivilisten gewesen, die zwischen Kriegsende und 1955 vorrangig aus politischen Gründen, die nicht als Kriegs- und Gewaltverbrechen gelten können, strafrechtlich belangt worden sind. Die anderen 30.000 bis 35.000 Verurteilungen betrafen im weiteren Sinne deutsche Kriegsgefangene. Von den verurteilten Zivilisten lassen sich bislang 25.292 Fälle (72,3 %) konkret dokumentieren (S. 18). Demnach waren unter den Verurteilten Frauen in einer deutlichen Minderheit (2.803). Die meisten Verurteilungen fanden in den Jahren 1946 bis 1949 statt (insgesamt 67,7 %), während auf die Jahre 1953 bis 1955 nicht einmal zwei Prozent entfielen (S. 20). Die vorgelegten statistischen Angaben (S. 20–23, 781–808) über Haftzeiten, Verurteilungsgründe, Alterskohorten, soziale Herkunft usw. interpretieren Hilger und Schmeitzner als Beleg für die „vielfach vorgebrachte These von der hohen Politisierung sowjetischer Besatzungsjustiz“ (S. 24). Auch wenn diese Angaben eindrucksvoll und überzeugend aufbereitet worden sind, stellen sie doch nur Annäherungen dar. Der Zugang zu entsprechenden russischen Unterlagen und Archiven gestaltet sich nach wie vor kompliziert. Nachdem bereits vor Jahren die Internierungslager und die Internierungspraxis in einem anderen Projekt mit zwei Bänden dokumentiert und analysiert worden sind 1, kann sich die Forschung zu den SMT in der SBZ/DDR nun ebenfalls auf wissenschaftlich abgesichertem Terrain bewegen.
In dem Band sind insgesamt 17 Beiträge von deutschen, österreichischen und russischen Historikerinnen und Historikern abgedruckt. Neben Grundsatzbeiträgen, in denen die rechtshistorischen Grundlagen für die SMT-Tätigkeit analysiert (Friedrich-Christian Schroeder) und die generelle Tätigkeit der sowjetischen Justiz- und Sicherheitsapparate in Deutschland beleuchtet (Andreas Hilger/Nikita Petrov) werden, zeigen die Beiträge in den fünf weiteren Kapiteln die Vielfalt des Forschungsgegenstandes auf. Im Kapitel II „Die Verfolgung deutscher Zivilisten durch sowjetische Tribunale“ analysieren Natalja Jeske und Ute Schmidt die SMT-Tätigkeit in Bezug auf die Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen. Sie ist von den SMT selbst konterkariert worden, weil den Urteilen eine rechtsstaatliche Basis fehlte, die Strafmaße weitgehend standardisierten Vorgaben folgten und die SMT nicht auf die individuelle Verstrickung und Schuld eingingen. Die drei Herausgeber zeigen in ihrem Beitrag auf, wie die SMT-Praxis konkret aussah. Im Zentrum stand die Verfolgung „innerer Gegner“, wobei betont wird, dass vielen Verurteilungen von den SMT erst ein politischer Hintergrund zugeschrieben worden sei, der real nicht existiert habe. Diesen Überblickartikel ergänzen Studien, die zeigen, wie stark SED-Mitglieder (Mike Schmeitzner) und Mitglieder der LDP und CDU (Ute Schmidt) von der sowjetischen Verfolgungspraxis betroffen waren. Auch hier zeigt sich, dass die SMT viel stärker „objektive Gegner“ (H. Arendt) als tatsächliche Widerstandskräfte oder Oppositionelle verurteilten.
Im dritten Kapitel stehen „Biographische Einzelstudien“ im Zentrum. Die fünf Skizzen veranschaulichen nicht nur die konkrete, widersprüchliche und nicht auf einen einfachen Nenner zu bringende Verfolgungs- und Verurteilungspraxis der sowjetischen Besatzungsmacht; sie zeigen zugleich die nachkriegsbedingte Gemengelage plastisch auf, die sich oft in einer Biografie spiegelte. In Kapitel IV analysieren Grit Gierth und Bettina Westfeld die SMT-Tätigkeit in Sachsen. Sie zeigen anhand vieler Beispiele, wie die sowjetischen Besatzungsstrukturen mit ihrem integralen Bestandteil der Unterdrückungs- und Verfolgungsmechanismen Sachsen rasch durchdrangen und so entscheidend zur raschen Diktaturetablierung beitrugen. Maßgebliche Unterschiede zu anderen Ländern in der SBZ konnten die Autorinnen nicht feststellen. Harald Knoll und Barbara Stelzl-Marx geben anschließend einen Überblick über Zivilverurteilte aus der sowjetischen Besatzungszone Österreichs. Mindestens eintausend Zivilisten sollen verurteilt und in die Sowjetunion gebracht worden sein (S. 571). Das war gemessen an der Gesamtbevölkerung prozentual weitaus weniger als in der SBZ/DDR. Allerdings sind über zehn Prozent der verurteilten Österreicher hingerichtet worden und weitere 28 Prozent erhielten 25 Jahre Lagerhaft (S. 581), offenbar aber niemand lebenslänglich (S. 580). In der SBZ/DDR haben nach bisherigem Kenntnisstand fast 35 Prozent der Verurteilten 25 Jahre erhalten, weitere 3,3 Prozent lebenslänglich und knapp 2.000 die Todesstrafe (7,8 %), wovon mindestens 1.200 Urteile (4,7 %) auch vollstreckt wurden (S. 23). Die Verurteilungsgründe in Österreich gestalteten sich ähnlich wie in der SBZ, lediglich „Hitlerverwandtschaft“ kam als besonderer Verhaftungs- und Verurteilungsgrund in Österreich hinzu.
In dem Kapitel „Strafvollzug und Entlassung“ untersuchen Natalja Jeske und Jörg Morré, wo und wie SMT-Verurteilte in der SBZ/DDR inhaftiert waren. Andreas Hilger geht sodann auf die Deportationen von SMT-Verurteilten in die UdSSR ein. Deren Anzahl beziffert er mit rund 7.000, womit er deutlich unter früheren Annahmen liegt, die bei bis zu 20.000 Deportierten lagen (S. 671). Schließlich stellen Hilger und Morré in einem weiteren Beitrag die widersprüchliche Geschichte der Haftentlassungen von SMT-Verurteilten aus sowjetischer und deutscher Haft detailliert dar. Ende 1956 saßen noch etwa 500 SMT-Verurteilte in ostdeutschen Gefängnissen ein, nachdem die letzten Deutschen Anfang 1956 aus der Sowjetunion zurückgekehrt waren. „Das Schicksal aller über das Jahr 1956 hinaus inhaftierten SMT-Verurteilten und Waldheim-Verurteilten lässt sich nur noch bruchstückhaft rekonstruieren.“ (S. 747)
Im abschließenden Kapitel erläutert Aleksandr Čičuga die rechtlichen, historischen und politischen Grundlagen der russischen Rehabilitierungspraxis. Bis Ende 2002 waren etwa 9.000 Deutsche formell rehabilitiert worden (S. 778), mehrere tausend, die zumeist wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden waren, konsequenterweise nicht.
Die Erforschung der sowjetischen Justizpraxis in der SBZ/DDR ist mit diesem Band erheblich vorangebracht worden. Die einzelnen Studien zeichnen sich durch eine breite empirische Grundlage und die integrale Berücksichtigung der weitverzweigten Forschungs- und Erinnerungsliteratur aus.
So lange die Zugänge zu den russischen Archiven nicht restlos demokratisiert sind, werden viele Spezialfragen und Annahmen ungesichert bleiben müssen. Ein Beispiel dafür wäre die Frage, wie viele Männer und Frauen nach dem „17. Juni 1953“ von sowjetischen Gerichten tatsächlich verurteilt worden sind. Während im letzten Jahr in einem Buch argumentiert worden ist, die Anzahl der von sowjetischen Gerichten im Zusammenhang mit der gescheiterten Revolution 1953 Verurteilten läge zwischen 500 und 750 2, meinen die drei Herausgeber, diese Zahl sei viel zu hoch. Sie geben stattdessen 70 bis 80 Verurteilungen an (S. 214 – 218). Sie gehen jedoch nicht vom konkreten Material aus, sondern rechnen die standrechtlichen Erschießungen und die in ostdeutschen Haftanstalten einsitzenden SMT-Verurteilten zusammen und runden diese Summe aus Gründen „etwaiger Überlieferungslücken“ (S. 218) auf. Sie berücksichtigen in diesem Zusammenhang weder die in der Erinnerungsliteratur mehrfach enthaltene Feststellung, dass im Sommer 1953 Juni-Aufständische in die sowjetischen Lager gebracht worden sind noch aussagekräftige SED-Unterlagen, die quantitative Angaben beinhalten. Nach dem 17. Juni fand zudem ein „reger Häftlingsaustausch“ zwischen Polizei, MfS und Besatzungsmacht statt, dessen innere Logik bislang nicht hinreichend geklärt werden konnte. Schließlich ist zu bedenken, dass die in den MfS-Archiven vorhandenen „SMT-Akten“ und „SMT-Karteien“, die Verurteilungen im Zusammenhang mit dem 17. Juni dokumentieren, vielfältige Lücken aufweisen. 3 So sind mehrere bekannte Opfer wie Siegfried Berger, die durchweg ihre Haftstrafe in der Sowjetunion verbüßen mussten, in diesen Unterlagen nicht erfasst. Aus den geschilderten Gründen ist davon auszugehen, dass die Angabe der drei Herausgeber bezüglich der 17.-Juni-Verurteilten deutlich zu niedrig ist. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf.
Dieser Exkurs sollte andeuten, dass das Buch vielfältige Anregungen bietet, die Forschungen über die sowjetische Justizpraxis in der SBZ/DDR fortzuführen. Und gerade weil dieses Sammelwerk Anlass für produktive Debatten bietet und es den aktuellen Forschungsstand beeindruckend markiert, wird es der Maßstab aller künftigen diesbezüglichen Arbeiten bleiben. Insofern liegt mit diesem Buch ein rundum gelungenes Werk vor, das von seiner Konzeption her ebenso besticht wie in seinen einzelnen Studien, die in ihrer Gesamtkomposition wiederum dem Ganzen fast monografischen Charakter verleihen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Mironenko, Sergej u.a. (Hgg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, 2 Bde., Berlin 1998; aus der umfangreichen Forschungsliteratur siehe noch: Reif-Spirek, Peter; Ritscher, Bodo (Hgg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999.
2 Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha, 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003, S. 246 – 247.
3 Bei der BStU läuft ein mehrjähriges Datenerhebungs- und Forschungsprojekt zur „Politischen Gegnerschaft“, bei dem mehrere Karteikartensysteme einer systematischen Auswertung unterzogen werden, darunter auch die SMT-Kartei. Zu diesem Projekt siehe: Kowalczuk, Ilko-Sascha; Teske, Regina, Unbekannter Widerstand. Politische Gegnerschaft in der DDR 1949 bis 1989 - Ein Datenprojekt, in: Deutschland Archiv (i.V.).