G.L. Mosse: Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers

Cover
Titel
Aus großem Hause. Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers. Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Siber


Autor(en)
Mosse, George L.
Erschienen
München 2003: Ullstein Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Pelger, Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Duisburg

In der Überzeugung, dass nur die Geschichte verrät, was der Mensch ist (W.K. Ferguson), hat sich der mittlerweile verstorbene Historiker George L. Mosse mit seiner eigenen Geschichte auseinandergesetzt, um „einen sehr persönlichen Winkel der jüngsten Vergangenheit“ auszuleuchten (S. 8). Posthum liegt nun die deutschsprachige Übersetzung der beeindruckenden Lebenserinnerungen des vor allem durch seine kulturwissenschaftlichen Studien zum National(sozial)ismus, Faschismus, Rassismus und Judentum bekannten Geschichtsforschers in kritisch durchgesehener und kommentierter Ausgabe mit einem Nachwort von Elisabeth Kraus vor.1

Galt die Biografik in der post-historistischen Geschichtsforschung lange als diskreditiert, so fallen Mosses Erinnerungen in eine Zeit der Biografie-Renaissance. Dennoch muss sich die Biografieforschung weiterhin der Frage stellen, inwieweit sie, über individuelle Lebensbeschreibungen hinaus, der Geschichtswissenschaft erkenntnisfördernd dienen kann. Denn nach Pierre Bourdieu ist der Versuch, ein Leben als Abfolge von zusammenhängenden Ereignissen zu schildern, „beinahe genauso absurd wie zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Betracht zu ziehen“.2

Die Autobiografie nimmt bezüglich ‚historiografischer Nützlichkeit’ eine Sonderstellung ein. Aus der Perspektive der Lebenserinnerung stellt sie, in bewusst konstruktiver Absicht, gerade die Subjektivität ihrer Erzählung in den Vordergrund. Introspektiv beschreibt sie die persönliche Verwicklung und Einbindung des Erzählers im sozialen und politischen Umfeld – also die individuelle Route im ‚Streckennetz vergangener Zeiten’.

„Nach dem Vorbild des deutschen Bildungsromans“ (S. 293) beginnt Mosse chronologisch mit dem familiären Hintergrund und seiner Kindheit. Als Enkel von Rudolf Mosse, Begründer des gleichnamigen Verlagsimperiums, 1918 in Berlin geboren, sieht er sich als „enfant terrible“ (S. 16), das in der Welt des deutsch-jüdischen Bürgertums und im Kreis der bürgerlichen Elite aufwuchs. Mit dem Scheitern am humanistischen Gymnasium in Berlin und dem Eintritt in das Internat Salem (1928) erfolgte eine erste Zäsur im Leben Mosses, die er im Rückblick als „Übergang vom Chaos ins Licht“ wahrnimmt (S. 84). Denn der ‚renitente Junge’ sollte durch das strenge Regiment an der deutsch-nationalen „Charakterschule“ (S. 85) Disziplin und Genügsamkeit erlernen, auf die er sich als Erwachsener noch wiederholt besinnt. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, die im März 1933 Mosses Flucht über den Bodensee in die Schweiz zur Folge hatte, bedeutet für ihn „eines der einschneidendsten Erlebnisse“ und den Beginn „eines neuen Lebens, aus dem niemals mehr ein Weg zurück ins alte führen sollte“ (S. 117). Als einzige intensive Erinnerung an die Jugendtage bleibt letztlich die Liebe zum schwäbischen Barock und zur Gegend um Salem (S. 115).

Die folgenden Jahre des Exils waren durch die Erfahrungen der Flucht geprägt, die mit der schulischen und akademischen Ausbildung in England (Bootham College, Cambridge University) und den Vereinigten Staaten (Haverford College und Harvard University) zusammenfielen. Mit dem Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft (1946), während seiner ersten Anstellung an der Universität von Iowa (1944–1956), endete für Mosse „eine lange Periode des Suchens und der Unsicherheit“ (S. 255). Und erst die Professur an der Universität von Wisconsin gab ihm das Gefühl, „endlich daheim“ zu sein – so auch die letzte Überschrift seiner chronologischen Lebensbeschreibung.

In den abschließenden Kapiteln der Autobiografie lässt Mosse die chronologische Erzählstruktur hinter sich. „Der Sprung von Berlin in die Vereinigten Staaten“ war zwar „erfolgreich vollzogen und [seine] Jugend als Flüchtling und Exilant weitgehend überwunden“ (S. 293), aber seine persönliche Entwicklung sollte aufgrund bestimmter Begebenheiten aus dem akademischen Leben erst jetzt wirklich beginnen. Deshalb betont Mosse aus systematischer Perspektive seine geschichtswissenschaftlichen Forschungen und seine Erlebnisse in der englischen und israelischen Wissenschaftswelt. London war seit seinen Studientagen zu einer zweiten Heimat geworden, und die Lehrtätigkeit als Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem (seit 1969) entwickelte sich zu einer Erfahrung, die „wichtig für die Kompensierung [seiner] Außenseiterrolle als Jude in der westlichen Gesellschaft“ sein sollte (S. 343). Im letzten Kapitel („Die Vergangenheit als Gegenwart“) betrachtet Mosse noch einmal resümierend den Verlauf seiner Lebensgeschichte – auch bezüglich seiner erneuerten, aber distanziert bleibenden Beziehung zu Deutschland. Die Schlussworte zeugen von einem nachdenklichen Intellektuellen, der sein Leben zwischen Selbstbestimmung und Schicksal verortet (S. 377): „Ich hatte die Welt, die hinter mir lag, verurteilt und von mir weggestoßen und hatte versucht, mich selbst zu wandeln – doch in meinen Ängsten, meinen Phobien und meiner Rastlosigkeit war und blieb ich ein Kind meines Jahrhunderts.“

Mosses Lebenserinnerungen basieren auf einem dialektischen Prinzip. Gleich im ersten Kapitel über die Frage reflektierend „Weshalb eine Autobiografie schreiben?“ (S. 7), sieht er sich durch ein berufsbedingtes Einfühlungsvermögen als Historiker in der Lage, „die eigenen Vorurteile der Gegenwart nicht in die Vergangenheit“ zu projizieren (S. 11). Zugleich gesteht er sich aber auch ein, „die Kontinuitäten und Diskontinuitäten [seines] Lebens ein Stück weit in einen Sinnzusammenhang zu bringen“, ohne auf ein „nahtloses Erinnerungsgewebe“ zurückgreifen zu können (ebd.). Die Synthese dieser doppelten Perspektive auf das eigene Leben liegt in persönlichen „Leitmotiven“ und „-gedanken“, die Mosse weniger als Konstanten eindimensionaler Selbstsicherheiten, sondern, ganz im Gegenteil, als Ausdruck fortlaufender Reflexion präsentiert.

Schlagwortartige Begriffspaare wie ‚Liberalismus und Nationalismus’, ‚Heimat und Flucht’ sowie ‚Insider und Outsider’ verbinden im Rahmen der autobiografischen Erzählung zeitgenössische Erfahrung und selektive Erinnerung. Mosse sieht sich schon von Hause aus durch einen Liberalismus beeinflusst, der ihn während seines ganzen Lebens dazu bewogen habe, die Werte der aufgeklärten Vernunft zu vertreten. Andererseits lernte er bereits in Salem und auch später als Exilant und Heimatsuchender die Anziehungen und Gefahren des Nationalismus kennen, die ihn einnahmen und zugleich abstießen. Nicht zuletzt wegen seines „doppelten Außenseitertums“ als Jude und Homosexueller, in das er noch lange nach seiner Flucht aus Deutschland auch im liberalen akademischen Milieu gedrängt wurde, bleibt Mosse ein kritischer Beobachter seiner selbst und der ihn umgebenden Gesellschaften. Auf der Suche nach einer „tragfähigen Brücke“ (S. 319) zwischen Ideal und Wirklichkeit „verbiss“ er sich in die Geschichtsschreibung, die zu einem „integralen Bestandteil“ (S. 361) seines Lebens wurde und zugleich wieder auf seine Person zurückverweist. Denn schließlich findet er in seinen Schriften „so etwas wie eine leise Kritik an genau jener bürgerlichen Moral“, die zu erreichen er „aus ganzem Herzen angestrebt hatte“ (S. 374).

So wäre eine wörtlichere Übersetzung des ursprünglichen Titels „Confronting History. A Memoir“ Mosses Anliegen und dem Inhalt des Buches sicherlich näher gekommen. Ebenso irreführend wie der Haupttitel „Aus großem Hause“ ist der Untertitel „Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Historikers“, da Mosse, so sehr er auch in Auseinandersetzung mit Gershom Scholem die „deutsch-jüdische Symbiose“ als „eine vertane Chance und zugleich Hoffnung für die Zukunft“ ansah (S. 338), in Erinnerung an seine Kindheit in Deutschland keine „Wehmut“ empfindet (S. 367). Weiterhin scheinen die zur Korrektur der vereinzelt ‚ungenauen’ Erzählung Mosses eingefügten Fußnoten fragwürdig, denn schließlich handelt es sich beim vorliegenden Band nicht um eine textkritische Edition. Fehlende Sensibilität ist auch festzustellen, wenn im Nachwort zu lesen ist, dass „George Mosse […] frühestens mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und deren ersten judenfeindlichen Maßnahmen seines Jüdischseins überhaupt erst gewahr“ geworden sei (S. 391). Denn Mosse bezieht sich ausführlich auf die jüdische Tradition der Familie und stellt beispielsweise fest (S. 106): „Ich musste nicht auf das Dritte Reich warten, um mir meines Jüdischseins bewusst zu werden und erste Schritte in Richtung auf das zu tun, was später in eine beständige Beschäftigung mit jüdischen Belangen münden sollte.“ Nützlich hingegen ist das angefügte Literaturverzeichnis mit den selbstständigen Veröffentlichungen und einer Auswahl von Aufsätzen Mosses.

Insgesamt beeindruckt die Autobiografie durch ihre Aufrichtigkeit und Selbstreflexivität. Ihr wissenschaftlicher Wert liegt in der doppelten und synthetisierten Perspektive, durch die der Historiker Mosse seine Lebensgeschichte erinnert und seine Erlebnisse in unmittelbarem Zusammenhang mit der historischen Vergangenheit erzählt: Biografie wird hier zu Geschichte und Geschichte zu Biografie.3

Anmerkungen:
1 Amerik. Erstausg.: Confronting History. A Memoir, Madison/Wisconsin 2000.– Elisabeth Kraus hat sich über „Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert“ habilitiert (siehe die Rezension von Jörg Hackeschmidt: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=193>).
2 Bourdieu, Pierre, Die biographische Illusion, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 1 (1990), S. 75-81, hier S. 80.
3 In inhaltlicher und formaler Hinsicht lohnend wäre ein Vergleich mit Eric Hobsbawms fast gleichzeitig erschienener Autobiografie (siehe dazu die Rezension von Volker Depkat: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-068>).

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