Titel
Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Kraus, Elisabeth
Erschienen
München 1999: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
793 S., 23 Abb.
Preis
DM 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hackeschmidt

Die deutsche Geschichtsschreibung ist um ein weiteres Standardwerk reicher: Mit ihrer an der Universität München eingereichten Habilitationsschrift über den "Familienverband" der Mosses hat Elisabeth Kraus eine Forschungslücke geschlossen, die - wie so oft - sich erst beim genaueren Hinsehen auftat, dann aber nur allzu deutlich. Jedenfalls hätte man nicht sofort vermutet, dass die Geschichte jener Verlegerfamilie, die hinter dem legendären, von Theodor Wolff seit 1906 geführten "Berliner Tageblatt" stand, noch nicht aufgearbeitet ist. Und das, obwohl die führenden Repräsentanten der vielbeschriebenen "Zeitungsstadt Berlin", von Alfred Kerr bis Carl von Ossietzky und von Ernst Feder bis Felix Pinner, zu einem hohen Prozentsatz Mitarbeiter oder Redakteure beim "BT" waren. Darüber hinaus war die von Kraus nunmehr geschlossene Forschungslücke auch aus anderen Gründen schmerzlich, da die Familie Mosse noch in vielen anderen Bereichen deutliche Spuren in der Geschichte Preußens bzw. des Deutschen Reiches und der Weimarer Republik hinterlassen hat. Dies trifft nicht zuletzt auf ihre Rolle als eine der wichtigsten jüdischen Familien zu, an deren Mitgliedern beinahe die gesamte neuere deutsch-jüdische Geschichte nachgezeichnet, exemplifiziert und hinterfragt werden kann - von der Emanzipationszeit bis zur Zeit des Nationalsozialismus.

Elisabeth Kraus hat eine kleinteilige Gliederung vermieden und das Buch in fünf Abschnitte untergliedert: In ihrer Einleitung erläutert sie die Bedeutung der Familie, das zweite Kapitel dreht sich um Markus Mosse, den Juden aus der preußischen Provinz Posen (1800-1865), Kapitel Drei ist überschrieben: "Die Familie Mosse in Berlin: Vom Solidarverband ins jüdische Großbürgertum (1865-1920)", im vierten Kapitel geht es um "Blüte und Bedrohung, Verfolgung und Selbstbehauptung: Familienmitglieder der dritten und vierten Generation (1920-1945)", und der Titel des Schlußkapitels ist überschrieben: "Die Diaspora einer deutsch-jüdischen Familie". Kraus' Blickwinkel ist ein sozialgeschichtlicher, und so betont sie in ihrem einleitenden Kapitel, dass sich mit einem intergenerationellen Längsschnitt, wie ihn ihre Arbeit darstellt, nicht nur das jüdisch-bürgerliche Sozialmilieu eindringlich beschreiben lässt, sondern auch "Prägekraft und Wirkungsmacht der konstituierenden Milieubedingungen" erfasst und gegeneinanander gewichtet werden können, egal, ob es sich eher um religiöse oder regionale, um soziale oder politische handelt. Sicherlich unterscheiden sich die Fragestellungen der jüdischen Familienforschung nicht prinzipiell von denjenigen nicht-jüdischer Personenverbände. Richtig ist allerdings auch, dass der Aspekt der jüdischen Herkunft und Identität zwangsläufig eine wichtige Rolle spielen muss. Kraus hat in ihrer Studie beide Aspekte erfolgreich miteinander verwoben und der Versuchung widerstanden, die Mosses entweder zu sehr dem Blickwinkel der jüdischen Geschichte einerseits unterzuordnen oder als außerordentliche Unternehmerfamilie andererseits zu beschreiben, deren Weg vom Wirtschafts- zum Bildungsbürgertum nicht nur exemplarisch zu nennen ist, sondern darüber hinaus auch noch genau zwischen Reichsgründung und dem Beginn des Dritten Reiches vonstatten gegangen ist.

Ein schönes Beispiel für diese gelungene historiografische Gratwanderung ist Kraus' ausführliche Darstellung der Stiftungs-, Spenden- und Mäzenatentätigkeit der Familie Mosse in Berlin bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Auch deshalb, weil "die Erforschung privater Wohltätigkeit vor und außerhalb staatlicher Sozialpolitik" ebenso wie das Mäzenatentum für wissenschaftliche oder künstlerische Zwecke in Deutschland noch am Anfang steht, wie Kraus feststellt (S. 400). Mit dem Wegfall berufsständischer Beschränkungen und anderer Benachteiligungen infolge der Emanzipationsgesetzgebung nahm die Stiftungstätigkeit bei den deutschen Juden stark zu. Nutznießer waren vor allem Selbständige und deren Hinterbliebene, also Angehörige freier Berufsgruppen, in denen Juden überproportional vertreten waren. Alles in allem waren die Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Stiftungstätigkeit offfenbar nicht besonders groß. Allerdings war die Stiftungstätigkeit von Juden deutlich größer als diejenige der christlichen Umwelt. Und ein auffälliger Unterschied ist doch zu konstatieren: Bei Juden war die Bereitschaft, zu Lebzeiten zu stiften und "mit warmen Händen" zu geben, deutlich größer als bei Christen. Dies führt die Autorin vor allem auf die Tradition jüdischer Sozialethik zurück, die hier ihren Niederschlag gefunden habe. Wenn es auch für eine Verallgemeinerung noch zu früh sein dürfte: Für den Familienverband der Mosses arbeitet Kraus überzeugend heraus, dass dieses religiös gespeiste Motiv maßgeblich war. "Seit jeher verstand das Judentum die soziale Fürsorge, die Armen- und Krankenpflege, die Unterstützung von Witwen, Waisen und anderer, auf Hilfe angewiesene Personen, die Wohltätigkeit also, als religiöse Pflicht, als oberstes sittliches Gebot und Mittelpunkt des Judentums." (S. 404).

Wohltätigkeit wurde und wird im Judentum immer auch als ausgleichende soziale Gerechtigkeit verstanden und ist weniger auf das Seelenwohl des Gebenden gerichtet, im Gegensatz zum katholischen Verständnis etwa, sondern will das Elend des Empfängers mindern. Auch ist eine Tat, die den Empfänger in die Lage versetzt, auf Wohltätigkeit nicht mehr angewiesen zu sein, also die Eigeninitiative des Empfängers unterstützt, höher zu bewerten als pure Mildtätigkeit. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum die Unterstützung einer Schule für begabte, aber mittellose Kinder oder die Errichtung eines modernen Krankenhauses mit derjenigen einer Synagoge gleichzusetzen war und ist. Soziales und gesellschaftliches Engagement dieser Art unterstützte also nicht nur eine jüdische Identität, sondern begründete sie, wie Kraus in Übereinstimmung mit Derek Penslar 1 feststellt.

Souverän geht die Autorin in diesem Punkt mit ihrer Kritikerin Simone Lässig um, die den religiös gespeisten sozial-normativen Moralkodex des Judentums ungerechtfertigter Weise "ins Zentrum der Analyse" jüdischer Stiftungstätigkeit gestellt sieht. 2 Kraus weist den Vorwurf einer analytischen Verengung in ihrer Forschungsarbeit ebenso zurück wie Lässigs Anklage, die Familie Mosse unzulässigerweise als "repräsentatives Beispiel" 3 darzustellen. Die Autorin stimmt der Forderung Lässigs, zur Analyse der Motive jüdischen Mäzenatentums den Blicks von Religion und Ethnizität auf den sozialen Status und den daraus resultierenden kulturellen Mustern zu erweitern, ausdrücklich zu, ohne dass deshalb ihre Argumentation leiden würde. 4 Allerdings gehört der Nachweis von "Verbürgerlichungsmechanismen", im Gegensatz zu Lässig, auch nicht zu den dominierenden erkenntnisleitenden Fragestellungen von Kraus, weshalb der Dissens der beiden Historikerinnen, die beide über berühmte und bedeutende deutsch-jüdische Familien - Kraus über die Mosses, Lässig über die Dresdner Bankiersfamilie Arnhold - forschten bzw. forschen, wohl mehr der Herkunft aus unterschiedlichen historischen Schulen geschuldet sein dürfte. Im Falle von Lässig jedenfalls ist eine Orientierung an der (alten) Bielefelder Schule und der damit einhergehenden Skepsis gegenüber allem, was nach neueren kulturhistorischen Ansätzen schmeckt, überdeutlich. Der Vorwurf von Lässig allerdings, Kraus folge mehr oder minder unhinterfragt "tradierten Deutungsmustern"5, läßt sich nach der Lektüre von Kraus' tiefenscharfer Darstellung der Spendentätigkeit der Familie Mosse an keiner Stelle aufrechterhalten.

Deutlich über 100 Personen umfasst der von Kraus in seinen Verflechtungen ausgebreitete Familienverband, deren Geschichte die Münchner Historikerin über vier Generationen hinweg verfolgt - eine enorme Leistung, wie jeder Historiker weiß, der schon einmal gruppenbiografisch gearbeitet hat. Ein kurzer Blick auf den im Anhang mitgelieferten Stammbaum belegt dies eindrucksvoll. Eine historiografische Würdigung erfahren nicht nur Markus Mosse, "Stammvater" des Familienverbandes sowie seine Frau Ulrike Wolff, Rudolf Mosse, der seine Karriere als Annoncen-Akquisiteur für die "Gartenlaube" begann und als Großverleger beschloß, oder beispielsweise auch Rudolfs Bruder Albert, der während eines vierjährigen Japan-Aufenthaltes die moderne Verfassung des Landes konzipierte, sondern auch Mitglieder der dritten und vierten Generation des Familienverbandes, von Erwin Panofsky, dem in den USA zu Ruhm gelangten Kunsthistoriker, über den Arzt Alfred Blaschko und seinen Schwiegersohn Martin Gumpert bis zum kürzlich verstorbenen Historiker George L. Mosse.

Die Quellengrundlage für Kraus' beeindruckende Monografie darf als schwierig bezeichnet werden und erforderte ausweislich des Quellen- und Literaturverzeichnisses nicht nur den Besuch diverser Archive in Deutschland, den USA und Israel, sondern machte auch ein Tingeln durch diverse Handschriftenabteilungen, Universitätsarchive und Amtsgerichte erforderlich, um die nötigen testamentarischen, geburtsurkundlichen und andere Nachweise erbringen zu können. Die Autorin hat akribisch und mit viel Liebe zum Detail gearbeitet, ohne die großen Bögen und übergeordneten historiografischen Fragestellungen aus den Augen zu verlieren.

Kurzum: Ein gelungenes, flüssig geschriebenes Werk, das eine Forschungslücke schließt und ohne viel methodologisches Wortgeklingel den Bogen von der Bürgertums- zur Judentumsforschung schlägt. Ein ausführliches und viele Seiten umfassendes Personenregister erleichtert das Arbeiten mit dem Buch.

Anmerkungen:
1 Derek Penslar, Philanthropy, the "Social Question" and Jewish Identity in Imperial Germany, in: Yearbook LBI 38 (1993), S. 51 - 73.
2 Vgl. Simone Lässig, Juden und Mäzenatentum in Deutschland. Religiöses Ethos, kompensierendes Minderheitsverhalten oder genuine Bürgerlichkeit?, in: ZfG, Jg. 46 (1998), Heft 3, S. 211 - 236, hier S. 226. Lässigs Kritik bezieht sich vor allem auf Kraus' Artikel: Jüdische Stiftungstätigkeit: Das Beispiel der Familie Mosse in Berlin, in: ZfG, Jg. 45 (1997), Heft 2, S. 101 - 121.
3 Vgl. Lässig, Juden und Mäzenatentum, S. 225.
4 Kraus, Die Familie Mosse, S. 689, Fußnote 25.
5 Lässig, Juden und Mäzenatentum in Deutschland, S. 212, Fußnote 5. Lässigs Kritik bezieht sich auf Kraus' ZfG-Artikel (vgl. Anmerkung 2). Die Argumentation von Kraus ist in ihrer Mosse-Monografie unverändert.

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