Cover
Titel
Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/03. Interkultur. Kulturstatistik, Chronik, Literatur, Adressen


Herausgeber
Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft; Röbke, Thomas; Wagner, Bernd
Erschienen
Anzahl Seiten
493 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Schon mit seinem dritten Band hat sich das Jahrbuch für Kulturpolitik fest etabliert und ist zu einem wesentlichen kulturpolitischen und -geschichtlichen Forum der Bundesrepublik geworden.1 Das Thema dieser Ausgabe, unterstreicht Christina Weiss zum Geleit, "verweist auf eine zentrale Dimension künftiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Immer deutlicher zeichnet sich ab, das der Umgang mit kultureller Pluralität zum Maßstab eines friedlichen und freiheitlichen Zusammenlebens wird - in einer globalisierten Welt ebenso wie innerhalb zunehmend multikulturell geprägter Gemeinwesen" (S. 9).

Die aktuellen Auseinandersetzungen um ein Einwanderungsgesetz zeigen, wie kontrovers das Thema noch immer in Deutschland behandelt wird. Und die durch Migration und Globalisierung ausgelösten Herausforderungen wurden bisher auch in der Kulturpolitik kaum beachtet. "Wenn 'Kultur für alle' als Zielsetzung für kulturpolitisches Handeln noch gelten soll und das 'Bürgerrecht Kultur' nicht eingeschränkt wird auf die Bürger deutscher Abstammung," betont Oliver Scheydt im Vorwort, "dann erfordert das von ihr neue Antworten" (S. 12). Denn in der Gesellschaft der Bundesrepublik lebten Ende 2001 schon 7,3 Millionen Menschen nichtdeutscher Herkunft, das sind knapp neun Prozent der Bevölkerung. Über die Hälfte davon wohnen schon seit acht Jahren, ein Drittel darunter seit über 20 Jahren hier. Hinzu kommen noch 3,2 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler aus Osteuropa, die zwar deutscher Herkunft sind aber kaum einen Bezug dazu haben, und ca. eine Million eingebürgerte Deutsche mit ausländischen Eltern, d.h. vor allem junge Leute, die in zwei kulturellen Traditionen aufwachsen (S. 34). Der Wahrnehmungswechsel: Deutschland als eine Zu- oder Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen, wenn auch eine andere als die "klassische", ist längst überfällig. Auf dieser Grundlage spiegelt das Jahrbuch die Bandbreite der Diskussion über eine (Kultur-)Politik in der multiethnischen Gesellschaft der Bundesrepublik.

In einem umfassenden und einführenden Beitrag "Kulturelle Globalisierung, Multikultur und interkulturelle Kulturpolitik" loten die Herausgeber den Horizont der Debatte in vier Schritten aus: Zuerst zeigen sie auf, "wie grundlegend sich unsere Alltagskultur in den letzten Jahrzehnten verändert hat". Zum zweiten demonstrieren sie "am öffentlich verbreiteten begrifflichen Gegensatz von 'Multikultur' und 'Leitkultur', welches Niveau unsere gegenwärtige kulturelle Debatte angenommen hat und warum sie so in die Irre laufen mußte". Als Alternative hierzu gehen sie drittens auf vor allem "im kanadischen Raum entwickelte Ansätze einer kulturellen 'Politik der Anerkennung' ein, um schließlich einige Schlußfolgerungen für die Kulturpolitik zu ziehen" (S. 20). Diese besagen, dass sich die Kulturpolitik auf die neue multiethnische und multikulturelle Wirklichkeit einlassen und ihre bisherigen konzeptionellen Grundlagen, insbesondere ihre praktische Förderpolitik revidieren muss.

Zum Thema folgen dann 36 Beiträge von 48 Autoren, die sich etwa sieben Komplexen zuordnen lassen (vgl. zum Folg. S. 19): Die ersten Artikel behandeln "die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge, in denen eine entsprechende Neuorientierung der Kulturpolitik stattfindet." Die politische Vertreter Rita Süssmuth und Wolfgang Thierse, Peter Müller und Albert Schmid kommen dabei ebenso zu Wort wie die Wissenschaftler Klaus Bade und Franz Nuschler, die die sozialwissenschaftlichen Grundlagen der Debatte liefern. "In einem zweiten Komplex geht es um die Formulierung kultureller und kulturpolitischer Aufgaben der Integration und des 'Dialogs der Kulturen' durch" die Staatsministerinnen Christina Weiss und Kerstin Müller und die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung Marieluise Beck. Drittens "setzen sich wissenschaftliche und politische Akteure aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit verschiedenen Realitäten der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft auseinander und formulieren entsprechende politische und theoretische Anforderungen" so Erol Yildiz, Faruk Sen, Dirk Halm, Carmina Chiellino, Mark Terkessidis und Torsten Gross. Viertens werden in einer Umfrage Künstler mit Migrationshintergrund danach befragt, "was ihrer Ansicht nach Kunst und Kulturarbeit zum Gelingen des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen beitragen können, welche kulturpolitischen Weichenstellungen sie für erforderlich halten und ob es eine besondere Förderung der Kunst von Migrantinnen und Migranten geben soll." Es antworten: Tsechepko Dan Agbetou, Pantea Bahrami, Siir Eloglu, Niksa Eterovic, Anna Ikramova, Andy Dino Iussa, Nuri Karademirli, Mario de Matteis und Safeta Obhodjas. Der fünfte Komplex behandelt die "Anforderungen einer zeitgemäßen Integration an kommunale Kulturpolitik". Bettina Heinrich vom deutschen Städtetag gibt einen Problemaufriss. Beiträge von Naseem Khan (London) sowie Katharina Noussi-Scheba (Wien) blicken über die Grenzen, weitere stellen das kulturpolitische Umgehen "mit den Anforderungen der multikulturellen Großstadtgesellschaft" dar in Berlin: Dorothea Kolland und Thomas Flierl, in Hamburg: Inka Manthey, in Essen: Oliver Scheydt, in Dortmund: Jörg Stüdemann, In Stuttgart: Iris Magdowski und in Nürnberg: Jürgen Marktwirth. Sechstens werden "die Situation und die Aufgaben interkultureller Kulturpolitik" für die Länder Nordrhein-Westfalen von Michael Vesper, Franz Kröger und Norbert Sievers sowie Baden- Würtemberg von Peter Frankenberg dargelegt. Und es kommen drei kulturpolitische Sprecher von Parteien auf Bundesebene zu Wort: Eckhardt Barthel (SPD), Günter Nooke (CDU) und Hans-Joachim Otto (FDP). Siebentens schließlich setzen sich Beiträge mit "dem Stand und den Anforderungen interkultureller Arbeit in einzelnen Sparten" auseinander, so Thomas Krüger für die politische Bildung, Tobias Knoblich für die Soziokultur, Annette Heilmann und Roberto Culli für das Theater, Max Fuchs für die kulturelle Bildung sowie Georg Ruppelt und Klaus-Peter Böttger für die Bibliotheken.

Und wer bis hierher nur interessiert geblättert hat, wird spätestens an den festen Blöcken des Jahrbuchs hängen bleiben. Diesmal zur öffentlichen Kulturfinanzierung/Kulturstatistik 2002 von Michael Söndermann und zu "Kulturwirtschaft und Kulturpolitik. Neue Ansätze am Beispiel einer Studie Schweiz - Deutschland - Österreich" von Christoph Weckerle. Zum verweilen laden weiterhin ein: die Chronik wichtiger kulturpolitischer Ereignisse 2002, die Bibliografie kulturpolitischer Neuerscheinungen 2002, wichtige Adressen aus Kunst, Kultur und Kulturpolitik sowie Kunst und Kultur im Internet. Alles in allem wiederum ein gelungenes Jahrbuch mit einer uns alle angehenden streitbaren Thematik.

Anmerkung:
1 Siehe auch die Rezension zu Band 1 und 2 in: H-Soz-u-Kult 21.11.2002: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1810.

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