Jahrbuch für Antisemitismusforschung 31 (2022)

Titel der Ausgabe 
Jahrbuch für Antisemitismusforschung 31 (2022)

Erschienen
Berlin 2022: Metropol Verlag
ISBN
978-3-86331-656-3
Anzahl Seiten
417 S.
Preis
€21,00

 

Kontakt

Institution
Jahrbuch für Antisemitismusforschung
Land
Deutschland
c/o
Adina Stern, Geschäftsführende Redakteurin des Jahrbuchs für Antisemitismusforschung Zentrum für Antisemitismusforschung Ernst-Reuter-Platz 7 Sekr. TEL 9-1 10587 Berlin
Von
Adina Stern

Fast jeder oder jede, die in den letzten dreißig Jahren an Ausstellungen zum Thema Nationalsozialismus oder Antisemitismus mitgewirkt hat, kennt sie: Die Sammlung Wolfgang Haney. Diese fast 15 000 Objekte umfassende Privatsammlung war schon Grundlage der 2016 im Deutschen Historischen Museum gezeigten Ausstellung „Angezettelt“, die seinerzeit am ZfA von unserer Kollegin Isabel Enzenbach kuratiert wurde. Ihr und Uffa Jensen ist es zu verdanken, dass diese Sammlung nach dem Tod von Wolfgang Haney im Jahre 2017 gesichert und mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom Deutschen Historischen Museum übernommen und nun, in einem gemeinsamen Projekt mit dem ZfA, wissenschaftlich erschlossen werden kann. Dabei widmet sich WIEBKE HÖLZER dem Leben und der Sammelmotivation und -praxis von Haney, der selbst Opfer antisemitischer Verfolgung war, während SYLVIA KARGES die antisemitischen Artefakte in ihrer Doppelfunktion als marktförmige Waren und „dekorative“ Alltagsgegenstände am Beispiel der Produkte einer dafür bekannten britischen Porzellanmanufaktur beleuchtet. Der pädagogische Umgang mit solchen und anderen Exponaten wiederum stand im Mittelpunkt eines Pilotprojekts, das Gabriele Kandzora an einer Hamburger Stadtteilschule mit Postkarten aus der zweiten am ZfA (mit-)betreuten Sammlung durchgeführt hat und dessen Ergebnisse sie hier vor allem im Hinblick auf weitere mögliche Projekte zusammenfasst, die, wie sie nachdrücklich betont, das Risiko, aber auch die Chancen des Umgangs mit diskriminierendem, gerade visuellem Material sorgfältig abzuwägen haben. Wir sind sehr froh, mit Gabriele Kandzora die ehemalige Leiterin eines Landesinstituts für Lehrerbildung als kompetente Partnerin für die im vorletzten Jahrbuch vorgestellten Bildungsprojekte von ALAVA gewonnen zu haben, die zudem eng mit der Sozialpsychologin Carolin Hagelskamp von der HWR Berlin kooperieren wird.
Nicht nur auf Postkarten war die Darstellung einer angeblich devianten jüdischen Sexualität eines der beliebtesten antisemitischen Motive in Bild und Text. Den sehr frühen Spuren dieser äußerst erfolgreichen Verknüpfung geht die Mediävistin KERSTIN MEYERHOFER nach, die am Beispiel der Vorstellung menstruierender Männer und zügelloser Frauen, die seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar sind, die Bedeutung ambivalenter Körper- und Geschlechterbilder für die Entwicklung und Verfestigung antijüdischer Ressentiments diskutiert. In der Moderne findet sich dieses Phänomen in einer sehr konkreten Figur wieder: der des jüdischen Mädchenhändlers, dessen Denunzierung oftmals antisemitisch konnotiert war. Am ZfA läuft seit 2020 ein deutsch-britisches, im Rahmen eines AHRC-DFG-Sonderprogramms gefördertes und von Daniel Lee (London) und Stefanie Fischer (Berlin) geleitetes Projekt, dessen erste Ergebnisse hier von PAOLA ZICHI und ELISABETH JANIK-FREIS vorgestellt werden: Während Letztere den Verbindungen zwischen dem real existierenden Mädchenhandel, seiner diskursiven Rassifizierung und den jüdischen Reaktionen darauf nachgeht, analysiert Zichi die Bedeutung, die die Mobilisierung gegen den Mädchenhandel bei der Entstehung des italienischen Feminismus spielte, die zugleich eine erste politische Selbstermächtigung jüdischer Frauen in Italien darstellte. Ergänzt werden die drei Beiträge durch einen spannenden Aktenfund aus dem Jahre 1938, den uns INGO LOOSE und HERMANN SIMON vorstellen: Angeregt durch eine Anfrage des antisemitischen Fritsch-Verlags kam es im gerade gegründeten Reichskriminalpolizeiamt zu einer internen Diskussion über den „jüdischen Mädchenhandel“, der schließlich in einer Stellungnahme mündete, die deutlich macht, dass dieses Phänomen in der – in diesem Fall – nach rationalen Kriterien urteilenden Polizei schlichtweg als nicht existent betrachtet wurde.
Der Wirkmächtigkeit der NS-Propaganda zu diesem Thema und ihren bis in die Bundesrepublik reichenden Spuren tat dies jedoch, wie die beiden Autoren bemerken, keinerlei Abbruch. Ein großer Abschnitt des diesjährigen Jahrbuchs widmet sich dann auch diesen vielfältigen Spuren bzw. ihren Aktualisierungen in gegenwärtigen Debatten um Antisemitismus. Den Auftakt macht der Leiter des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, RALF MICHAELS, der sich kritisch mit dem Begriff der „Staatsräson“ auseinandersetzt und nach seinen juristischen wie politischen Implikationen fragt. Sein Aufsatz basiert auf einem Beitrag zu dem gemeinsam von der Bildungsstätte Anne Frank und dem ZfA organisierten Symposion „Deutsche Staatsräson und Israels Sicherheit“, das, gefördert vom Auswärtigen Amt, im Mai 2022 an der TU Berlin stattfand. Zu diesem Thema lässt sich ergänzend der Literaturbericht von LUKAS UWIRA lesen, der in der letzten Sektion des diesjährigen Jahrbuchs verschiedene Vorstellungen von Antizionismus vorstellt. Ein konkreter Fall, in dem unterschiedliche Interpretationen der Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus in den letzten Jahren zum Ausdruck kamen, ist die Debatte um das Kairos-Palästina-Dokument in der evangelische Kirche, die MARIA COORS nachzeichnet, wobei es ihr jedoch weniger um die erwähnte Grenze geht, sondern vielmehr um die theologische Reformulierung bestimmter judenfeindlicher Inhalte im Kontext dieser Diskussion.
Eine zentrale Argumentationsfigur bei allen hier betrachteten aktuellen politischen Debatten stellt seit einigen Jahren die „jüdische Stimme“ dar, mit deren Genese und Bedeutung sich HANNAH TZUBERI und PATRICIA PIBERGER befasst haben. Am Beispiel der Auseinandersetzung um unterschiedliche Antisemitismusdefinitionen legen sie dabei den Schwerpunkt auf die letztlich entscheidende Frage, wer wann als „betroffene“ Person sprechen darf und wem dieser Status verweigert wird. Die Folgen von äußeren Zuschreibungen auf (minoritäre) Identitäten macht OZAN ZAKARIYA KESKINKILIC auf der Grundlage von Gruppeninterviews deutlich. Die Zuschreibung als staatlich zu beobachtendes Sicherheitsrisiko führt zu vielfältigen Reaktionen, wie Angst und Sorge, vorauseilender Gehorsam und Selbstzensur, was wiederum eine kritische Selbstreflexion und Stärkung verhindert, die, so der Autor, durch entsprechende Angebote in geschützten Räumen, hergestellt werden könnten.
Geschützte Räume sind das, was nicht nur im Krieg, sondern auch im Reden über den Krieg immer mehr verloren zu gehen scheint. Dies jedenfalls zeigt der Beitrag von GRZEGORZ ROSSOLINSKI-LIEBE, der sich mit Stepan Banderas Verantwortung für die Verbrechen ukrainischer Nationalisten auseinandersetzt. Dass es für solche differenzierten Analysen von historisch über 80 Jahre zurückliegenden Ereignissen außerhalb der Wissenschaft seit Kriegsbeginn kaum noch Resonanzräume gibt, sollte uns zu denken geben. Allerdings sind Auseinandersetzungen über die Balance zwischen (ideologischer) Sicherheit und Freiheit keineswegs erst in den letzten Jahren oder nur aufgrund der neuen sozialen Medien entstanden. Am Beispiel der Internierung von enemy aliens in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs zeigt ARND BAUERKÄMPER, dass rechtsstaatliche Grundsätze im Ausnahmezustand offenbar auch in liberalen Staaten unter Druck geraten können. Und an einem anderen historischen Beispiel, dass uns RAANAN REIN vorstellt, lässt sich darüber nachdenken, dass Stepan Bandera vermutlich überlebt hätte, wenn er, wie so viele andere Massenmörder, von München weiter nach Lateinamerika gewandert wäre. Am Beispiel des Falls Herbert Cukurs diskutiert er die Erfolge der jüdischen Selbstwehr gegen alte und neue Faschisten in Uruguay, die, wie das Land insgesamt, hierzulande bislang wenig Beachtung gefunden haben.
Angesichts der Politisierung und Twitterisierung der Themen unseres Faches ist es kein Wunder, dass es in der wissenschaftlichen Welt auf internationaler Ebene in letzter Zeit mehrere Versuche gegeben hat, diese inhärenten Verkrustungen durch innovative, sich von chronologischen Narrativen lösende Herangehensweisen aufzubrechen. Ein vielbeachteter Versuch, die von zwei kanadischen und einem israelischen Kollegen herausgegebenen Key Concepts in the Study of Antisemitism, wird von unserem Kollegen ULRICH WYRWA einer kritischen Gesamtbetrachtung unterzogen. Auch wenn sein Fazit kritisch ausfällt, so ist eine Rezeption dieser internationalen Entwicklung auch hierzulande dringend zu wünschen.

Inhaltsverzeichnis

STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM
Vorwort

IN EIGENER SACHE

Die Sammlung Wolfgang Haney

WIEBKE HÖLZER
„Die Geschichte meiner Familie ist eng und auf meist leidvolle Weise mit der Geschichte des Nationalsozialismus verbunden.“ – Biografische Skizze des Sammlers Wolfgang Haney und seiner Familie

SYLVIA KARGES
Das Zur-Ware-Werden von Antisemitismus. Fagin auf dem Frühstückstisch oder in der Schrankwand?

Die Sammlung Langerman

GABRIELE KANDZORA
Begegnung mit visuellem Antisemitismus im pädagogischen Feld.
Eine Erkundung von Artefakten aus der Sammlung Langerman an einer Hamburger Schule

JUDEN, SEXUALITÄT UND PROSTITUTION

KERSTIN MAYERHOFER
Von ‚menstruierenden‘ Männern und zügellosen Frauen. Sexualität und Geschlecht im mittelalterlichen Antisemitismus

PAOLA ZICHI
Paolina Schiff and the Making of Global Women’s Rights and Peace Agenda (1841–1926)

ELISABETH JANIK-FREIS
„Mädchenhandel“ und Moderne.
Sexualität, Moral und Antisemitismus im europäischen Diskurs, 1900–1933

INGO LOOSE/HERMANN SIMON
Dokumentation: Ein Gutachten des Reichskriminalpolizeiamtes „über die Rolle der Juden im Mädchenhandel“ (Dezember 1938)

AKTUELLE DEBATTEN‘

RALF MICHAELS
Israels Sicherheit und Existenz zwischen Staatsräson und Rechtsstaatsprinzip

MARIA COORS
„Sünde gegen Gott und die Menschheit“ – judenfeindliche Semantiken im evangelischen Diskurs über Israel

HANNAH TZUBERI/PATRICIA PIBERGER
Sprechen im Bildraum der Vergangenheit. Die „Jüdische Stimme“ in Debatten über Antisemitismusdefinitionen

OZAN ZAKARIYA KESKINKILIC
Unbehagen, Sorge, Scham und das Problem der Entfremdung: Affekte in islambezogener Gouvernementalität

GRZEGORZ ROSSOLINSKI-LIEBE
Stepan Banderas Verantwortung für die Verbrechen ukrainischer Nationalisten

SICHERHEIT UND SELBSTBEHAUPTUNG

ARND BAUERKÄMPER
Freiheit für Feinde der Demokratie im Ausnahmezustand? Die Internierung der britischen Faschisten 1939/40

RAANAN REIN
The Judo Coach of Montevideo Police Who Became the Leader of Jewish Self-Defense in 1960s Uruguay

BESPRECHUNGSESSAYS

ULRICH WYRWA
Schlüsselbegriffe der Antisemitismusforschung. Kritische Vorstellung eines neuen Studienbuches

LUKAS UWIRA
Gegenwärtige Verständnisse von Antizionismus im Vergleich

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