Die wissenschaftliche Arbeit des Zentrums für Antisemitismusforschung hat in den letzten Monaten verschiedene Formate der internen und externen Kommunikation erprobt und vor allem seine zahlreichen Projekte weiterbetrieben. Hierzu gehört auch das am ZfA angesiedelte Berliner Teilinstitut des deutschlandweiten Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt, das einleitend im 30. Band Jahrbuch für Antisemitismusforschung vorgestellt wird. Die Beteiligung an diesem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekt, das im Herbst 2020 seine Arbeit aufgenommen hat, ermöglicht es, die zentralen Themen des ZfA, Antisemitismus und Rassismus, an maßgeblicher Stelle in die sozial- und politikwissenschaftliche Forschung der Bundesrepublik einfließen zu lassen, was bisher aufgrund disziplinärer Grenzen nur selten geschehen ist. Eine weitere Säule der mittlerweile stark ausdifferenzierten Struktur des ZfA, das Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin-Brandenburg (ZJS), ist im diesjährigen Jahrbuch mit einem eigenen Abschnitt vertreten. Die am ZJS angesiedelte Forschergruppe zur Geschichte der „Gerechten unter den Völkern“ organisierte im Winter 2020 die internationale Jahrestagung des ZJS unter dem Titel „New Approaches to the Rescue of Jews during the Holocaust”. Die für das Jahrbuch ausgewählten Beiträge dieser internationalen Konferenz beschäftigen sich mit der Rettung des Hamburger Warburg-Instituts nach London, mit den verschiedenen moralischen Kriterien, die an den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ geknüpft wurden, sowie mit den Mechanismen auf der Ebene der nationalen Erinnerungspolitik in so unterschiedlichen Ländern wie Griechenland und Schweden. Ein weiterer Abschnitt widmet sich der Sprache der Judenfeindschaft und spannt dabei einen sehr breiten Bogen, der vom 16. bis ins 20. Jahrhundert und von Bayern bis nach Japan reicht. So wird zunächst die bekannte Schrift Ains Juden büechlins verlegung des Gegenreformators Johannes Eck aus dem Jahre 1541 analysiert, die eine neue Stufe verbaler Gewalt gegen Juden markierte. Ein Beitrag beschäftigt sich mit Judendarstellungen in einigen Märchen der Brüder Grimm sowie von Clemens Brentano, während ein anderer das Verhältnis von Juden und Nichtjuden der deutschen Kolonie im kaiserlichen Japan untersucht. Antisemitische Diskurselemente in Eingaben an Behörden und Parteiinstanzen während des Nationalsozialismus stehen im Mittelpunkt einer Analyse, die herausarbeitet, wie demonstrativer Judenhass oder -verachtung in diesen Eingaben gewissermaßen als Appell an einen gemeinsamen Nenner fungierten, der Bittsteller und Obrigkeit miteinander verband und zugleich gegenseitig moralisch bestärkte. Die obrigkeitsstaatliche Seite dieses Appells, in diesem Fall konkret der Antisemitismus Hitlers, verschwand interessanterweise aus der bundesrepublikanischen Edition seiner Reden durch Max Domarus, der selbst ein biographisches Interesse an dieser Modifikation hatte, wie hier veröffentlichte Untersuchung belegt. H.G. Adler, der bereits 1955 ein umfangreiches Werk zum Konzentrationslager Theresienstadt verfasste, steht im Fokus einer Analyse, die anhand seiner privaten Korrespondenz aus den Nachkriegsjahren nachweist, in welch hohem Maße die Auseinandersetzung um Judentum, Religion und Identität gekoppelt war an die Verarbeitung der eigenen Verfolgungserfahrung und wie all dies schließlich einging in seine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema. Vor dem Hintergrund einer nicht zu übersehenden Renaissance der Kritischen Theorie und ihrem Verständnis von Antisemitismus wird die Freud-Rezeption in der Antisemitismusforschung des 20. Jahrhundert einer kritischen Betrachtung unterzogen, die zu dem sehr deutlichen Ergebnis kommt, dass die für die Frankfurter Schule so typische Verknüpfung von Kapitalismuskritik und Psychoanalyse auf bestimmten, durchaus diskutablen Prämissen beruht, die dem historisch wie empirisch erfassbaren Antisemitismus, seiner Zu- und Abnahme, seiner zeitlichen, geographischen, sozialen und kulturellen Varianten nicht gerecht werden.
STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM Vorwort
IN EIGENER SACHE
FELIX AXSTER/MATHIAS BEREK Das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt
DIE SPRACHE DER JUDENFEINDSCHAFT RODRIGO QUEZADA REED „Den Thalmud verbrennen“ (anno 1541). Grundzüge der Hebraistik des Johannes Eck
PEER JÜRGENS Judenfeindliche Darstellungen in romantischen Märchen. Über Judenfiguren bei den Brüdern Grimm und Clemens Brentano
ROLF-HARALD WIPPICH Judenfeindschaft unter den Deutschen in Meiji-Japan (1868–1912)
ANTISEMITISMUS UND NATIONALSOZIALISMUS: 1933–1955
STEFAN SCHOLL „weil ich als Judengegner I. Ranges bekannt war“: Antisemitische Diskurselemente in Eingaben an Behörden und Parteiinstanzen während des Nationalsozialismus
ANTHONY KAUDERS Speculating About Society, Analyzing the Individual: Where Freudian Accounts of Antisemitism Go Wrong
WOLFRAM MEYER ZU UPTRUP Hitlers Antisemitismus: Ein bloßer ‚Judenkomplex’? Zur Problematik von Max Domarus‘ Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945
JOSEFINE LANGER Die Judenfrage ist die Frage der Humanität schlechthin“. H.G. Adlers Position zu Judentum und Zionismus in der frühen Nachkriegszeit
NEUE ANSÄTZE ZUR RETTUNG VON JÜDINNEN UND JUDEN WÄHREND DES HOLOCAUST: GEDENKEN – POLITIK – GESCHICHTE
MORDECAI PALDIEL Oskar Schindler and the Creation of the Commission for the Righteous at Yad Vashem
MERON MEDZINI Sugihara Chiune, Japan’s Only Righteous Among the Nations: Myths and Reality
MICHAEL BERKOWITZ A “Grey Savior”: Kenneth Clark and the Rescue of Hamburg’s Warburg Institute
ANNA MARIA DROUMPOUKI Das „Moralnarrativ“ über die Rettung die griechischen jüdischen Bevölkerung. Literarische, künstlerische und museologische Darstellungen
JULIA SAHLSTRÖM Emotional Expressions of Memory: Narratives of Rescue in the Swedish-Jewish Press, 1945–1965
AUTORINNEN UND AUTOREN