Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013)

Titel der Ausgabe 
Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013)
Weiterer Titel 
Schwerpunkt: Geschichte ausstellen

Erschienen
Stuttgart 2013: Franz Steiner Verlag
Erscheint 
jährlich
ISBN
978-3-515-10676-4
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
€ 52,00

 

Kontakt

Institution
Jahrbuch für Politik und Geschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktionsanschrift: Dr. Claudia Fröhlich Leibniz Universität Hannover Historisches Seminar Im Moore 11 30167 Hannover
Von
Schmid, Harald

„Geschichte ausstellen“, „Zeitgeschichte ausstellen“, „Hitler ausstellen“, „Vertreibungen ausstellen. Aber wie?“, „Migration ausstellen“, „Jüdisches ausstellen“ – allein die Titel jüngerer Bücher und Aufsätze, Konferenzen und Vorträge lassen vermuten, dass eine neue Nachdenklichkeit in die mit solchen Fragen befassten Disziplinen Einzug gehalten hat. Historische Ausstellungen scheinen im besten Sinne fragwürdig geworden zu sein, indem geschichts- und museumsdidaktische Grundlagen, die Besucher/innen und aktuelle Bedingungen der Vermittlung von Geschichte in dieser charakteristisch modernen Form in den Fokus rücken.

Dabei sind Ausstellungen nur eines unter zahlreichen Medien der Vermittlung von und Auseinandersetzung mit Geschichte – freilich eines mit Spezifika. Anders als etwa Gerichtsverfahren, wissenschaftliche Untersuchungen oder literarisch-künstlerische Werke zielt die Thematisierung von Geschichte in Ausstellungen auf die ästhetisierend-veranschaulichende Popularisierung von Geschichtsbildern, im materiellen wie im metaphorischen Sinne. Ihre didaktischen Vorzüge liegen in der Kombination visueller, akustischer und haptischer Zugänge zum präsentierten Thema. Gewiss gibt es dabei Überschneidungen etwa mit modernen Massenmedien, doch die narrativ-szenische Kombination der Elemente, insbesondere mit konkret-handgreiflicher Materialität in Form von Quellen und Überresten sowie einer gewissermaßen begehbaren Erzählung, verleiht dem Ausstellen von Geschichte eine besondere Attraktivität, die mit jener „Ästhetik der Anwesenheit“ verbunden ist, die Gottfried Korff beschrieben hat. Dabei hat die öffentliche Präsentation ausgewählter Objekte und Zeugnisse im Rahmen moderner Gesellschaften eine spezifische Funktion. Durch das ‚greifbare‘ Herausstellen und das Visualisieren einer Perspektive oder eines Aspekts, eines Themas, einer Person oder eines Problems wird ein Zusammenhang, dem aus der Sicht der Ausstellungsmacher/innen Bedeutung zugeschrieben wird, ebenso betont wie gleichzeitig konstruiert und durch unmittelbare Anschauung der Quellen möglich.

Dergestalt sind sie „Teil der kulturellen Praktiken, in denen sich Repräsentationsbedürfnisse, individuelle und kollektive Narrationen sowie gesellschaftliche Diskurse und Wissensformen manifestieren“ (Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch). Berücksichtigt man dabei, dass Ausstellungen stets „ephemere Ereignisse“ sind, „die ganz selten dokumentiert werden“ (Monika Flacke), so wird ihre potenzielle, temporäre und eben auch gleichsam fluide Impuls-Funktion für den öffentlichen Umgang mit Geschichte und für die Konstruktion von Geschichtsbildern deutlich. Insofern können historische Ausstellungen als Indikatoren einer Geschichtskultur verstanden werden, geben sie doch darüber Aufschluss, welche Themen für ausstellungswürdig erachtet, wie diese erzählt, präsentiert und inszeniert werden, von wem sie erarbeitet wurden und welche öffentliche Reaktion sie auszulösen imstande waren. Geschichtsausschnitt, ästhetisch-didaktische und narrative Aufbereitung, Ausstellungsmacher/innen und Öffentlichkeit markieren so eine Art analytisches Viereck jeder näheren Beschäftigung mit diesem Sujet.

Historische Ausstellungen sind von geschichtspolitischer Bedeutung, indem sie das öffentlich relevante Geschichtsbewusstsein avisieren und so die historisch-politische Identität des Bezugskollektivs und dessen Gedächtnis prägen. Insbesondere zeithistorische Ausstellungen sind durch eine spezifische Konstellation gekennzeichnet: die Spannung zwischen Nähe und Distanz zur Vergangenheit und die dadurch vermittelte besondere Emotionalität. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass – auf der allgemeinen Ebene kulturhistorischer Ausstellungen – der öffentliche Präsentations- und Aneignungsmodus von Ausstellungen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg generell langsam von Leitideen im Sinne von „Schatzkammer“ und „Meisterwerke“ Abstand nahm und hingegen den Schwerpunkt in „historisch-politischer Deutungs- und Präsentationsabsicht“ (Korff) gefunden hat.

Insofern sind geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Entwicklungen zumindest in den vergangenen fünf Jahrzehnten auch eng mit historischen Ausstellungen verwoben – sei es, dass letztere Skandale und Kontroversen auslösen, sei es, dass sie eine breite öffentliche Rezeption entfalten, sei es, dass sie thematische oder formale Impulse liefern. In der Konsequenz dieser Entwicklung liegen die jüngeren Forschungsinteressen, die bestimmt sind von generellen geschichts- und museumsdidaktischen Ansätzen, der Frage nach adäquater Darstellung aktueller gesellschaftspolitischer Umbrüche (Europa, Migration) und der empirischen Wirkungs- respektive Vermittlungs- und Besucherforschung.

Der konzeptionelle Ansatz des Schwerpunkts „Geschichte ausstellen“ ist multiperspektivisch angelegt: Im Fokus unseres Interesses stehen sowohl externe als auch interne Zugänge zum Thema – Beiträge, die sich dem Blick von außen auf historische Ausstellungen oder deren Wirkungsformen widmen, ebenso wie Aufsätze, die gleichsam das Innenleben von Ausstellungen (Konzeption, Architektur, Inszenierung) untersuchen. Dadurch vereint der Schwerpunkt dieser Ausgabe des JPG Texte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener historisch arbeitender Disziplinen, aber auch Aufsätze von Experten aus der Praxis wie Ausstellungskuratoren und -gestaltern sowie Museumsleitern. Thematisch geht es um deutsche, europäische und transnationale Geschichtsausstellungen, sei es in- oder außerhalb von Museen.

Ins Zentrum rücken wir jene Fragen, die sich der Bedeutung und Funktion historischer Ausstellungen in Erinnerungskulturen und politischen Gedächtnisbildungen und -kämpfen widmen. Welche Bedeutung haben Ausstellungen für den öffentlichen Umgang mit Geschichte? Von welchen Akteuren werden sie initiiert, realisiert und präsentiert? Welchen Stellenwert haben die konkreten Besucher/innen und die breitere Rezeption einer Ausstellung? Wie wirken Geschichtsausstellungen in Erinnerungskulturen? Wie problematisieren, überwinden oder übergehen sie das Spannungsfeld von fragmentarischem (Quellenüberlieferung) und aktuellem Geschichtsbedarf (Erzählung)? Wie wird mit ihnen Geschichtspolitik betrieben? Welchen Beitrag leisten Geschichtsmuseen und -ausstellungen zum Verständnis der Identifikation mit Vergangenheit und zur kritischen Auseinandersetzung mit ihr? Kurzum, es geht um eine möglichst facettenreiche analytische Bestandsaufnahme des ‚Ortes‘ historischer Ausstellungen am Schnittfeld erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Handelns.

Thomas Thiemeyer führt mit einer historisch angelegten Analyse in das Phänomen Geschichtsausstellung ein und verortet sie als „Evidenzmaschine“ in der gegenwärtigen Erlebnisgesellschaft. Am Beispiel der breit rezipierten und wirkungsvollen Staufer-Ausstellungen aus den Jahren 1977 und 2010 entfaltet Martin Große Burlage Motive und Entwicklungsgeschichte von historischen Landesausstellungen. Mit der Wirkung und Bedeutung von lang zurückliegenden Repräsentationen von Geschichte in Ausstellungen in neuen Präsentationen beschäftigt sich auch Britta Lange in ihrer Untersuchung der Darstellung von Kolonialismus und „Heimat“ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896 und deren Repräsentation in Retrospektiven 1996 und 2007.

Stefan Krankenhagen und Silvio Peritore rekonstruieren jeweils Hintergründe und Kontexte von konfliktreichen Aneignungen von Geschichte in Ausstellungen. Krankenhagen betrachtet „Die Sache Europa“ mit Blick auf das Projekt eines Musée de l’Europe „als (vorerst) gescheiterten Versuch, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen“, Peritore zeichnet die Entwicklung der Darstellung des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma in Ausstellungen nach.

Mit Berlin als umkämpftem Ort von Geschichtsausstellungen beschäftigt sich Irmgard Zündorf. Zündorf hat Ausstellungen in der Hauptstadt besucht, die die Geschichte der DDR erzählen und hat dabei festgestellt, dass privat finanzierte Institutionen eine besondere Rolle bei der Repräsentation der Diktaturgeschichte spielen.

Zwei Beiträge des Themenschwerpunktes „Geschichte ausstellen“ beschäftigen sich schließlich – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven – mit der Rolle von Besucher/innen und mit dem Publikum von Geschichtsausstellungen. Bert Pampel betritt mit seinem Beitrag das noch wenig bearbeitete Feld der Besucherforschung, dessen methodische Herausforderungen er sowohl für die Wissenschaft wie für die Ausstellungsmacher/innen ausleuchtet. Am Beispiel von historischen Orten, die an nationalsozialistisches und kommunistisches Unrecht erinnern, beschreibt Pampel daneben die Herausforderung eines bei den Besucher/innen zu beobachtenden „nivellierenden Erinnerns“ für diese historischen Orte. Als Initiator und Betreuer des Virtuellen Osnabrücker Migrationsmuseums diskutiert Thorsten Heese die Chancen einer virtuell repräsentierten Geschichte für die partizipative Museumsarbeit.

In der Rubrik „Atelier & Galerie“ fragt Sebastian Haak nach den Motiven und Kontexten des in den USA bis heute gefestigten Geschichtsbildes vom Zweiten Weltkrieg als dem Good War. Félix Krawatzek und Rieke Trimçev entwickeln eine „Kritik des Gedächtnisbegriffs als soziale Kategorie“, mit der sie eine neu akzentuierte Lesart des Konzepts der mémoire collective von Maurice Halbwachs vorschlagen.

Bill Niven und Thomas Großbölting denken im „Aktuellen Forum“ über die Zukunft der Erinnerung nach und Anne Krügers Forschungsbericht zum Thema Transitional Justice bietet einen breiten Überblick über jüngere Veröffentlichungen und die gegenwärtigen Debatten in diesem Forschungsfeld, das sich mit Fragen des Umgangs mit Menschenrechtsverbrechen (häufig) im Kontext von Systemwechseln befasst.

Das „Fundstück“ lenkt den Blick auf den Zusammenhang von Kunst und Erinnerungskultur Unter der Überschrift „Oscar Munoz’s Aliento: Colombia’s Desapareciodos, Contemporary Art and the Politics of Remembrance“ stellt Sophie Oliver einen Künstler vor, der sich in seinen Arbeiten mit dem Verbrechen des Verschwinden-Lassens von Regimegegnern in Kolumbien auseinandersetzt und auf diese Weise die Problematik des Suchens und die Folgen des Nicht-Findens thematisiert.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Claudia Fröhlich, Harald Schmid, Birgit Schwelliung
Editorial (5–10)

Schwerpunkt: Geschichte ausstellen

Thomas Thiemeyer
Evidenzmaschine der Erlebnisgesellschaft. Die Museumsausstellung als Hort und Ort der Geschichte (13–29)

Stefan Krankenhagen
Die Sache Europa. Das Musée de l‘Europe: Von dem (vorerst) gescheiterten Versuch, die europäische Integration zum Subjekt der Geschichte zu machen (31–43)

Thorsten Heese
Museum 2.0 und Migration. Das Virtuelle Osnabrücker Migrationsmuseum als Instrument partizipativer Museumsarbeit (45–66)

Britta Lange
Geschichte als Argument. Deutsche Kolonien und deutsche ‚Heimat‘ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896 und in der Retrospektive von 1996/2007 (67–86)

Martin Große Burlage
Die Stauferausstellungen von 1977 und 2010/11. Zur Motivik und Entwicklung historischer Groß- und Landesausstellungen (87–100)

Silvio Peritore
Die Präsentation des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma in Ausstellungen (101–117)

Bert Pampel
Nivellierendes Erinnern. Besucherreaktionen an historischen Orten aufeinanderfolgenden nationalsozialistischen und kommunistischen Unrechts (119–138)

Irmgard Zündorf
DDR-Geschichte – ausgestellt in Berlin (139–156)

Atelier & Galerie

Félix Krawatzek, Rieke Trimçev
Eine Kritik des Gedächtnisbegriffes als soziale Kategorie (159–176)

Sebastian Haak
History in the Best Interest of National Defense. Das US-amerikanische Militär und The Good War (177–191)

Aktuelles Forum: Zukunft der Erinnerung

Bill Niven
Multidirectional or Multidimensional? The Future of German Memory (195–202)

Thomas Großbölting
Die Zukunft der Erinnerung? Das sich wandelnde Verhältnis von öffentlicher Geschichtsthematisierung und Geschichtswissenschaft als Herausforderung (203–213)

Fundstück

Sophie Oliver
Oscar Muñoz: Colombia’s Desaparecidos, Contemporary Art and the Spectres of Remembrance (217–233)

Forschungsbericht

Anne K. Krüger
Transitional Justice (237–258)

Autorinnen und Autoren (259–263)

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