Jahrbuch für Politik und Geschichte 3 (2012)

Titel der Ausgabe 
Jahrbuch für Politik und Geschichte 3 (2012)
Weiterer Titel 
Schwerpunkt: Brauchen Demokratien Geschichte?

Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Erscheint 
jährlich
ISBN
978-3-515-10265-0
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
€ 52,00

 

Kontakt

Institution
Jahrbuch für Politik und Geschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktionsanschrift: Dr. Claudia Fröhlich Leibniz Universität Hannover Historisches Seminar Im Moore 11 30167 Hannover
Von
Schmid, Harald

Die Frage, ob Demokratien Geschichte brauchen, mag erstaunen. Denn Geschichte ist in demokratisch verfassten Gesellschaften öffentlich vielfach präsent und wird in unterschiedlichsten Zusammenhängen und für verschiedenste Interessen benutzt. Wozu also die Frageform?

Dahinter steht eine demokratietheoretische Überlegung, wonach demokratische Ordnungen und politische Systeme ihre genuine, konstitutive Legitimation aus dem demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren der politischen Willensbildung und Entscheidung beziehen. Welche Bedeutung, welche Funktionen hat dann aber der mitunter inflationäre Rekurs auf Geschichte? Ist Geschichte nur symbolischer Überbau, gleichsam eine Sekundärlegitimation? Eine leitende Perspektive des vorliegenden Jahrbuchs ist deshalb die Frage, was, um Aleida Assmann zu variieren, neben der „Arbeit am nationalen Gedächtnis“ just die Arbeit am demokratischen Gedächtnis charakterisiert. Daran ist ein Kranz von Forschungsfragen angesiedelt – vor allem nach den Akteuren demokratischer Geschichtspolitik, ihrer Intensität, ihren Institutionen, Inhalten und Präsentationsformen. Schließlich geht es um die Klärung der Frage, ob und welche Unterschiede es im „Geschichtsbedarf“ (Niklas Luhmann) der politischen Systeme gibt: einerseits zwischen verschiedenen Demokratien, andererseits in nichtdemokratischen Staatsformen. Die Beiträge zum Schwerpunkt dieses Jahrbuchs beleuchten das damit angesprochene Spannungsfeld zwischen Legitimation der Demokratie durch Verfahren und Geschichtspolitik. Sie rücken die auf das politische System bezogene Bedeutung von Geschichte und Geschichtspolitik in den Blick.

Einführend beantwortet Michael Th. Greven (†) die Frage „Brauchen Demokratien Geschichte?“ mit einer Analyse des identitätsstiftenden Charakters der Konstruktion von Geschichte während der Gründung moderner Demokratien. Er fokussiert dabei gleichermaßen auf die Bedeutung wie das Konfliktpotenzial von Geschichte für politische Gemeinschaften und zeigt die Herausforderungen gegenwärtiger Trans- und Denationalisierungsprozesse für Geschichte auf. Während Greven systemtheoretisch argumentiert, nähert sich Wolfgang Bergem dem Schwerpunktthema aus der Perspektive einer politischen Kulturanthropologie. Darin entfaltet er ein historisch weit gefächertes Panorama eines „demokratischen Geschichtsbedarfs“, dessen politisch systematische Bedeutung Bergem auslotet. Eine dritte theoretische Annäherung an die Frage, ob Demokratien Geschichte brauchen, bietet Mark Arenhövel mit der am historischen Beispiel von Verfassungsgebungen diskutierten These, dass auch konsolidierte Demokratien einen höheren Geschichtsbedarf haben als oft angenommen wird. Vier stärker empirisch orientierte Beiträge analysieren dann an konkreten Beispielen das Verhältnis von Geschichte und Demokratie: Regina Fritz beschreibt die inkludierende und exkludierende Bedeutung von Geschichtspolitik in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg; Michel Dormal betrachtet Luxemburgs Demokratie als Lieu de Mémoire; Martin Wieczorek analysiert geschichtspolitische Argumentationen in der Weimarer Nationalversammlung; und Elisabeth Kübler fragt danach, wie eine demokratische Geschichtspolitik auf der EU-Ebene jenseits der Nationalstaaten möglich ist und welche Bedeutung sie für die Nationen und die Europäische Union haben kann.

Mit der dritten Ausgabe des „Jahrbuchs für Politik und Geschichte“ eröffnen wir die neue Rubrik „Atelier & Galerie“. In ihr stellen wir gegenwärtig laufende und innovative Projekte aus der geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Forschung und Praxis vor. Birgit Schwelling beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der „Europäischen Dimension des Erinnerns“, die sie „in systematischer Absicht“ durchleuchtet, um die auf die europäische Erinnerungskultur bezogenen Forschungsperspektiven ausfindig zu machen. Christian Haase stellt Methode, Ansatz und erste Ergebnisse seines an der Universität Nottingham angesiedelten Forschungsprojekts über „Marion Gräfin Dönhoff und die Medialisierung adliger Erinnerungskultur in der Bundesrepublik“ vor. Einen Aspekt aktueller Erinnerungskultur stellt Meik Woyke vor: Idee und Konzept der vom Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn unter seiner Leitung erarbeiteten Internetseite www.erinnerungsorte-der-sozialdemokratie.de.

Mit dem „Aktuellen Forum“ schalten wir uns in die jüngste Debatte um Geschichts- und Historikerkommissionen ein. Wir haben die beiden Historiker Moshe Zimmermann und Christoph Cornelißen um ihre Einschätzung und Einordnung der – staatlich oder privat beauftragten und anhaltend von der Fach- wie auch einer breiteren Öffentlichkeit viel beachteten – Kommissionen zur Erforschung von Geschichte gebeten. Cornelißen und Zimmermann kennen die Arbeit von Historikerkommissionen aus eigener Erfahrung. Christoph Cornelißen ist seit 2005 Mitglied und seit 2012 Co-Vorsitzender der deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen Historikerkommission und Moshe Zimmermann war Mitglied der 2005 eingerichteten Kommission zur Erforschung der Geschichte des Auswärtigen Amtes in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. Beide haben pointierte Essays vorgelegt, die sie dann gegenseitig noch einmal kommentierten. Cornelißen bewertet die Rolle nationaler und internationaler Historikerkommissionen als „ambivalent“ und trägt vier Argumente vor, die seinen kritischen Blick auf den von den Kommissionen zu leistenden „Spagat zwischen Politik und Wissenschaft“ begründen. Als „Aufklärung und Anstoß“ bilanziert dagegen Zimmermann den „Nutzen von Historikerkommissionen“, wobei sein Plädoyer zugunsten der Kommissionen ein flammender Appell an das Arbeitsethos der darin tätigen Historiker und Historikerinnen ist.

Als „Fundstück“ präsentiert das JPG in dieser Ausgabe ein Gemälde. Die beiden Passauer Politikwissenschaftler Horst-Alfred Heinrich und Bernhard Stahl analysieren die geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Bedeutung des Historiengemäldes „Kosovo-Mädchen“ von Uroš Predić. In ihrem Aufsatz loten sie die Potenziale einer Bildanalyse für die geschichtspolitische Forschung aus.

Zu den wichtigsten Fragestellungen und Themen der jüngeren Erinnerungsforschung und -kultur zählt die Frage, welchen Status Geschichte im Kontext von Migrationen hat. Der Forschungsbericht von Marcel Berlinghoff greift diese aktuelle Perspektive auf und bilanziert die jüngsten Publikationen und Forschungstrends zur „Geschichte in der Einwanderungsgesellschaft“.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Claudia Fröhlich, Harald Schmid
Editorial (5–9)

Schwerpunkt: Brauchen Demokratien Geschichte?

Michael Th. Greven †
Brauchen Demokratien Geschichte? (13–27)

Wolfgang Bergem
Warum Demokratien Geschichte brauchen. Eine Begründung aus Sicht einer politischen Kulturanthropologie (29–42)

Mark Arenhövel
Gesellschaftliche Selbstthematisierung als Modellierung von Geschichte. ‚Geschichtsbedarf‘ in demokratischen und autoritären Gesellschaften (43–57)

Elisabeth Kübler
Geschichte braucht Demokratie: Wie ist eine demokratische Geschichtspolitik auf der EU-Ebene möglich? (59–76)

Regina Fritz
Ungarn nach dem Krieg. Geschichtspolitik als Instrument der Demokratisierung (1944/45) (77–93)

Michel Dormal
Der leere Ort der Macht und die Orte der Erinnerung. Zur Analyse eines Spannungsverhältnisses am Beispiel Luxemburg (95–111)

Martin Wieczorek
„Revolutionszeiten brauchen Weltanschauungsgedanken“. Geschichtspolitische Argumentationen in der Weimarer Nationalversammlung (113–130)

Atelier & Galerie

Birgit Schwelling
Europäische Dimensionen des Erinnerns. Methodische Überlegungen in systematischer Absicht (133–148)

Meik Woyke
Erinnerungsorte der deutschen Sozialdemokratie. Konzeption und didaktisches Profil einer Internetpräsentation für die historisch-politische Bildung (149–169)

Christian Haase
Um der ehrenhaften Erinnerung willen. Marion Gräfin Dönhoff und die Medialisierung adliger Erinnerungskultur in der Bundesrepublik (171–197)

Aktuelles Forum: Historikerkommissionen

Christoph Cornelißen
Historie im politischen Auftrag? Zur ambivalenten Rolle nationaler und internationaler Historikerkommissionen (201–206)

Moshe Zimmermann
Aufklärung und Anstoß. Über den Nutzen von Historikerkommissionen (207–212)

Christoph Cornelißen
Über Grenzen der Wirksamkeit und Fallstricke der Politik – eine Erwiderung auf Moshe Zimmermann (213–214)

Moshe Zimmermann
Auf die Historiker kommt es an! Eine Replik (215–217)

Fundstück

Horst-Alfred Heinrich, Bernhard Stahl
Uroš Predić‘ „Kosovo-Mädchen“ – Sterben und Töten für das Guten (221–238)

Forschungsbericht

Marcel Berlinghoff
Geschichte in der Einwanderungsgesellschaft (241–258)

Autorinnen und Autoren (259–263)

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