Leviathan 41 (2013), 4

Titel der Ausgabe 
Leviathan 41 (2013), 4
Weiterer Titel 
Gesellschaftliche Spaltungen

Erschienen
Baden Baden 2013: Nomos Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
140 S.
Preis
Abonnement € 98,00 , Studierende 59,00

 

Kontakt

Institution
LEVIATHAN. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft
Land
Deutschland
c/o
Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Redaktion Dr. Claudia Czingon, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin; Tel. +49 30 25491 536; E-Mail: claudia.czingon@wzb.eu
Von
Blomert, Reinhard

Gesellschaftliche Spaltungen können lange erhalten bleiben: 24 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung kommen noch immer drei Viertel aller Abteilungsleiter in den Ost-Landesministerien aus dem Westen, in sämtlichen Bundesgerichten sind die verantwortlichen Posten in den Händen von Westlern, und nur fünf der 88 Hochschulen und Universitäten im Osten werden von Ostdeutschen gelenkt. Tatsächlich war mit dem Einigungsvertrag ja keineswegs ein neues Gebilde zweier gleichberechtigter Teile entstanden, wie es die friedlichen Revolutionäre erhofft hatten – Wolfgang Ullmann etwa, der eine neue Verfassung anstrebte, um das vorläufige Grundgesetz durch eine vom Volk legitimierte Verfassung abzulösen –, es war aber auch kein „Beitritt“, denn es blieb kein teilautonomes Gebilde erhalten. Die Rede von der Übernahme der DDR ist daher wohl nicht übertrieben, obwohl die Kommentatoren der Zeitungen diesen Skandal durchweg mit der Bemerkung mildern zu können meinen, dass „die neue Generation“ diese „Trennung in Ost und West“ ja nicht mehr kenne. Ob sie sich da nicht etwas vormachen? Während die Bundesrepublik eine Expansion erlebte, erfuhren die „Beitrittsländer“ 1989/90 den vierten Elitenbruch des Jahrhunderts mit allen Folgen an Führungs-, Kompetenz- und Wissensverlusten, mit dem Verlust strategischer Optionen und Orientierungsverlusten, gepaart mit außenpolitischer Provinzialisierung und Identitätsproblemen. Dieser Elitenbruch ist nicht Folge besonderer westdeutscher Wühlarbeit, sondern Ergebnis der Implosion des sowjetischen Reichs und des Ausgangs des Kalten Krieges. Aber in keinem der übrigen ehemaligen Comeconländer hat es eine solche westliche Parallelelite gegeben, die nach dem Fall der Mauer die Führung des Landes übernommen hat. Dies bleibt die Besonderheit der deutschen Wiedervereinigung. Und die Wunden, die diese asymmetrische „Vereinigung“ geschlagen hat, sind noch lange nicht verheilt, wie man an den beiden Aufsätzen von Ulrich van der Heyden und Manfred Bierwisch in diesem Heft erkennen kann.

Wunden, Risse und Spaltungslinien in der Gesellschaft finden sich auch in Italien, wie Philip Manow in seinen Überlegungen zum südeuropäischen Wohlfahrtstaatsmodell ausführt. Die Form dieser Modelle ist allerdings keineswegs statisch, sondern gibt nur Anhaltspunkte. Jens Alber hat 2006 anlässlich einer Tagung mit Gøsta Esping-Andersen für den Leviathan einen Überblick gegeben. Die von dem Dänen Esping-Andersen etablierte Einteilung zerfällt in drei Regime, ein „liberales“, ein „konservatives“ und ein „sozialdemokratisches“.

Das „liberale“ empfiehlt „eine auf Bedürftige beschränkte Sozialpolitik […], die den Mittel- und Oberschichten den Weg zu privaten Einrichtungen offen hält. In sozialstaatlichen Programmen möchten sie starke Arbeitsanreize verankert wissen, die sie am ehesten gewährleistet sehen, wenn sozialstaatliche Leistungen als Aufstockungen von Marktlöhnen gestaltet sind. Statt kollektiver Vorsorge in staatlichen Sicherungsprogrammen mit Umlagecharakter propagieren sie private Versicherungen mit Kapitaldeckungsverfahren als effizientere und überlegenere Lösung.

Vertreter der katholischen Soziallehre stehen einer pro-natalistischen Politik offen gegenüber, setzen hierbei aber andere Akzente als skandinavische Sozialdemokraten, die sich die ‚De-Familiarisierung‘ von Kindern und Frauen zum Programm machen und die Familie primär als Instanz der Vererbung sozialer Ungleichheit und insbesondere als Perpetuierer der in der Wissensgesellschaft zunehmend wichtigen kognitiven Ungleichheit betrachten. Vertreter der katholischen Soziallehre möchten Frauen nicht auf ein bestimmtes Rollenmodell festlegen, sondern betonen, dass Frauen in der Mutterschaft eine legitime Alternative zur Erwerbstätigkeit sehen können. Die Familie gilt ihnen nicht als eine bloße Ansammlung von Individuen, sondern als Basisinstitution einer staatsunabhängigen Zivilgesellschaft, die sie in Zeiten des Subsidiaritätsprinzips als eigenständige Instanz der Wohlfahrtsproduktion ebenso wie kirchennahe Assoziationen gewürdigt und gestärkt sehen wollen.
[…]

Sozialdemokraten, die in der Tradition der aktivierenden Sozialpolitik Skandinaviens oder der (skandinavische Modelle aufgreifenden) Politik des arbeitszentrierten Dritten Wegs im Großbritannien Tony Blairs stehen, sind mit Esping-Andersen der Auffassung, dass es unter den neuen Bedingungen der globalisierten Wissensgesellschaft vor allem darum geht, möglichst viele Menschen zur Mitwirkung am Marktgeschehen zu befähigen. […] die neue Sozialdemokratie [hat] den Gedanken einer Eindämmung von Marktkräften fast gänzlich aufgegeben und setzt nun stattdessen auf die Aktivierung der Bürger zur möglichst universellen Teilnahme am Marktgeschehen.

Allerdings gab und gibt es in der politischen Linken auch immer die Alternativposition – vertreten etwa von André Gorz oder von Guy Standing –, welche die Schaffung einer marktfreien Zone der Autonomie durch die Gewährung staatlicher Mindestsicherung in Form eines allgemeinen Bürgergeldes propagiert“.

Manow weist nun darauf hin, dass viele Beiträge zur Literatur zusätzlich ein südeuropäisches Modell erkennen zu können meinen, und sucht insbesondere die Spaltung der Linken in Sozialisten und Kommunisten zu erklären, die die südeuropäischen Parteiensysteme von denen Kontinental- und Nordeuropas unterscheidet: Mit dieser Spaltung seien die besonderen institutionellen Charakteristika und Verteilungseffekte der südeuropäischen politischen Ökonomien zu erklären. Ihren Ursprung führt er auf die besondere historische Konfliktlage im Staat/Kirche-Konflikt in den monokonfessionell katholischen Ländern zurück.

Krisenzeiten zeigen freilich erst, wie stabil solche Modelle sind: Für „Obamacare“, das US-amerikanische Gesundheitsprogramm für die armen Schichten, gab es letztlich eine Mehrheit, und der US-Staat hat kräftig eingegriffen in die Konjunktur. Ob bei anhaltend niedrigem Zinssatz bald auch das angelsächsische Modell der Privatisierung der Renten unter Druck gerät? Das wäre ein Zeichen für die Grenzen solcher Modelle. Dass der von deutscher Seite immer wieder als „Reform“ propagierte Gedanke der Einführung eines Niedriglohnsektors in Frankreich nicht auf offene Ohren stößt, wäre dagegen ein Zeichen für die Stabilität der Modelle: In einem Land, in dem auch Konservative die Auffassung vertreten, dass man von seinem Lohn leben können müsse, hat eine solche Idee kaum eine Chance.

Gibt es neue Spaltungen, die alte verdrängen? Gibt es nach der „alten“ sozialen Frage des Klassenkonflikts zwischen Arbeit und Kapital nun eine neue soziale Frage, die durch Ungleichheiten wie Geschlecht, Ethnizität, Rechtsstatus oder Religion gekennzeichnet wäre? Eine neue soziale Frage, bei der die Tatsache eine herausragende Rolle spielt, dass die Interdependenz grenzübergreifender Transaktionen gestiegen ist und grenzübergreifende Interaktionen selbst zu einem Differenzkriterium geworden sind? Das fragt unser Autor Thomas Faist.

Hat die Krise in Europa neue Spaltungen verursacht oder ist sie nur der Beweis dafür, dass es keine gemeinsame europäische Erzählung mehr gibt? Dass das neue deutsche Selbstbewusstsein, das sich einst in der Selbststilisierung als der „Griechen Europas“, also der Denker und Philosophen – im Gegensatz zu den als „römisch“ und militärisch-rational charakterisierten westeuropäischen Völkern – zum Ausdruck brachte, die geistige Verbindung zur romanisch-griechischen Welt verdrängt hat, „verwestlicht“ ist, darauf wies unlängst Herfried Münkler hin: „Es gibt heute keinen europäischen Mythos, keine große integrierende sinnstiftende Erzählung, die begründen würde, warum der Norden dem Süden helfen sollte. Damit fehlt eine Ressource, die bei der Bevölkerung Vertrauen in dieses Europa schaffen könnte. Wo es keinen Mythos mehr gibt, gibt es nur noch Bürokratie und Geschäft. Die fehlende mythische Integration führt dazu, dass die Cents im Portemonnaie gezählt werden. Von hier aus fällt ein anderes Licht auf die alten politischen Mythen. Sie waren nicht nur Mittel zur Befestigung des jeweiligen Status quo, sie konnten ihn auch infrage stellen. Große Reformprojekte bedürfen einer motivierenden Erzählung. Man wird sie nicht schaffen, wenn man nur auf Sicht fährt“. Die Krise hat bereits erhebliche wohlfahrtstaatliche Verwerfungen verursacht und legt deutlicher offen denn je, wo sich der geschäftliche Schwerpunkt hinter dem Schleier der Europapropaganda befindet. Die zum moralischen Kriterium der Beziehungen zwischen den Nationen hochstilisierte Schuldenfrage hatte schon nach Ende des Ersten Weltkriegs verhindert, dass Europa geeint wurde.

Zwei Positionen sind hier auszumachen. Da gibt es die aus der privaten Moral stammende Haltung: „Ja, wenn man sich Geld geliehen hat, muss man es doch zurückzahlen!“ Und da gibt es die praktische Haltung, die dem Schuldner die Zahlungsfähigkeit zu erhalten oder zurückzugeben sucht. Und es zeigt sich, so Robert Kuttner, dass der politische Umgang mit Schuldnern sehr verschieden sein kann: Es gibt Schuldner, denen die Schuld erlassen wird, und Schuldner, die in Schuldabhängigkeit gehalten werden. Auch wenn also Schulden zumindest in Hinblick auf die wirtschaftlichen Folgen nicht mehr als moralisches, sonders als praktisches Problem betrachtet werden, ist ihre frühere Gleichsetzung mit Sünde nach wie vor gelegentlich selbst im Wortschatz von Finanzministern zu finden, und Vorschläge für eine Entschuldung von privaten Hausbesitzern, Studenten oder auch von Griechenland treffen auf massiven Widerstand. Statt von Sünde ist dann allerdings meist davon die Rede, dass dadurch die verantwortungslose Schuldenaufnahme noch begünstigt werde. Die Krise, die ja vom privaten Bankensystem ausging und nicht von den Staaten, wird mitten in der Rezession mit Sparpaketen bekämpft, man generiert Verelendung und Karriereverluste, um Schaden von den dem Bankrott mit staatlicher Hilfe entgangenen europäischen Finanzinstitutionen abzuhalten. Heuchlerisch wird nun der „Markt“ betont und nicht die Gemeinsamkeit des „gemeinsamen europäischen Marktes“. Es fehlt ein politisch-strategischer Umgang mit Schulden, der die Spaltung Europas im Zusammenhang mit einer großen Erzählung vom zivilisierten europäischen Wohlfahrtstaat aufheben könnte.

Von neueren Spaltungen und Verwerfungen in der Wissenschaft berichtet Christian Fleck. Dafür verantwortlich sind Kommissionen, die sich auf Auswahlinstrumente wie beispielsweise den Impact Faktor verlassen und sich damit nicht nur in die Fallstricke privater, gewinnorientierter Unternehmen begeben, sondern auch nachhaltigen Schaden in der Wissenschaft anrichten können. Denn die Grundlage dieses Auswahlinstruments ist mehr als zweifelhaft: Entstanden als ein Nebenprodukt von Eugene Garfields Experimenten mit großen Datenmengen, gedacht, den Erfolg (impact) von Artikeln und Zeitschriften zu ergründen, wurde es aufgrund bestimmter induktiv gewonnener Qualitäten für verschiedene naturwissenschaftliche Disziplinen entwickelt und danach ohne weitere Prüfung auf andere Disziplinen übertragen. Fleck kommt zu einem harten Urteil: Weder die Definition der Disziplinen noch die Auswahl der Zeitschriften, die in das Web of Science beziehungsweise den Social Science Citation Index aufgenommen wurden, sind in einem wissenschaftlichen Sinne nachvollziehbar.

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Zu diesem Heft … 507

Ulrich van der Heyden
Anspruch und Wirklichkeit beim Umbau der außeruniversitären Forschung nach der Wende Das Beispiel des Forschungsschwerpunkts Moderner Orient …511

Manfred Bierwisch
Die Illusion einer „Stunde Null“
Wissenschaft und Wiedervereinigung … 528

Philip Manow
Die religiöse Konfliktlinie, die Spaltung der Linken und die Politische Ökonomie Südeuropas … 541

Thomas Faist
Zur transnationalen sozialen Frage: Soziale Ungleichheiten durch soziale Sicherung in Europa. Grenzübergreifende soziale Sicherung und Mobilität … 574

Robert Kuttner
Schulden, die wir nicht zahlen sollten … 599

Christian Fleck
Der Impact Faktor-Fetischismus … 611

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