Buchpreis: Essay Kategorie Mittelalterliche Geschichte

Von
Wolfgang Eric Wagner

Essay von Wolfgang Eric Wagner, Universität Rostock

„Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als Mensch?“, lässt Lessing seinen Nathan fragen. Dass dies keine zeitgebundene Frage ist, die nur Aufklärer bewegt hat, sondern eine, die heute noch die gleiche Aktualität besitzt wie ehedem, beweist die diesjährige Auswahlbewertung der Jury für mediävistische Veröffentlichungen des Jahres 2006. Menschen im Konflikt zwischen Religion und Religion oder zwischen Religion und Weltlichem – aus einem dieser Spannungsfelder bezieht jede der fünf bestplatzierten Monographien ihre Anziehungskraft für Leser. Freilich mit unterschiedlichen Zugriffen und, wo es die unvermeidliche Schwere von Gegenstand und Thema zuließ, auf beschwingtere Art, anderenfalls in der gebotenen ernsteren Weise.

Der Preisträger, Harald Müller, rückt mit seiner gedruckten Berliner Habilitationsschrift das ambivalente Verhältnis zwischen spätmittelalterlichem Klosterleben und Renaissance-Humanismus in den Blick. Der Aufschwung, den die antike Kultur in der europäischen Renaissance erlebte, wurde im 15. Jahrhundert so stark, dass er sogar über die hohen Mauern deutscher Klöster schwappte. Dort geriet das neu erwachte Bildungsinteresse an den alten Sprachen und den zwangsläufig heidnischen Autoren des klassischen Altertums allerdings mit dem kirchlich dominierten Wissenskanon in Konkurrenz. Anhand ausgewählter Briefwechsel humanistisch orientierter Mönche mit ausgewiesenen Humanisten beschreibt Müller mit leichter Feder die spannungsgeladene Beziehung von mittelalterlich-christlicher Kulturvorstellung und antikeorientierter Bildung. Ohne erst den theoretischen Methodenkoffer der Soziologen auszupacken, wie der Titel vermuten lassen könnte, aber sehr wohl mit dem nötigen Rüstzeug versehen, stellt er dabei in wohltuender Klarheit die spezifisch klosterhumanistischen Interessenfelder und ihre Nutzanwendungen vor. Der Selbststilisierung, wie sie die Freunde der antiken Gelehrsamkeit „draußen“ pflegten und die sie mit ihren latinisierten und besser noch gräzisierten Zunamen zur Schau trugen, waren im Kloster indes enge Grenzen gesetzt. Unterhaltsam sind daher neben der Belehrung vor allem jene Passagen, in denen Müller sich mit feinem, aber keineswegs verhöhnendem Humor den Unverträglichkeiten und Unannehmlichkeiten widmet, die der Versuch von Mönchen, an der kulturellen Welt der Humanisten teilzuhaben, mit sich bringen konnte. Geradezu tragikomisch mutet etwa das Schicksal des Augustiners Rutger Sycamber an, der sich durch seine ambitionierten Bildungsbemühungen in seinem Konvent völlig isoliert wähnte. Für seine Übungsreden, die er auf Anregung von Johannes Trithemius verfasst hatte, vermochte er lediglich das Mobiliar seiner Zelle und seine Schuhe als Zuhörer zu gewinnen. Durch Müllers Studie zur Gruppe der Klosterhumanisten wird die das spätmittelalterliche Europa prägende Bildungsbewegung nicht bloß um eine bislang unterbelichtete Facette bereichert, vielmehr lässt die eingenommene Perspektive auch das Gesamtphänomen ‚Humanismus‘ in einem anderen Licht erscheinen.

Auch der zweitplazierte Titel in dieser Kategorie hat ein großes europäisches Thema zum Gegenstand. Denn mit „Canossa“ meint Stefan Weinfurter nicht allein die rituellen Hintergründe der durch den Chronisten Lampert von Hersfeld ausgeschmückten Geschichte vom gewagten Übergang Heinrichs IV. und seines kleinen Gefolges über die winterlichen Alpen im Januar des Jahres 1077, der den König barfuß und im härenen Büßergewand vor das Tor der Burg Canossa führte, in die sich Papst Gregor VII. vor dem anrückenden Herrscher zurück gezogen hatte. Vielmehr geht es ihm um den epochalen Bruch in der frühmittelalterlichen Gedankenwelt, der in der Folge mit diesem Ereignis verknüpft wird. Mit dem routinierten, gedanklich klaren Duktus des Kenners der Epoche erklärt Weinfurter seinen Lesern auf fesselnde Weise diesen Prozess der „Entzauberung“, wie er ihn im Anschluss an Max Weber nennt, den grundlegenden Wandel in den Ordnungsvorstellungen von geistlicher und weltlicher Herrschaft, die zuvor als Einheit galten.

An einen breiteren Leserkreis richtet sich ebenso der monumentale Mittelalter-Band, den Michael Borgolte für die Reihe „Siedler Geschichte Europas“ geschrieben hat. Beeindruckend wirkt das Buch schon deshalb, weil sein Inhalt mal eben 1100 Jahre europäischer Geschichte überblickt und dabei neben den Anhängern der christlichen Religion nicht auch, sondern insbesondere deren Verhältnis zu den jüdischen und den islamischen Gläubigen berücksichtigt. Mit dieser interreligiösen Betrachtungsweise will der Autor gerade nicht, wie sonst zuweilen üblich, nur die Lücke zwischen Antike und Neuzeit füllen. Borgoltes Botschaft lautet: Wer die Spannungen und Widersprüche begreifen will, von denen das heutige Europa bewegt wird, sollte auch ihre Vorgeschichte kennen. Wem daran wirklich gelegen ist, der wird sich dieses grundlegende Werk nicht auf den Nachttisch legen, sondern dazu greifen!

Gleichfalls auf dem dritten „Treppchen“ landete die Druckfassung der Bonner Habilitationsschrift von Lotte Kéry. Aus historischem und kanonistisch-rechtshistorischem Blickwinkel behandelt sie erstmals monographisch, was das mittelalterliche Kirchenrecht zum Entstehen des öffentlichen Strafrechts beigetragen hat. Als Quellengrundlage dienen ihr Klassiker der Kanonistik, das „Decretum Gratiani“ (um 1140) und der „Liber Extra“ (1234), samt ihren wichtigsten Kommentaren sowie die Werke des Bernhard von Pavia. Kéry schildert, wie Kanonisten und Legisten Schritt für Schritt zur Unterscheidung von Buße und Strafe kamen, und erörtert, wie sich allmählich Strafmonopol und Legalitätsprinzip durchsetzten. So kann sie zeigen, dass bereits vor dem 12. Jahrhundert Ansätze zu einem kirchlichen Strafrecht existierten, die aber erst durch gelehrte Juristen systematisch wissenschaftlich ausgebaut wurden.

Der Autor des fünftplazierten Buches schließlich, Jean-Claude Schmitt, begibt sich wiederum in das Spannungsfeld zwischen den Religionen. Anders als der Titel suggeriert, steht dabei aber nicht die Bekehrung des Juden Juda zum Christen Hermann im Mittelpunkt und auch nicht die Frage, ob diese Geschichte aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts als Autobiographie, Fiktion oder wirkliches Geschehnis einzustufen ist. Schmitt will vielmehr die Produktionsbedingungen und die Funktion des Textes, der dem Kölner Juden Juda ben David ha-Levi zugeschrieben wird, klären. Als Urheber des Textes kann Schmitt ein „Autorenkollektiv“ ausmachen, das er mit der Stiftsherrengemeinschaft der neu gegründeten Prämonstratenser-Abtei Cappenberg bzw. einer Gruppe innerhalb des Ordens identifiziert. Die „interne Funktion“ des Textes habe darin bestanden, sich als spirituelle Vorzeigeabtei zu präsentieren, die sogar in der Lage war, ohne jeden Zwang einen Juden auf ihre Seite zu ziehen. Eine neue deutsche Übersetzung dieses spannenden Textes zum Nachlesen und Überprüfen wird, wie bei Reclam üblich, gleich mitgeliefert.

Vor und neben drei Werken „alter“ Meister konnten zwei Qualifikationsarbeiten in diesem Jahr vorderste und vordere Listenplätze in der Kategorie Mittelalterliche Geschichte einnehmen. Was könnte zusammen mit den hier kurz vorgestellten Inhalten wohl besser die Aktualität und Zukunftsfähigkeit des Faches belegen?

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2007“ wurden in der Kategorie Mittelalterliche Geschichte folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Müller, Harald, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen 2006. Rezension von Birgit Studt, H-Soz-u-Kult, 11.07.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-030>.
2. Weinfurter, Stefan, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006. Rezension von Bernd Schütte, H-Soz-u-Kult, 19.07.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-043>.
3. Borgolte, Michael, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2006. Rezension von Steffen Patzold, H-Soz-u-Kult, 08.11.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-109>.
3. Kéry, Lotte, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts, Köln 2006. Rezension von Christina Deutsch, H-Soz-u-Kult, 18.07.2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-045>
5. Schmitt, Jean-Claude, Die Bekehrung Hermanns des Juden. Autobiographie, Geschichte und Fiktion, Stuttgart 2006.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Mittelalterliche Geschichte, In: H-Soz-Kult, 17.07.2007, <www.hsozkult.de/text/id/texte-915>.
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