Gegen?Öffentlichkeit. Neue Wege im Dokumentarischen. 27. Internationaler Filmhistorischer Kongress

Gegen?Öffentlichkeit. Neue Wege im Dokumentarischen. 27. Internationaler Filmhistorischer Kongress

Veranstalter
CineGraph - Hamburgisches Centrum für Filmforschung e.v. Bundesarchiv in Zusammenarbeit mit dem DFG-Projekt "Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland (1945-2005)"
Veranstaltungsort
Gästehaus der Universität, Rothenbaumchaussee 34, 20148 Hamburg / Metropolis-Kino, Kleine Theaterstr. 10, 20354 Hamburg
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.11.2014 - 22.11.2014
Von
Erika Wottrich

Die Studentenrevolte 1968 veränderte die bundesdeutsche Gesellschaft tiefgreifend. Plötzlich wurde der konservative Obrigkeitsstaat grundlegend in Frage gestellt. Die 1960er Jahre brachten beiden deutschen Staaten eine Infragestellung ihres politischen Systems. Es entstanden Protestbewegungen, die in ihrer Aufmüpfigkeit das gesellschaftliche Klima bestimmten. Nach einer Entpolitisierung der Gesellschaft ist seit der Jahrtausendwende das Interesse – insbesondere von Jugendlichen – an Alternativen zum kapitalistischen System wieder gewachsen und Proteste gegen die totale Unterwerfung unter die Ökonomie mehren sich.

Diese gesellschaftlichen Umbrüche veränderten auch den Dokumentarfilm inhaltlich, technisch, ästhetisch, konzeptionell. Wurde er vor 1960 überwiegend mit schweren 35mm-Kameras gedreht, revolutionierten handliche 16mm-Kameras mit synchronem Ton die Näherung an die Wirklichkeit. Jede Inszenierung war verpönt. Man behauptete, die Realität wirklich zu zeigen. Dabei übersah man geflissentlich, dass der Dokumentarfilm ein künstlerisch gestaltetes Produkt blieb. Er lebt von seinem Autor, der Wahl des Sujets und der Montage, bei der aus vielen Stunden Filmmaterial der Dokumentarfilm herausdestilliert wird.

In den 1970er Jahren entstanden Medienkooperativen und Videogruppen, die dezidiert das Ziel hatten, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Denn über die Ziele der Protestbewegungen berichteten bürgerliche Medien nicht oder nur verzerrt. Nach Zeitungsprojekten entstanden zunächst im universitären Umfeld Radio- und Filmgruppen. Sie nutzten Videokameras, mit denen ganz anders gedreht werden konnte. Um ihre Produktionen der alternativen Öffentlichkeit zeigen zu können, wurden neue Vertriebsstrukturen geschaffen. Die Videogruppen verstanden sich als Teil der Bewegung und hatten überhaupt nicht den Anspruch, objektiv über Hausbesetzungen, Proteste gegen Atomkraftwerke oder die Friedensbewegung zu berichten.

cinefest 2014, das von CineGraph (Hamburg) und Bundesarchiv (Berlin) veranstaltete XI. Internationale Festival des deutschen Film-Erbes und der 27. Internationale Filmhistorische Kongress, stellen diesmal den Dokumentarfilm als »Gegenöffentlichkeit« in den Mittelpunkt. Inhaltlich beraten wurden sie vom DFG-Projekt zur Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland nach 1945, das an den Universitäten Hamburg und Potsdam sowie dem Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms angesiedelt und Mitveranstalter ist.

Jeder soll Filme machen können
Auf dem Kongress liefert das 1. Panel theoretische Grundlagen, denn die Videobewegung bezog sich auf Vorläufer der Weimarer Republik. Bert Brecht forderte in seiner Radiotheorie die Partizipation der Hörer am Programm: »Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln.« Einflussreich waren sowjetische Filmtheoretiker wie Dziga Vertov oder Sergej Tretâkov, die eine kollektive Produktion ohne Hierarchie forderten. Die Montage sollte Zusammenhänge aufdecken. 1964 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger seine kritische Analyse der »Bewußtseins-Industrie«. Oskar Negt und Alexander Kluge stellten 1972 in »Öffentlichkeit und Erfahrung« der bürgerlichen eine proletarische Öffentlichkeit gegenüber. Auf der Duisburger Filmwoche stritten Klaus Kreimeier und Klaus Wildenhahn, inwieweit man im Dokumentarfilm inszenieren darf.

»Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv«
Der deutsche Dokumentarfilm wurde stark beeinflusst von Debatten und Konzepten aus dem Ausland. Im 2. Panel soll dies am Beispiel von England und Frankreich diskutiert werden. Die Internationalität war ein Kennzeichen der Videogruppen und Medienzentren, deren Geschichte im 3.Panel nach einem Überblick der technischen Rahmenbedingungen im Detail vorgestellt werden sollen. Viele ihrer Filme begleiteten die Protestbewegungen und nahmen eindeutig Stellung. Dieser partizipative Ansatz zeichnet bis heute die alternative Medienarbeit aus. Vor allem das Internet ermöglicht nun eine globale Vernetzung und eine Aktivierung vor Ort.

Freund und Feind Fernsehen
Die Gegenöffentlichkeit schuf sich schon damals eigene Strukturen, wie im 4. Panel am Beispiel von Hamburg gezeigt werden soll. Selbst wenn das Selbstverständnis der Gruppen sich als Gegenöffentlichkeit definierte, kam es punktuell zur Zusammenarbeit mit Redaktionen öffentlich-rechtlicher Sender. Dies Verhältnis von Distanz und Nähe soll am Beispiel des NDR vorgestellt werden.

»Wir sind das Volk«
In der DDR gab es keinen Spielraum für Protestbewegungen. Und doch kann man sich wundern, wie offen einige der Protagonistinnen und Protagonisten in den Dokumentarfilmen der DEFA über die wirklichen Verhältnisse im realen Sozialismus sprechen. Diese Aussagen durchliefen ein ausgeklügeltes System der Kontrolle. Das 5. Panel diskutiert die Sonderstellung der Amateurfilmstudios, die gewisse Freiheiten genossen. Dass in der DDR ein kritisches Potential existierte, bewiesen die zahlreichen Dokumentarfilme zur Wende. Ein Seismograph der Befindlichkeiten des Volkes.

»Mein Bauch gehört mir«
Auch im Westen gab es gesellschaftliche Veränderungen. Exemplarisch wird dies im 6. Panel an der Frauenbewegung aufgezeigt, die zunächst gegen den § 218 kämpfte, der Abtreibung unter Strafe stellte. Daraus erwuchs ein neues Selbstbewusstsein, das in Dokumentarfilmen von Frauen deutlich wird; sie boten Alternativen zu einer von Männern dominierten Gesellschaft. Dies Vorbild ermutigte Schwule und Lesben, für ihre Interessen und gesellschaftliche Anerkennung zu kämpfen. Sie waren erfolgreich und sind heute ebenso wie die damaligen Protestbewegungen ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft.

Der 27. Internationale Filmhistorische Kongress ist integraler Bestandteil des XI. cinefest – Internationales Festival des deutschen Film-Erbes (15.–23.11.). Er wird am Abend des 19.11.2014 im Metropolis-Kino eröffnet. Während der Veranstaltung werden auch die Willy-Haas-Preise für eine bedeutende internationale Publikation (Buch und DVD) verliehen.
Die Vorträge des Kongresses finden vom 20.–22.11., jeweils von 9.30–16.00 Uhr, im Gästehaus der Universität statt. Referenten und Teilnehmer aus dem In- und Ausland vertiefen in Vorträgen und Diskussionen (Kongress-Sprachen: Deutsch oder Englisch) das Thema des Festivals in sechs thematisch abgestimmten Panels. Ab 17.00 Uhr laufen im Metropolis-Kino die Filmvorführungen, die die Vorträge ergänzen.

Die Vorträge des Kongresses werden in überarbeiteter Form anschließend in einem CineGraph Buch veröffentlicht.

Anmeldung hier: http://cinefest.de/d/akkreditierung.php

Weitere Informationen auch unter: http://www.cinefest.de

Programm

Mittwoch, 19. November 2014

Metropolis-Kino (Kleine Theaterstr. 10)
17:00 OBRAZY STARÉHO SVETA (BILDER EINER ALTEN WELT, CS 972, Dušan Hanák), 79 min, OmU
Gast: Dušan Hanák

19:30 Kongress-Eröffnung mit Verleihung der Willy Haas-Preise
Eröffnungsfilme:
IHRE ZEITUNGEN (D 1968, Harun Farocki, Regie-Assistenz: Helke Sander), 18 min
DAS IST NUR DER ANFANG – DER KAMPF GEHT WEITER (BRD 1968/69, Claudia von Alemann), 45 min
Gast: Claudia von Alemann

Im Anschluss laden wir zu einem Umtrunk ein.

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Donnerstag, 20. November 2014

Gästehaus der Universität (Rothenbaumchausee 34)

09:30 Begrüßung

09:45 – 12:45 Panel 1: GRUNDLAGEN: DOKUMENTARFILM, ÖFFENTLICHKEIT & ERFAHRUNG
- Thomas Weber, Hamburg: Gegenöffentlichkeit, unanschaulich. Eine Einführung in die Inanspruchnahme des Begriffs
- Klaus Kreimeier, Berlin: Gegenöffentlichkeit? - Achtundsechzig: Die wilden Anfänge
- Britta Hartmann, Berlin: Die Kreimeier-Wildenhahn-Debatte, 25 Jahre später. Eine Nachlese

14:00 – 16:00 Panel 2: INTERNATIONALE VORBILDER: PROTESTE & VERNETZUNG
- Julian Petley, London: Taking Sides. The Documentary and Industrial Conflict in 1970s and 1980s Britain
- Thomas Tode, Hamburg: Gegenöffentlichkeit in Frankreich: Der Fall Chris Marker

Metropolis-Kino

17:00 STARBUCK HOLGER MEINS (D 2001 Gerd Conradt), 90 min
Einführung: Christian Hißnauer, Göttingen
Gast: Gerd Conradt

19:30
WÄSCHERINNEN (DDR 1972, Jürgen Böttcher), 27 min
WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN (DDR 1989, Helke Misselwitz), 52 min
Einführung: Britta Hartmann, Bonn

21:15 SANS SOLEIL (F 1982, Chris Marker), 100 min, DF
präsentiert von Bernard Eisenschitz, Paris, und Thomas Tode, Hamburg

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Freitag, 21. November 2014

Gästehaus der Universität

09:30 – 12:30 Panel 3: GEGENÖFFENTLICHKEIT: VIDEOGRUPPEN & PROTESBEWEGUNGEN
- Kay Hoffmann, Stuttgart: Die Technik verändert den Dokumentarfilm. Neue Formen durch synchrone 16mm- und Video-Kameras
- Wolfgang Stickel, Freiburg: Videobewegung und Bewegungsvideos. Politische Videoarbeit der Medienwerkstatt Freiburg in den 1980er Jahren
- Malte Voß, Berlin: Videoaktivismus und Social Media – politische orientierte Medienarbeit mit Video im Web 2.0

14:00 – 16:00 Panel 4: HAMBURGER MEDIENLANDSCHAFT: ALTERNATIV & ETABLIERT
- Gerd Roscher, Hamburg: Wir machen unsere Filme selbst! Basiskultur und Gegenöffentlichkeit in den siebziger Jahren
- Hans-Ulrich Wagner, Hamburg: (Un)begrenzte Möglichkeiten? Der NDR und das Dokumentarfilmschaffen in den 1960/70er Jahren

Metropolis-Kino

17:00 British Film in Oppostion:
UPPER CLYDE SHIPBUILDERS / USC I (DIE WERFTARBEITER VON DER UPPER CLYDE) (GB 1971, Cinema Action), 23 min, DF / THE MINERS‘ CAMPAIGN TAPES. EP: NOT JUST TEA AND SANDWICHES. EP: THE LIE MACHINE (GB 1984), 25 min, OmU / WHICH SIDE ARE YOU ON? (GB 1984, Ken Loach), 53 min, OmU
präsentiert von Julian Petley, London

19:15 feedforward – hamburger medienzentren 1973 bis heute abend.
Gespräch zwischen *durbahn (bildwechsel), Ulrike Gay (mpz), Christian Bau (die thede)
mit Filmausschnitten

21:15 EIFFE FOR PRESIDENT. ALLE AMPELN AUF GELB (D 1995, Christian Bau), 65 min
Einführung: Swenja Schiemann, Hamburg
Gast: Christian Bau

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Samstag, 22. November 2014

Gästehaus der Universität

09:30 – 11:30 Panel 5: KEIN WIDERSPRUCH: SUBVERSIVITÄT & DDR
- Ralf Forster, Berlin: Grenzen ausloten, Freiräume schaffen: Kritische Tendenzen im DDR-Amateurfilm
- Matthias Steinle, Paris: Zwischen ICH WILL EIN FREMDER BLEIBEN (1990) und AUSGERECHNET BANANEN (1991). Wechselseitige Blicke von Ost und West in Wendedokumentarfilmen

13:00 – 15:00 Panel 6: KAMPF UM ANERKENNUNG: FEMINISMUS & SCHWUL-LESBISCHE BEWEGUNG
- Ursula von Keitz, Potsdam: Die Frauenbewegung in den 1980er Jahren [Arbeitstitel]
- Daniel Kulle, Hamburg: »Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!« Film und die Schwulenbewegung der 1970er Jahre

15:15 – 16:00 Abschlussdiskussion

Metropolis-Kino

17:00 Ein Nachmittag mit Lutz Dammbeck
EINMART ( DDR 1980/81), 15 min / 1. LEIPZIGER HERBSTSALON (DDR/D 1984-87), 20 min / HOMMAGE À LA SARRAZ (DDR 1981), 12 min / Ausschnitte aus REALFILM (D 1986/2008)
Gast: Lutz Dammbeck

19:00 IT HAPPENED HERE (GB 1956-64, Kevin Brownlow, Andrew Mollo), 101 min, OF
Gast: Kevin Brownlow

21:45 LEIPZIG IM HERBST (DDR 1989, Andreas Voigt, Gerd Kroske), 53 min
Einführung: Evelyn Hampicke, Berlin
Gast: Andreas Voigt

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Sonntag, 23. November 2014

Metropolis-Kino

12:00 ČESKÝ SEN (CZ 2003/04, Vít Klusák, Filip Remunda), 90 min, OmU
Einführung: Michal Bregant, Prag

14:30 OVERLORD (GB 1975, Stuart Cooper), 84 min, OF
Einführung: Volker Hummel, Hamburg.
In Kooperation mit Bizarre Cinema

16:30 GORLEBEN: DER TRAUM VON EINER SACHE (D 1980/81, R. Ziegler, N. Bolbrinker, B. Westphal) 114 min
Einführung: Kay Hoffmann, Stuttgart
Gast: Niels Bolbrinker

19:00 S’WESCHPE-NÄSCHT (D 1982, Regiekollektiv: medienwerkstatt freiburg), 112 min
Einführung: Kay Hoffmann, Stuttgart
Gast: Didi Danquart

21:30 DIE ÜBERLEBENDEN (D 1994-96, Andres Veiel), 92 min
Einführung: Kay Hoffmann, Stuttgart
Gast: Andres Veiel

Kontakt

Erika Wottrich
Swenja Schiemann

http://www.cinefest.de