Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa

Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa

Organisatoren
Christiane Winkler; Johannes Wienand; Christian Augustin
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.04.2005 - 23.04.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Karsten Lehmann, Religionswissenschaft II, Univ. Bayreuth

Die historischen Traditionen sowie die gegenwärtigen Ausprägungen religiöser Toleranz lieferten den Hintergrund für die Debatten des hier protokollierten 3. Konstanzer Europakolloquiums. Es ging den Organisatoren (Christiane Winkler, Johannes Wienand und Christian Augustin) vor allem um die Frage, inwieweit religiöse Toleranz unter den Bedingungen eines religiösen Pluralismus in Europa möglich war und ist. Diese Fragestellung leitete auch die Auswahl der Referentinnen und Referenten aus unterschiedlichsten Disziplinen, die ihre Forschungsergebnisse und Positionen zur Diskussion stellten.

Der folgende Tagungsbericht folgt dieser Konzeption und versucht die wichtigsten Diskussionsbeiträge zu skizzieren:

Die eher historischen Beiträge umfassten: M. SALEWSKI, "Europa - der tolerante Kontinent"; C. FRATEANTONIO: "Das Erbe des antiken Pluralismus"; A. PATSCHOVSKY: "Das Erbe des Mittelalters - Intoleranz und Toleranz des Christentums"; W. WÜST: "An der Konfessionengrenze - Der frühmoderne ‚Ernstfall' für Aufklärung, Toleranz und Pluralismus"; W. BENZ: "Faschismus und Nationalsozialismus - Die Folgen für das Verständnis von Pluralismus und Toleranz in Europa".

Die historisch argumentierenden Referierenden unterstrichen mit ihren Beiträgen zunächst den Reichtum der europäischen Geschichte an religiöser Pluralität; ihre Grenzen sowie ihre Potenziale (Salewski). Sie verwiesen auf unterschiedliche (dominante wie marginale) Formen des Umgangs mit dieser Pluralität (Patschovsky), die in der europäischen Geschichte wirksam waren. Als besonders aussagekräftige Beispiele wurden die antiken Stadtstaaten behandelt, deren offensichtliches Nebeneinander von Kultbildern und -gebäuden durch Faktoren wie Gruppenzugehörigkeit, Stand, Bildung und regionale Herkunft wie durch mehrere Filter getrennt wurden (Frateantonio). Ein weiteres (auch hier interessanterweise kommunales) Beispiel lieferten die gemischtkonfessionellen Reichstädte mit ihrem strikten paritätischen System, welches in zeitgenössischen Berichten oft als lächerlich und intolerant beschrieben wurde, sich aber über einen erstaunlich langen Zeitraum halten konnte (Wüst). Schließlich war es die deutsche Erfahrung mit der Shoah, die nicht nur die Grenzen der Toleranz, sondern auch die Bearbeitung dieser Grenzüberschreitung haben thematisch werden lassen (Benz).

Die Theorie repräsentierten: K. v. STUCKRAD: "Die Mär vom christlichen Abendland: Vom unaufhaltsamen Abstieg einer Meistererzählung"; R. FORST: "Der Begriff der Toleranz"; G. KÜENZLEN: "Europa und die Religion - Einige Anmerkungen".

Eine abstraktere Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte verdeutlichte Leerstellen der gegenwärtigen Diskussion: (1) Die europäische Religionsgeschichte lässt sich neu interpretieren, sobald man religiöse Pluralität und die Interferenzen zwischen religiösen Symbolsystemen als Normalfall und nicht als Sonderfall auffasst (v. Stuckrad). (2) Der Begriff der Toleranz gewinnt an Prägnanz, sobald man seine inhärenten Kernkonzepte (Ablehnung, Akzeptanz und Zurückweisung) in den Blick nimmt und unterschiedliche Toleranzkonzeptionen unterscheidet (Forst). (3) Im Rahmen einer gegenwartsbezogenen Analyse stellt sich die Frage nach der kulturellen Kompatibilität unterschiedlicher religiöser sowie säkularer Konzepte (Küenzlen).

Um Pluralismus und Toleranz aus subjektiver Sicht ging es: C: SCHWÖBEL: "Pluralismus und Toleranz aus Sicht des Christentums"; A. HARTMANN: "Pluralismus und Toleranz aus Sicht des Islam"; A. GOOTZMANN: "Pluralismus und Toleranz aus Sicht des Judentums"; H. ZINSER: "Pluralismus und Toleranz aus Sicht einer religiösen Minderheit"; A. GROSSER: "Pluralismus und Toleranz aus Sicht des atheistischen Humanismus".

Weltanschauungen haben in ihrer Geschichte verschiedene Positionen zu Fragen der religiösen Toleranz formuliert und dieses weite Feld wurde in mehreren Vorträgen bearbeitet: Liberale Theologen können heute vom grundlegenden pluralistischen Charakter des Christentums sprechen. So lassen sich, wenn schon kein common ground, so doch vielleicht common aims formulieren (Schwöbel). Die Tradition des Korans kennt traditionellerweise keinen eigenen Toleranzbegriff, bietet aber Ansatzpunkte für eine entsprechende Diskussion (Hartmann). Innerhalb des deutschen Judentums lassen sich im Laufe einer langen Geschichte des inner- wie außerjüdischen Pluralismus eher ambivalente Positionen beobachten (Gotzmann). Der atheistische Humanismus sieht sich in der direkten Tradition der Aufklärung und damit als Hüter der Toleranz (Grosser). Neue religiöse Gruppierungen schließlich können als Testfälle für den Umgang mit Toleranz herangezogen werden (Zinser). Diese genannten Positionen spiegelten die unterschiedliche Verortung der Referentin und der Referenten, die sowohl Innenansichten wie auch historische Interpretationen und eher kritischen Kommentare präsentierten.

Die rechtliche und gesellschaftlich-politische Situation sprachen an: G. ROBBERS: "Religiöser Pluralismus und Toleranz in den europäischen Rechtssystemen"; C. LEGGEWIE: "Religion und Politik"; R. DOLLASE: "Die gesellschaftliche Akzeptanz des religiösen Pluralismus".

Die rechtliche und politische Diskussion bezog vor allem die großen Antagonismen in ihr Kalkül mit ein, die dieses Feld prägen: Lassen sich innerhalb des europäischen Rechtsraums drei große Traditionen des Umgangs mit religiöser Pluralität (strikte Trennung, staatskirchliche Systeme und Kooperationsmodelle) beobachten, so macht eine genauere Analyse deutlich, wie sich diese Modelle in der Rechtspraxis miteinander vermischen können. Toleranzgesetzgebung kann ganz unterschiedliche Formen annehmen (Robbers). Vergleichbares gilt in Bezug auf das Verhältnis zwischen Islam und westlichem Rechtssystem, auch hier würde es zu fatalen Irrtümern führen, würde man die verschiedenen muslimischen Traditionen vorschnell als Einheit interpretieren. In Bezug auf den ‚Einbau' des Islams gilt es neben dem innermuslimischen Pluralismus auch den institutionellen Rahmen der christlichen Kirchen und die Besonderheiten des türkischen Islams in die Analyse ein zu beziehen (Leggewie). Auch die Einschätzungen der eigenen sowie fremder Gruppen und Individuen unterscheiden sich von Individuum zu Individuum maßgeblich. Die Theorie der sozialen Identität sowie eine in dieser Tradition formulierte Kontakttheorie können hier weitere Horizonte eröffnen (Dollase).

Modelle für die Zukunft Europas entwarfen: B. ENNKER: "Alternativen zum Clash of Civilizations - Weltethos und interreligiöser Dialog"; E: GRANDE: "Europa neu erfinden - Eine kosmopolitische Vision".

Das Kolloquium endete mit zwei stärker visionär konzipierten Vorträgen. Zukunfts-Modelle können entweder (1) bei den religiösen Traditionen selbst ansetzen. Das Küng'sche Projekt Weltethos nimmt für sich in Anspruch, die Gefahren eines Clashs of Civilizations ernst zu nehmen, ohne sie über zu bewerten. Es stellt den kulturellen Konfliktpotentialen ein friedliches religiöses Ethos gegenüber (Ennker). Einen weiteren Ansatzpunkt liefert (2) die Debatte um die Verfasstheit der EU. Möglicherweise müssen zukünftig institutionelle Regelungen diskutiert werden, die eine zunehmende innereuropäische Pluralisierung erst möglich machen. Einige Facetten eines solchen Konzepts wurden unter dem Begriff ‚kosmopolitisches Europa' vorgestellt und debattiert (Grande).

Fazit: Die hier nur stichwortartig wiedergegebenen Diskussionsbeiträge konnten die eingangs aufgeworfenen Fragen unmöglich in Gänze beantworten. Die Komplexität der europäischen Geschichte lässt sich im Rahmen eines Kolloquiums ebenso wenig einholen, wie die unterschiedlichen religiösen, politischen oder nationalen Perspektiven. Auch die Frage nach dem zentralen Gehalt von Toleranz ließ sich natürlich nicht abschließend beantworten. Trotzdem waren es vor allem diese Punkte, die von allen Teilnehmenden immer wieder diskutiert und debattiert wurden. Besonders die normativen Aspekte religiöser Pluralisierung und Toleranz haben die Diskussion geprägt. Abschließend nun vier Punkte, die im Rahmen der Diskussionen zwar genannt, aber eher en passant behandelt wurden:

- Die Frage nach den Grenzen der Toleranz ist eine Frage der Dogmatik, der Politik oder der Philosophie, sie ist aber auch eine Frage der religiösen Alltagskultur und ihrer je spezifischen Träger. Diese Aspekte sollten noch weiter berücksichtigt werden.

- Gerade juristische, philosophische und theologische Analysen sollten vermehrt auf die je spezifischen historischen und regionalen Kontexte ihrer Gegenstände eingehen. Es haben sich innerhalb Europas sehr unterschiedliche Traditionen etabliert, die es zu unterscheiden gilt.

- Moderne religiöse Pluralisierungsprozesse gehen häufig mit reziproker Kritik einher: So stellen etwa (a) die Menschenrechte einzelne religiöse Grundsätze und (b) unterschiedliche religiöse Traditionen die Universalität der Menschenrechte in Frage.

- Die Diskussion um religiösen Pluralismus und Toleranz wird von diskurstheoretischen Ansätzen geprägt. Diese diskursive Perspektive muss dem "Macht"-Aspekt seinen strukturellen Platz zukommen lassen.

[Vgl. auch den zweiten bei H-Soz-u-Kult erschienenen Bericht zu der Tagung unter:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=782]