Nebeneinander - Miteinander - Füreinander. Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa

Nebeneinander - Miteinander - Füreinander. Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa

Organisatoren
3. Konstanzer Europakolloquium Christian Augustin Johannes Wienand Christiane Winkler
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.04.2005 - 23.04.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Simone Neuber

Nicht erst seit dem 11. September 2001 stellt sich die Frage nach dem Miteinander der Religionen, doch dieses Datum ist wohl die Chiffre ihrer kontemporären Virulenz. Ist es in der derzeitigen Welt überhaupt möglich, Konzepte für ein Miteinander monotheistischer Religionen zu entwerfen oder zeigt nicht die Weltlage etwas ganz anderes, so dass derartige Versuche unmittelbar ins Utopische kippen? Diese Fragen hat auch das 3. Konstanzer Europakolloquium vom 21.-23. April 2005 für sich entdeckt, nicht aber ohne, wie schon sein Name verrät, diese an einen sehr konkreten Topos zu binden, nämlich an Europa.

Kommen unter anderem Religionswissenschaftler, Historiker, Philosophen, Theologen, Politologen und Juristen zusammen, um konkret die Frage nach dem religiösen Miteinander zu stellen, so zeigt sich ein derart vielschichtiges Thema nicht nur in seiner Differenziertheit belichtet und damit zur adäquaten Erörterung freigelegt, sondern die Diskussion ist von Beginn an dazu angleitet, durch ihre Interdisziplinarität zum einen an der Skylla der bloßen Intradisziplinarität vorbeizuschiffen, zum anderen aber auch - dank der hochkarätigen Referenten - die Charybdis der bloßen Doxa zur Thematik zu umfahren. Als konkretes Opfer der doxa-dekonstruktivistischen Diskussion erwies sich dann auch bald schon ein Teil des Titels selbst - die Toleranz, die sich als janusköpfiger Leerbegriff zwischen Anerkennung und Machtmanifestation entpuppen sollte.

Dem nun schon zum dritten Male teilnehmenden Professor Emeritus Michael Salewski war vorbehalten, in einer Paarung aus Wissen und rhetorischer Kunst in das Thema einzuführen und die ersten - nicht unprovokanten Worte - in den Diskussionsraum zu stellen. In der Äußerung "Ich toleriere Andersdenkende" hörten wir ganz andere Töne als in einem dahingeworfenen "Ich toleriere meine Frau". Könne derselbe Begriff denn einmal "positiv", das andere Mal "negativ" besetzt sein? Salewski zufolge weist auch das positiv konnotierte erste Beispiel einen Grad an "Herablassung" und "Nicht-für-voll-Nehmen" auf, das dem Toleranzbegriff als solcher eigen sei. Toleranz als Machtprivileg. Eine Alternative könne daher nur eine inhaltliche Toleranz darstellen, also eine Summe aus Duldung plus Anerkennung, die sich dem "Dulden heißt Beleidigen" entziehe.

Den ersten Themenblock mit der Überschrift "Geschichte" einleitend versuchte Christa Frateantonio (College de France, Paris), das Imperium Romanum als Paradebeispiel für realfunktionierenden Pluralismus und Toleranzpraktiken zu entidealisieren. Frateantonio wies darauf hin, dass es sich als schwierig gestalte, von einer Toleranz Andersgläubiger im Hinblick auf die römischen Kulte zu sprechen: Weder bedeute Kult notwendig Glauben noch lasse sich beim Nichtwissen um andere Praktiken von Toleranz sprechen. Mit einem Blick auf das Alte Griechenland zeigte sie, dass das agonale Ethos der Griechen sich auch auf deren Kultpraktiken erstreckte, so dass ein Gegeneinander weniger einen Abfall des Anderen vom rechten Glauben bedeutete, als vielmehr die Perfektibilität des Kultus als solchen indizierte.

Mit seinem fundierten Blick aufs Mittelalter barg Alexander Patschovsky die intellektualistischen Wurzeln der Toleranz bei Augustinus und später auch Tomas von Aquin. Mit patientia und sustantia gewinne bei Augustinus das Leidenspostulat im Christentum an Prominenz; das Dulden werde nicht nur ein Dulden der eigenen Weltlichkeit, sondern auch ein Erduldenmüssen der "Anderen". Sei das Christentum aber einmal als Erleidenmüssen postuliert, so werde der Andere vom bloß Unwesentlichen zum integralen Bestandteil des Systems selbst - Dulden funktioniere schließlich nur dort, wo es Zu-Erduldene gebe. Damit seien die "Anderen" zwar als Teil der eigenen christlichen Identität integriert, doch auch ihre Position definiere sich von da ab klar und negativ: Das Geduldete werde zum hierarchisch Untergeordneten - oder, geschichtsphilosophisch gewendet, zum daseienden "Noch nicht", das sich aber potentiell zum rechten Glauben bekehren lasse.

Vom kontinentalen Fokus zoomte der Erlanger Historiker Wolfgang Wüst auf den frühmodernen "Ernstfall" für Toleranz und Pluralismus, nämlich auf die sich im Zuge der konfessionellen Spaltung entwickelnde Situation in Augsburg, um zu zeigen, dass das Augsburger Toleranzmodell der Religionsparität alles andere als einheitlich gesehen wurde. In der Tat waren im Zuge der Pax Augustana engagierte Gegenaufklärer am Werke, die nicht einmal große Mühe hatten, das Volk aufzuwiegeln, sondern durchaus auf offene Ohren stießen. Die Gleichstellung ließ zwar einen damaligen Verfasser ausrufen: In Augsburg hat also die Parität bis auf den Strasenkoth Einfluß; von wirklicher Toleranz aber war man weit entfernt, was daran erinnert hat, dass mit einfachen Gleichheitsgrundsätzen, so wichtig sie auch sind als Grundlage für Anerkennung, noch lange die nicht die Anerkennung selbst forciert werden kann.

Den Schlussakzent des Themenblockes legte der Vortrag des Berliner Historikers Wolfgang Benz auf den faschistischen, bzw. nationalsozialistischen Staat, wobei vor allem die Folgen für Europa im Vordergrund stehen sollten. Benz betonte nochmals, der totale Staat anerkenne Intoleranz als Prinzip; die einzige Bestimmung, die er sich zuschreiben könne, sei negativ. Durch Etablierung der Befehls-Gehorsams-Diktatur auf allen Ebenen sei während des Nationalsozialismus der individuelle Wille frühzeitig gebrochen worden, Arbeitsdienste selbst in den instrumentalisierten Dienst gerückt, nämlich in den Dienst zur Erziehung zu Intoleranz. Aufgrund der festzementierten Gleichheit des kollektiven Willens, sah Benz die zur Erinnerungskultur werdende anfängliche "Erziehungsdiktatur" der Besatzungsmächte auch auf drei Ebenen operativ: moralisch, emotional und pädagogisch, wobei die wesentliche Immunisierung gegen eine mögliche Wiederholung über die Emotionalität zu laufen hatte und auch jetzt noch habe. Am Ende des Vortrages zeigte sich, dass auch der wissenschaftliche Diskurs gegen die Kraft der Tagebucheintragungen der Anne Frank relativ immunisierungszahm bleibt.

Nachdem der zweite Themenblock "Theorie" die Geschichte Geschichte werden ließ, trat diese mit dem ersten Vortrag auch in die Phase ihrer Revision ein. Unter dem Titel "Die Mär vom christlichen Abendland" wandte sich Kocku von Struckrad (Rotterdam) gegen diese "Meistererzählung", der jegliche historische Grundlage abhanden komme. Das Abendland geht nicht unter - es war nie auf hoher See. So lasse sich weder die Aufklärung noch die Industrialisierung für die angebliche Säkularisierung verantwortlich machen. Als Alternativerklärung für Europa protegierte von Stuckrad ein pluralistisches Modell, dessen organisierte Differenz er für das wesentliche Strukturelement der europäischen Kulturgeschichte hielt. An die Stelle des plötzlichen Säkularisierungsprozesses träten seiner These zufolge "diskursive Transfers", die aus neuen potentiellen Sinnressourcen, unter anderem auch Wissenschaft und Kunst, schöpften. Sinn gehe nicht verloren, sondern werde nur reorganisiert.

Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst zeigte wie sein Vorredner die wissenschaftliche Exzellenz der jungen Dozentengeneration. In seinem präzisen Vortrag untersuchte er den "Begriff der Toleranz", dessen sui generis Wertschätzung er die Grundlage zu nehmen gedachte. Forst definierte den Toleranzbegriff über drei Komponenten (Zurückweisung, Akzeptanz und Zurückweisung) und stieß entsprechend auf drei Paradoxien der Toleranz: auf den toleranten Rassisten, das moralische Gebot, das für nichtmoralisch Gehaltene zu tolerieren und schließlich auf die Bestimmtheit der Toleranz durch den Ausschluss der Intoleranz, wodurch sie selbst in die Intoleranz kippe. Derart formal definiert werde "Toleranz" für sich betrachtet ebenso wertneutral wie der Begriff der "Demokratie" und bedürfe der inhaltlichen Ausgestaltung durch Gerechtigkeitsprinzipien oder eine Respekt-Konzeption. Forsts aufklärerischer Appell richtete sich an die Kritik der reinen Vernunft durch sich selbst, also auf die Selbstrelativierung der eigenen Standpunkte und die Anerkennung nur dessen, was sich selbst als hinreichend begründet ausweisen könne. Derart löse sich das Dilemma des toleranten Rassisten nicht durch einen Appell an seine weitere Toleranz, sondern durch seine Einsicht in die Unbegründetheit des eigenen Standpunktes.

In seinem kontrovers diskutierten Vortrag "Europa und die Religion" ließ der evangelische Theologe der Bundeswehruniversität München keinen Zweifel an der Bedeutung des bestimmten Artikels im Singular und stellte das Christentum als die eindeutige Herkunftsreligion Europas dar. Auf Grundlage dieser ersten These ging es ihm im Folgenden um die Konsequenzen der "Teilislamisierung Europas" und ihre kulturellen wie auch rechtlichen Probleme, die eine, nach Küenzlen, nicht in allen Zügen verfassungskonforme religiöse Gesetzgebung nach sich zieht. Treffe eine "in sich sichere Religion" (Islam) auf ein partikularistisches und alle Verbindlichkeit zunehmend hinter sich lassendes christliches Europa, so ergäben sich Gefahren, die der wissenschaftliche Diskurs und das Konzept der political correctness gerne ausklammern wolle.

Auch der dritte Themenblock "Pluralismus und Toleranz aus subjektiver Sicht" begann mit dem Vortrag eines Theologen, der sich um den Standpunkt des Christentums bemühte. In seinem differenzierten und inspirierenden Vortrag hob der Tübinger Christoph Schwöbel die Notwendigkeit der konvivenzorientierten Kooperation der Religionen unter dem Schlagwort "no common ground but common aims" hervor. Das Christentum sei dabei nicht nur zur Ausgestaltung des "common aim" Pluralismus aufgerufen, sondern durch seine Eigenstruktur spezifisch dazu in der Lage: schließlich handle es sich hierbei um eine selbst pluralistisch definierte Religion, die sich weder sprachlich noch territorial binden lasse. Den genuin "protestantischen" Beitrag verortete Schwöbel in der spezifisch religiös legitimierten Vielheit. Aus der Unverfügbarkeit der eigenen Glaubensgewissheit verliere Wahrheit nicht ihre Verbindlichkeit, wohl aber ihre aktive Konstruiertheit. Erst aus dieser Passivität aber ergebe sich eine im Glauben selbst fundierte Toleranz, deren Grenzen sich durch Absolutismen definierten.

Sprechen wir gerne von "dem" Islam, so war das Anliegen der Islamwissenschaftlerin Angelika Hartmann aus Gießen, diese Bestimmtheit in ihre Vielschichtigkeit zu brechen. Verschiedene Suren dienten Hartmann als Prisma, das, gegen die Zeit kämpfend, in die Schwierigkeiten der unmittelbaren Übertragung in andere Begrifflichkeiten einführen sollte. Die Unmöglichkeit des Zwangs zur Religion erweise sich nicht als Verbot des Zwanges, sondern als Einsicht in die Kraftlosigkeit des menschlichen Zwingens, das dieses aber sehr wohl legitimiere. Hartmann hütete sich, das interpretatorisch Nächstliegende als verbindlich aufzufassen. Lasse sich die Interpretationsfreiheit nun zwar (u.a. auch fundamentalistisch) instrumentalisieren, so liege aber auch gerade in ihr der Kern zu einer Versöhnung der verschiedenen Religionen. Mythische Sichtweisen oder die Betonung des versteckten "inneren Sinnes" seien durchaus historisch verankert und böten daher Anknüpfungspunkte für eine Reformation durch die Tradition selbst.

Hatte Hartmanns Vortrag noch potentiell pluralistische Wurzeln freigelegt, so war es an ihrem Nachredner, dem Judaisten Andreas Gotzmann (Erfurt) diese für das Judentum als illusorisch darzustellen. Sei schon bei Kant das Judentum unter der Rubrik "Staatssystem" subsummiert gewesen, so dass ein Miteinander zum Paradox des Staates im Staat werde, so gelte diese Unvereinbarkeit um so mehr für streng religiöse Juden. Man dürfe christlich-jüdische Dialoge nicht als Gegenargument verbuchen, da diese gelebte Interreligiosität nur einige Bereiche affiziere, vielmehr aber zu einer intrareligiösen Spaltung führe.

Eine ganz andere Sicht auf das, was Religion bedeuten kann, nahm der Religionswissenschaftler und Ethnologe der FU Berlin Hartmut Zinser ein. Aus seiner Erfahrung als Mitglied der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" illustrierte er mit Beispielen aus Deutschland und den USA die marktwirtschaftliche Seite der Religionen, die sich über den spirituellen Bedarf regle. Feste Bindungen werden durch den jeweiligen Nutzen ersetzt, worauf in Form eines religiösen Verbraucherschutzes zu reagieren sei.

Als Ehrengast hatte das Europakolloquium den Soziologen, Politologen und Publizisten Alfred Grosser gewonnen, der aus der Sicht eines jüdisch geborenen und chrsitlich sozialisierten Atheisten ein Plädoyer für den Humanismus hielt. Auch Grosser betonte die Unabdingbarkeit Kants, um die eigene Identität distanziert zu betrachten, wodurch sich überhaupt erst die Fähigkeit einstelle, die eigene Identität als vielgestaltig zu erfahren. Man sei eben nicht nur "Jude" oder "Christ" und daher niemals durch einen beschuldigen Zeigefinger stigmatisierbar, sondern über diese Festlegung immer schon hinaus - und das gelte selbstverständlich auch für den Anderen, dessen Anderssein Bedingung seiner Freiheit sei.

Den vierten Themenschwerpunkt "Die rechtliche und politische Situation" eröffnete der Staatsrechtler und politische Philosoph Gerhard Robbers (Trier) mit einem Ritt durch die europäischen Staatssysteme und die verschiedenen Stellungen von Kirche und Staat zueinander: laizistische Systeme, staatskirchliche und kooperative Modelle. Bei einem Blick auf die Finanzierung aber erwiesen sich Staatskirchen oftmals als unabhängiger denn laizistische Systeme - und dasselbe gelte auch für Fragen der religiösen Toleranz. Das Vereinigte Königreich habe beispielsweise eine Staatsreligion; dennoch aber stelle sich die die Kopftuchfrage kaum, so dass sich ein direkter Rückschluss von der staatlichen Organisation auf Toleranzfragen nicht erlaube. Hinsichtlich der kontemporären Entwicklung diagnostizierte Robbers eine Mediävisierung mit sich stetig verringernder Bedeutung von Staatsgrenzen. Anstelle der universalistischen Sichtweise trete eine partikularistische Orientierung.

Der Gießener Politologe Claus Leggewie erfüllte in seinem souveränen Vortrag zu "Religion und Politik am Beispiel des Islam in Deutschland" die hohen Erwartungen, indem er nicht nur die derzeitige Situation des vor allem türkischen Islams in Deutschland unter die Lupe nahm, sondern auch nach integrativen Lösungsstrategien suchte. Einen Ausweg böte unter anderem eine zunehmende Amerikanisierung der Religion. Im Gegensatz zu den USA zeichne sich Europa nicht nur durch eine Trennung von Staat und Kirche aus, sondern diese gehe auch noch mit einem Schwinden der Religiosität und einem Rückgang der Religionen aus dem öffentlichen Raum einher. Dieser werde aber von dem Islam als sichtbare Religion notwendig beansprucht. Eine striktere Trennung von Religion und Staat, verbunden mit der Erosion religiöser Oligopole (ev. und kath. Kirche) möge allerdings den öffentlichen Raum wieder positiv religiös konnotieren, wobei die Praktiken - wie im amerikanischen Modell -
zunehmend individuell wären. An die Stelle der beiden Großkirchen träten in diesem Szenario politisch aktive Religionslobbies. Neben dieser Amerikanisierung oder Privatisierung der Religion böte sich noch der Weg der Verstaatlichung des Islams, was allerdings auf strukturelle Probleme innerislamisch stieße.

Der fünfte Themenblock "Die gesellschaftlich-politische Situation" musste der Psychologe Rainer Dollase (Bielefeld) im Alleingang bewältigen, diese Aufgabe erwies sich aber bei ihm in besten Händen. Mit neusten Umfragen zeigte er empirisch, dass Deutschland weniger an Fremdenfeindlichkeit denn vielmehr an "Bildungsspießertum" kranke. Diesem lasse sich aber durchaus manipulativ begegnen. Ansatzpunkte seien auch hier gemeinsame Ziele, die für alle Religionen von Bedeutung seien, wie der gemeinsame Kampf für Sauberkeit. Einen kritischen Blick legte Dollase auf das Einstehen für Minderheiten, die häufig nicht vorhandene Selbstidentifizierungen als diese erst auslösten. Empirisch und amüsant zeigte er, wie gerade die Begrenztheit der Vernunft ein Ansatzpunkt für Toleranz und Miteinander bedeuten könne.

Wie schwierig das Entwerfen von "Modellen für Europa" sein kann, zeigten die beiden Schlussvorträge zu diesem Themenblock. Um das Ziel bemühte sich zunächst der Tübinger Benno Ennker, der gegen den vermeintlichen Clash of Civilizations den Interreligiösen Dialog und das Projekt Weltethos vertrat. Da sich kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden erreichen lasse, sei von allen die Goldene Regel des "Was Du nicht willst" anzuerkennen. Erst diese könne die Gewaltspirale durchbrechen und zu Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung überleiten.

Auch der Münchner Edgar Grande, Professor für Vergleichende Politikwissenschaften, wagte einen Blick nach vorne und zwar unter der These: "Europa muss neu erfunden werden". Europa kranke an einem nationalen Selbstmissverständnis und habe seine integrativen Kräfte erschöpft. Dabei bedürfe es nicht weniger Europa, sondern mehr und zwar spezifisch eines kosmopolitischen Europas Wielandscher Art. Anstatt die Einheit der Vielheit überzuordnen, gehe es darum, beide nebeneinander existieren zu lassen. Grande sah in der Vielheit nicht das Problem, sondern gerade die Lösung. Auch das europäische Effizienzdilemma blieb von ihm nicht ununtersucht, wofür er zwei praktische Lösungen vorschlug: die Entbindung des Vetorechts von Einzelstaaten zugunsten kumulativer Praktiken sowie die Einführung einer "reflexiven Schleife", die die jeweilige Entscheidung über die Entscheidungsfrage ermöglichen solle. Die Crux des kosmopolitischen Realismus sah er in der Verfolgung der nationalen Interessen dergestalt, dass diese nicht auf Lasten anderer gehe.

Achtzehn Vorträge in drei Tagen und eine fulminante Podiumsdiskussion im Konstanzer Konzilsgebäude, die hochkarätig besetzt war und von Rüdiger Safranski exzellent geleistet wurde. Damit stellten die drei Organisatoren nicht nur eine interessante und für alle bereichernde Tagung auf die Beine, sondern sie schafften auch, die noch junge Identität des Konstanzer Europa Kolloquiums in eine Richtung zu lenken, die nur das Beste hoffen lässt. Den artigen Dank für die Einladung, den jeder Vortragende an den Anfang seiner Rede stellte, sollte nochmals extrapolitiert werden, denn so, wie sich die Tagung entwickelte, war die Teilnahme wirklich in jeder Hinsicht ein Gewinn. Hervorzuheben bleibt an dieser Stelle, dass fast alle Vortragenden auch selbst Teilnehmer waren und bis zum Ende ausharrten. Dies spricht sicherlich für sich. Es bleibt zu hoffen, dass sich die positive Tendenz fortsetzt. Was in jedem Fall aber konserviert bleiben wird, sind die Vorträge, die als Tagungsband mit weiteren Aufsätzen angereichert - unter anderem von dem Tübinger Philosophen Otfried Höffe -
erscheinen werden.