Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert - Jahrestagung des Collegium Carolinum 2004

Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert - Jahrestagung des Collegium Carolinum 2004

Organisatoren
Collegium Carolinum
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.11.2004 - 14.11.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Nina Lohmann, Prag/Düsseldorf

GESCHICHTSSCHREIBUNG ZU DEN BÖHMISCHEN LÄNDERN IM 20. JAHRHUNDERT.
Wissenschaftstraditionen – Institutionen – Diskurse, Teil II (1938-1989)

Jahrestagung des Collegium Carolinum 2004, Bad Wiessee, 11.-14. November 2004

Wie bereits im vergangenen Jahr war auch 2004 die Jahrestagung des Collegium Carolinum der Historiographie zu den böhmischen Ländern gewidmet. Hatte der Fokus bei der ersten Historiographietagung auf dem Zeitraum bis 1952 gelegen 1, sollte in diesem Jahr insbesondere die Nachkriegsepoche bis 1989 diskutiert werden. Die Konferenz bildete den vorläufigen Abschluss einer Reihe von Veranstaltungen, die sich in den Nachwehen der auf dem Historikertag von 1998 angestoßenen innerfachlichen Vergangenheitsbewältigung mit der deutschen Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert auseinander setzten.

Ein Dokumentarfilm, eingeleitet von K. Erik Franzen (München), bildete wie im Vorjahr den informellen Auftakt der Veranstaltung. „Der Präsident im Exil“, eine DDR-Produktion aus den Jahren 1968/69, porträtierte den 1968 neu gewählten Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Walter Becher, der zugleich Mitglied des Bayerischen Landtags und einer der „geistigen Väter“ des 1956 gegründeten Collegium Carolinum war. Ziel des collagenartigen Films des Studios H&S war es, den Revanchismus Bechers, der Landsmannschaft und generell der großen bundesdeutschen Parteien zu „entlarven“, wozu er sich geschickter Montagen und plakativer Bilder bediente.

Offiziell eröffnet wurde die von Christiane Brenner (München) und K. Erik Franzen konzipierte Tagung von Martin Schulze Wessel (München), der diese sowohl in den Kontext der oben genannten Tagungen als auch der Debatte über die Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus stellte. Diese wertete er in erster Linie als Auseinandersetzung zwischen den Generationen, wobei er konstatierte, dass paradoxerweise weder die ältere noch die jüngere Generation ihren charakteristischen Ansätzen (gesellschaftsgeschichtlich/kulturgeschichtlich) folge, wenn es um die Geschichte der Geschichtsschreibung gehe, sondern Kontexte und Innenansichten häufig ausgeblendet würden. Franzen machte im Anschluss daran deutlich, dass das Ziel der Tagung eine selbstkritische Reflexion der Inhalte, Strukturen und des Selbstverständnisses der historischen Bohemistik sei, die sich der Frage stellen müsse, warum sie die Impulse zur Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit nur sehr zögerlich aufgenommen habe. Im Mittelpunkt der Tagung stünden daher die verschiedenen Kontexte, innerhalb derer sich die Geschichtswissenschaft nach 1945, in Deutschland wie in Ostmitteleuropa, neu konstituiert habe, wobei vor allem die institutionellen Rahmenbedingungen, die Netzwerkbildung der verschiedenen Historiker und Historikergruppen sowie die Verflechtung und Rückkoppelung von Wissenschaft und Politik beleuchtet werden sollten.

Über „Geschichtsschreibung als Herrschaftsdiskurs“ in einem Land des kommunistischen Machtbereichs sprach einleitend Martin Sabrow (Potsdam). Er stellte einen in den 1990er-Jahren am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) entwickelten Ansatz zur Analyse der „gebundenen“ Geschichtswissenschaften in den Ländern des kommunistischen Machtbereichs in der Zeit der Systemkonkurrenz vor. Dieses, exemplarisch auf die DDR applizierte, diskursgeschichtliche Analysekonzept habe die Geschichtswissenschaft weniger auf ihre Produkte als vielmehr auf ihre „inner workings“ hin analysieren wollen. Anhand dreier Beispiele machte Sabrow deutlich, dass die DDR-Geschichtswissenschaft sich offenbar innerhalb einer „Sinnprovinz mit eigenen Deutungskriterien“ abgespielt hat, welche geprägt war von einem eigenen Wissenschaftsverständnis und einem eigenen Wahrheitsbegriff, der Parteilichkeit und Objektivität in eigentümlicher Weise miteinander verband. Bezug nehmend auf den Begriff des Herrschaftsdiskurses sprach Sabrow von einem inszenierten Gespräch über die Vergangenheit innerhalb einer gelenkten Gesellschaft, das sowohl von oben gesteuert gewesen sei als auch innerhalb der Grenzen der Geschichtswissenschaft eine eigene Bindekraft und Plausibilität entfaltet habe.

Die erste Sektion der Tagung „Institutionen und Diskurse tschechischer Historiographie 1945–1989“ eröffnete Christiane Brenner anschließend mit einigen Thesen zur Entwicklung der tschechischen Historiographie nach 1945. Ausgehend von dem Dokument „Právo na dějiny“ (Ein Recht auf Geschichte) aus dem Jahr 1984 fragte sie im Hinblick auf mögliche Brüche und Kontinuitäten vor allem nach dem Selbst- und Fachverständnis der neu etablierten tschechischen Geschichtswissenschaft, ihrem Verhältnis zu Staat und Nation sowie nach den nach 1945 gültigen Geschichtsbildern und Deutungsmustern. Für die unmittelbare Nachkriegszeit beobachtete Brenner eine enge gegenseitige Durchdringung von Geschichtswissenschaft und Politik: Dem hohen Politisierungsgrad der Disziplin habe ein ebenso hoher Grad von Historisierung der Politik entsprochen. Die Geschichtsschreibung der 1950er-Jahre bemühte sich, die nationale Tradition der tschechischen Historiographie fortzuführen. Am Beispiel Masaryks und der Ersten Republik demonstrierte Brenner, wie zentrale Ereignisse und Personen dazu einer sukzessiven Umwertung unterzogen wurden. Diesen Vorgang wertete sie als Ausdruck eines gelungenen Zusammenspiels von Geschichtswissenschaft und Politik, wenn sie unter den Historikern auch keinen „natürlich entstehenden Konsens“ auszumachen vermochte, wie Sabrow es noch für die DDR beobachtet hatte. Im Gegenteil: Schon Ende der 1950er-Jahre kam es zu Konflikten linientreuer Marxisten untereinander wie auch mit dem Regime, welche die Diskussionen um das Selbstverständnis des Faches in den 1960er-Jahren vorzeichneten. Für die Zeit der so genannten „Normalisierung“ beobachtete Brenner dann eine partielle Fortführung von Forschungsansätzen der späten 1960er-Jahre auch innerhalb der offiziellen Historiographie.

Zu einem noch unerforschten Thema, nämlich der Geschichte der DDR-ČSSR Historikerkommission sprach im Anschluss Edita Ivaničková (Bratislava). Diese Kommission war 1954 als erste bilaterale Kommission der Tschechoslowakei gegründet worden und diente neben dem personellen Austausch vor allem dem fachlichen Dialog. So gab die Kommission bereits Anfang der 1960er-Jahre einige wissenschaftliche Sammelbände heraus, in denen allerdings heikle Fragen wie etwa die Vertreibung der Deutschen ausgeklammert wurden. Nach heftigen Kontroversen über zuvor tabuisierte Themen musste die Kommission ihre Arbeit 1967 einstellen, um schließlich 1972 in neuer personeller Besetzung wieder eingesetzt zu werden. Die nun folgende Zeit bezeichnete Ivaničková als eher „düster“, seien doch nunmehr vorwiegend ideologische Fragen diskutiert worden.

Die Nachmittagssitzung, in der es vor allem um die Narrative und Diskurse der tschechischen Historiographie nach 1945 ging, leitete Pavel Kolář (Potsdam) mit einem Vortrag über „Kontinuität und Wandel nationalgeschichtlicher Meistererzählungen in der tschechischen Geschichtsschreibung“ ein. Kolář stellte die Frage nach einer „genuin stalinistischen“ Geschichtsschreibung in der Tschechoslowakei und skizzierte anhand verschiedener Beispiele die Entstehungskontexte und Entwicklungslinien der tschechoslowakischen marxistischen Geschichtswissenschaft nach 1948. Neben dem „sowjetischen Modell“ der Geschichtsdeutung identifizierte er insbesondere den „sozialistischen Realismus“ als Einflussfaktor für die neue Geschichtsschreibung. Als Beispiel eines – gescheiterten – nationalhistorischen Großprojekts nach sowjetischem Vorbild nannte Kolář den vom Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften seit 1952 erarbeiteten „Überblick über die tschechische Geschichte“, der jedoch lediglich das Stadium einer vierbändigen Maquette erreichte. Nachdem in den 1960er-Jahren vor allem Detailstudien Konjunktur gehabt hätten, so Kolář, sei es erst in der Normalisierungs-Ära mit dem seit 1970 geplanten „Überblick über die Geschichte der Tschechoslowakei“ zu einer Wiederaufnahme des Syntheseprojekts gekommen. Für die Zeit nach 1989 beobachtete der Referent das Aufkommen negativer Meistererzählungen, die durch gewisse Strukturmerkmale an die vorherigen Syntheseversuche anknüpften und insofern mit ihnen vergleichbar seien.

Um einen Vergleich der Deutungsmuster verschiedener marxistischer Historiographien ging es Maciej Górny (Warschau). Am Beispiel der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege zeigte er auf, wie die tschechoslowakische, polnische und DDR-Geschichtsschreibung in den 1950er und 1960er-Jahren versuchten, „progressive Traditionen“ in der Geschichte an die jeweilige Nationalgeschichte zu adaptieren und diese gegebenenfalls zu re-interpretieren. Dass dies nicht immer einfach war und in den einzelnen Historiographien durchaus auch zu unterschiedlichen Einschätzungen bestimmter Ereignisse führen konnte, verdeutlichte Górny an einer Fülle von Beispielen.

In der nun folgenden „Prager Sektion“ des Nachmittages, die einzelne Themenfelder der tschechischen Nachkriegshistoriographie in den Mittelpunkt rückte, beschäftigte sich Michal Frankl (Prag) zunächst mit der historiographischen Aufarbeitung des Holocaust in der Tschechoslowakei und stellte die Genres sowie die wichtigsten Institutionen und Personen vor, wobei er Miroslav Kárný als Schlüsselfigur der tschechoslowakischen Holocaustforschung identifizierte. In erster Linie als Betroffenenforschung und ohne institutionelle Rückendeckung betrieben, sei die Shoah von der Mainstream-Historiographie weitgehend totgeschwiegen und nur in Zusammenhang mit der Verfolgung der tschechischen Bevölkerung thematisiert worden.

Mit Edvard Beneš stand dann eine nicht nur in der tschechischen bzw. tschechoslowakischen Historiographie sehr kontrovers diskutierte Person im Zentrum des Vortrags von Ivan Šedivý (Prag). Dass nach 1989 nur eine einzige Biographie über Beneš erschienen ist, erklärte Šedivý damit, dass in der tschechischen Historiographie Biographien keine Tradition hätten und Beneš vor allem im Kontext der großen politischen Zäsuren von 1938 und 1948 thematisiert werde. In diesem Zusammenhang könne durchaus von einem „methodologischen Nachhinken“ der tschechischen Historiker gesprochen werden.

Die Diskussion drehte sich vor allem um die von Jiří Pešek (Prag) vertretene These, das kommunistische System der Tschechoslowakei sei in höchstem Maße antisemitisch gewesen. So sei die geringe Beachtung des Holocaust in der tschechoslowakischen Geschichtsschreibung nicht einem mangelnden Interesse, sondern vielmehr den politischen Rahmenbedingungen geschuldet gewesen. Während Pavel Kolář dieser Klassifizierung des Systems widersprach, machte Jan Křen (Prag) auf die nach 1989 einsetzenden Aktivitäten des Prager Instituts für Zeitgeschichte und des Instituts Theresienstädter Initiative auf dem Gebiet der Holocaustforschung aufmerksam.

Den Institutionen der Geschichtsforschung im Ostmitteleuropa der Nachkriegszeit wandte sich schließlich Jiří Pešek zu, der auf der Basis von Vorlesungsverzeichnissen einen Vergleich der Geschichtswissenschaft an ausgewählten Universitäten der Tschechoslowakei, der DDR und Polens anstellte. Für die polnischen und tschechoslowakischen Universitäten der unmittelbaren Nachkriegszeit beobachtete der Referent eine ausgeprägte Nationalisierung mit pointiert antideutscher Wendung. Während er für die Zeit um 1950 noch ein recht heterogenes Bild der jeweiligen Schwerpunkte der Lehre zeichnete, konstatierte Pešek für die zweite Hälfte der 1950er-Jahre eine allgemeine Ideologisierung. Die Zeit um 1960 sei dann im Wesentlichen durch eine Konzentration auf die Nationalgeschichte geprägt gewesen. Die Frage der personellen Kontinuitäten wiederum beantwortete Pešek für die untersuchten Länder sehr unterschiedlich. Der These einer tiefgreifenden Um- und Neugestaltung des Lehrkörpers der ostdeutschen wie der polnischen Universitäten widersprach Klaus Zernack (Berlin) mit dem Hinweis, dass die Rekrutierung der polnischen Dozentenschaft aus der gut ausgebauten Untergrunduniversität erfolgt sei.

Mit den bundesdeutschen Institutionen der Osteuropaforschung, die im Mittelpunkt der zweiten Sektion standen, näherte sich die Tagung schließlich der deutschen Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern. Thekla Kleindienst (Rostock) beschäftigte sich in ihrem Vortrag zunächst allgemein mit den vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen der Sphäre der Politik und den Institutionen der bundesgeförderten Ost(europa)forschung. Sie verdeutlichte sehr anschaulich, wie stark die Entwicklung und Förderung der deutschen Ostforschung vor allem von den politischen Konjunkturen abhängig war: Nach anfänglicher Begeisterung der Politik für den institutionellen Wiederaufbau der Disziplin, bei dem persönliche Netzwerke eine wichtige Rolle spielten, flaute das Interesse in der Ära der Entspannungspolitik merklich ab, verbunden mit einem langsamen Ausstieg des Bundes aus der institutionellen Förderung. Die 1990er-Jahre sahen schließlich eine heftige Debatte um die Inhalte und die Daseinsberechtigung des Faches.

Christoph Cornelißen (Kiel) wandte sich dann der Vor- und Frühgeschichte des Collegium Carolinum zu und bestätigte die von Kleindienst dargestellte enge Verflechtung von Politik und Wissenschaft am konkreten Beispiel. Trotz der schwierigen Quellenlage demonstrierte er eindrücklich, wie sehr sich gerade die sudetendeutschen Wissenschaftler in der „Gründerzeit“ der 1950er-Jahre einer politisch-administrativen wie auch finanziellen Förderung durch Bund und Länder erfreuen konnten. Cornelißen führte dies auf ein Beziehungsgeflecht zurück, das seinen Ursprung noch in Prag hatte. Als prominenteste Förderer einer neu einzurichtenden Forschungsstelle für die böhmischen Länder nannte Cornelißen Theodor Oberländer und Walter Becher, die freilich andere Vorstellungen von den Aufgaben des Instituts hatten als die beteiligten Wissenschaftler. Letztere rekrutierten sich vor allem aus den ehemaligen deutschen Historischen Kommissionen, Vereinen und Archiven der böhmischen Länder. An der Spitze der Initiatoren stand mit Theodor Mayer allerdings eine Persönlichkeit, die vor 1945 auch und insbesondere auf reichsdeutscher Ebene „organisationspraktische Erfahrungen“ hatte sammeln können – etwa im Zusammenhang mit dem Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften. Das „Gewebe der Ostforschung“, so Cornelißen, war damit auch für das Collegium Carolinum das organisatorische Gerüst, das eine personelle und im Wesentlichen auch inhaltliche Kontinuität über 1945 hinaus garantierte. Die in der Frühphase von den Wissenschaftlern gegenüber den Ansprüchen der Politik vielfach betonte „strenge Wissenschaftlichkeit“ ihrer Arbeit und die damit verbundene Orientierung an einem entpolitisierten Historismus führten schließlich zu einem Prozess der Verwissenschaftlichung, der lange Zeit eine selbstkritische Aufarbeitung der Jahre vor 1945 verhinderte. Wie sich die Integration der sudetendeutschen Wissenschaftler in die bundesrepublikanische Wissenschaftslandschaft im Einzelnen vollzogen hat und inwieweit es zu konzeptionellen Neuansätzen auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung kam, konnte auch Cornelißen nicht abschließend beantworten.

Mit verschiedenen Deutungsmodellen in Bezug auf die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern befassten sich die Referenten der dritten Tagungssektion. Robert Luft (München) sorgte in seinem Vortrag zunächst für eine Einordnung der historischen Bohemistik in die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, wobei er konstatierte, dass Erstere in Deutschland erst mit der Vertreibung der Deutschen aus der ČSR Fuß gefasst habe. Die Tatsache, dass die Bohemistik zunächst auf das außeruniversitäre Feld beschränkt blieb, erleichterte nach Ansicht Lufts die Integration ihrer Protagonisten in die bundesdeutsche Wissenschaftslandschaft. Anhand der verschiedenen Generationen von Bohemisten demonstrierte er die Entwicklung des Faches: So sei die Zeit bis 1960 von der institutionellen Etablierung und der Integration der vertriebenen sudetendeutschen Wissenschaftler dominiert gewesen. In den 1960er-Jahren sei dann eine jüngere Generation nachgerückt, die neue Themen und Paradigmen aufgegriffen habe: Das von Karl Bosl herausgegebene „Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder“ wertete Luft trotz seiner weiterhin starken Verhaftung in nationalen Denkkategorien als einen entscheidenden Bruch mit der noch nach 1950 gepflegten Volkstumsgeschichte. Mitte der 1970er-Jahre sei schließlich eine Phase der Differenzierung und Versachlichung eingeläutet worden. Eine „sudetendeutsche Historiographie“, so Luft, habe sich nach 1945 innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft nicht entwickelt. Klaus Zernack (Berlin) übernahm es dann in der Diskussion, den von Luft noch betonten Stellenwert der Bohemistik wie der Polonistik im Gesamtkontext der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft etwas zu relativieren: Diese würden doch nur als Randerscheinungen wahrgenommen.

Aus dem Blickwinkel der Politologie erläuterte Samuel Salzborn (Gießen) anschließend in der gleichen Sektion die Beziehungen zwischen der Volksgruppenkonzeption der Sudetendeutschen Landsmannschaft und den Vorstellungen der sudetendeutschen Volksgruppenforschung. In seinem Vortrag arbeitete er sowohl die zentralen Denkfiguren und Motive der Volksgruppentheorie als auch die enge Verbindung bzw. Interessenparallelität von Sudetendeutscher Landsmannschaft und prominenten Volksgruppentheoretikern heraus und kam zu dem Schluss, dass Letztere in einem dialektischen Verhältnis zueinander stünden.

In der vierten und letzten Sektion wurde schließlich die deutsch-tschechische Binnenschau um verschiedene Perspektiven erweitert. Im ersten Teil des Exkurses zur „Historiographie in vergleichender Perspektive“ widmeten sich Klaus Zernack und Gerhard Seewann (München) der polnischen bzw. ungarischen Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zuerst bot Zernack einen Überblick über die „Europäizität“ der polnischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, die er mit den Schlagworten „Nation“, „Unabhängigkeit“ und „Weltoffenheit“ belegte. Die polnische Geschichtswissenschaft habe nach der institutionellen wie personellen Vernichtung im Zweiten Weltkrieg in den Jahren nach 1945 eine „beispiellose Renaissance“ erlebt, die bis auf eine kurze stalinistische Periode zwischen 1948 und 1956 durch einen methodischen Pluralismus gekennzeichnet gewesen sei. Als eine der herausragendsten Leistungen des neuen nationalgeschichtlichen Diskurses seit Ende der 1950er-Jahre nannte Zernack die regional- und landesgeschichtliche Auseinandersetzung mit Preußen-Deutschland und Russland bzw. die Zusammenführung von europäischer und polnisch-nationaler Geschichtsschreibung.

Mit der „Nationalhistoriographie und Enthistorisierung der sozialistischen Gesellschaft in Ungarn 1948-1989“ setzte sich dann Gerhard Seewann auseinander. Er konstatierte eine „Obsession des Landes mit seiner Geschichte“, die er auf das Trauma von Trianon zurückführte. Die Verwissenschaftlichung der ungarischen Geschichtswissenschaft habe aber erst nach 1968 im Gefolge einer beschränkten Autonomie der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften eingesetzt. Die Eigendynamik des parteiamtlich verfügten Diskurses habe in dieser Zeit zu einer Selbstreflexion des Faches und seiner Öffnung nach außen geführt. Parallel zu dieser Entideologisierung sei außerdem seit Mitte der 1970er-Jahre die Nation als historische und historiographische Kategorie rehabilitiert worden.

Erfrischend frei skizzierte Benjamin Frommer (Evanston) im zweiten Abschnitt der Sektion die US-amerikanische Historiographie zu den böhmischen Ländern, wobei er drei verschiedene Generationen und Ansätze identifizierte: einen positivistisch-politikgeschichtlichen bis in die 1970er-Jahre, einen sozialgeschichtlichen in den 1970er und 1980er-Jahren und schließlich einen kulturgeschichtlichen seit den 1990er-Jahren. Seit 1989 sei ein sprunghafter Anstieg in der Forschung zu den böhmischen Ländern zu verzeichnen, die nun in den weiteren Kontext Ostmitteleuropas oder der Habsburgermonarchie gestellt würden. Frommer wies allerdings in seinem Vortrag wie auch in der anschließenden Diskussion deutlich darauf hin, dass die historische Bohemistik in den USA bei weitem noch nicht den gleichen Institutionalisierungsgrad erreicht habe wie in Deutschland.

Eine Diskussion mit Jiří Pešek über die tschechische Zeitgeschichtsschreibung 2 bildete schließlich den Ausgangspunkt für Martin Schulze Wessels Schlussreferat über „Tschechische Zeitgeschichte als europäische Geschichte“. Der Ersteren warf Schulze Wessel einen Mangel an Internationalisierung vor, den er vor allem an der bisher noch weitgehend fehlenden Terminologie festmachte. Ähnlich wie ihr deutsches Pendant sei die tschechische Zeitgeschichtsforschung auch nach 1989 durch eine „nationale Fixiertheit“ gekennzeichnet. Schulze Wessel machte allerdings auf tschechischer Seite ein Bestreben aus, eine Synthese zwischen den vor 1989 konkurrierenden „Deutungsachsen“ (Diner) der europäischen Zeitgeschichte herzustellen. Dennoch bildeten beziehungsgeschichtliche Werke oder komparative Fragestellungen wie in der deutschen Geschichtsschreibung der 1980er und 1990er-Jahre weiterhin eine Ausnahme. Jiří Pešek regte daher an, durch eine Abkehr von der Politikgeschichte hin zu einer Alltags- und Kulturgeschichte zu einer Europäisierung der bisher eher nationenzentrierten Zeitgeschichte beizutragen.

In der Schlussdiskussion wurden dann in erster Linie die derzeitige innerfachliche Debatte in Tschechien sowie der Aspekt der Europäisierung nationaler Historiographien sehr kontrovers diskutiert. Vor dem Hintergrund der auf der Tagung thematisierten oftmals engen Verflechtung von Geschichtswissenschaft und Politik ging Jaroslav Kučera (Prag) in seinem Kurzreferat zunächst auf die unlängst heftig ausgetragene inner- und außerfachliche Debatte um die tschechische Zeitgeschichtsschreibung ein. Diese wurde ausgelöst durch ein höchst umstrittenes Manifest des Historikerverbandes der Tschechischen Republik von 1999, mit welchem die Fachhistoriker eine Diskussion über die Instrumentalisierung der Geschichte durch die Medien anregen wollten. Kučera diagnostizierte in diesem Streit eine Frontbildung zwischen den jeweiligen Fraktionen, die er nicht zuletzt auf eine „partielle Politiknähe“ der tschechischen Historikerschaft zurückführte. Ein weiteres Beispiel für diesen Sachverhalt sei das vom tschechischen Kultusministerium geförderte Werk „Geschichte verstehen“. Während Christiane Brenner auf ähnliche bundesdeutsche Publikationen verwies und Jan Křen Kučeras Kritik an „Geschichte verstehen“ als „künstlich“ bezeichnete, beklagten Jiří Pešek und Miloš Řezník (Chemnitz) grundsätzlicher, dass innerhalb der tschechischen Geschichtswissenschaft keine inhaltlichen Diskussionen geführt würden.

Die oft geforderte, aber auch auf dieser Tagung nur in Ansätzen verwirklichte Internationalisierung der historiographischen Forschung stand im Zentrum des Statements von Peter Bugge (Aarhus). Er identifizierte in Hinblick auf die Bohemistik eine „deutsch-tschechische Forschungsgemeinschaft“ innerhalb der internationalen historischen Gemeinde, die sich vor allem gegenüber der US-Historiographie positioniere – eine Beobachtung, die durch den Verlauf der anschließenden Diskussion eine eindeutige Bestätigung erhielt. Ferner warf Bugge die Frage auf, was überhaupt unter „europäischer Zeitgeschichte“ zu verstehen sei, und monierte in diesem Kontext die häufig anzutreffende Attitüde westlicher Historiker, „osteuropäische“ Ansätze weitgehend zu ignorieren. Edita Ivaničková wies in diesem Zusammenhang jedoch auf die Eigenverantwortung tschechischer und slowakischer Historiker hin, sich in den internationalen Diskurs einzubringen. Das Schlussstatement Christoph Boyers (Berlin) wurde wegen der hitzigen Diskussion über die beiden anderen Kurzreferate leider nicht hinreichend wahrgenommen. Dabei bot gerade Boyer mit dem Vorschlag einer differenzierten konzeptionellen wie begrifflichen Erfassung der ostdeutschen, polnischen, tschechoslowakischen und ungarischen Historiographie einen Ansatz zu einem Vergleich der historiographischen Kulturen dieser vier staatssozialistischen Systeme.

Die sowohl in der Diskussion wie auch schon im vergangenen Jahr bemängelte fehlende interdisziplinäre und internationale Perspektive war das Hauptdefizit dieser insgesamt sehr anregenden Tagung. Zwar wurde der Rahmen gegenüber dem Vorjahr weiter gesteckt und die Fixierung auf die deutsche und tschechische Geschichtsschreibung aufgebrochen. Dennoch gab es insgesamt kaum transnationale Ansätze oder Vergleichsperspektiven, was die Tagung bisweilen etwas heterogen erscheinen ließ. Auch der Anspruch der doppelten Berücksichtigung des Zeitraums 1938–1952 und somit der Reflexion von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, konnte nicht wirklich eingelöst werden. Gerade aufgrund der noch reichlich bestehenden Defizite – auch die Einordnung der Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern in den Kontext der deutschen Ostforschung ist noch zu leisten – ist zu hoffen, dass nach diesem Anfang die Erforschung der Historiographie zu den böhmischen Ländern nicht wieder in einen Dornröschenschlaf verfällt.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Bericht von Błażej Białkowski in: Bohemia 44 (2003) 534-541 und auf http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=363.
2 Vgl. Pešek, Jiří: Zeitgeschichtsschreibung in Tschechien als Problem. Notizen zu: Martin Schulze Wessel: Zeitgeschichtsschreibung in Tschechien. Institutionen, Methoden, Debatten. Erscheint in: Bohemia 45 (2004). – Schulze Wessel, Martin: Zeitgeschichte als internationale Geschichte – Antwort an Jiří Pešek. Erscheint in: Ebenda.


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