Kommunaler Liberalismus in Europa

Kommunaler Liberalismus in Europa

Organisatoren
Hugo-Preuß-Stiftung, Berlin
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.06.2012 - 02.06.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Jürgen Frölich, Archiv des Liberalismus, Gummersbach

Bereits zum dritten Mal innerhalb von zweieinhalb Jahren führte die Hugo-Preuß-Stiftung im Truman-Haus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ein Kolloquium zum Liberalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch. 1 Diesmal war die international vergleichende Perspektive auf den „Kommunalen Liberalismus“ gerichtet. Nach einer Begrüßung durch Jürgen Frölich (FNF/Gummersbach) stellte DETLEF LEHNERT (Berlin) die Leitfragen vor, die vor allem auf die Umstände und Rahmenbedingungen für liberale Kommunalpolitik um 1900 zielten.

Lehnert moderierte auch den ersten Kolloquiumstag, der mit grundlegenden Ausführungen von DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen) über das Verhältnis von Liberalismus und Kommune im deutschen Kaiserreich begann: Die Städte waren die fast einzigen Orte, wo der wilhelminische Liberalismus Regierungsmacht ausüben konnte. Hier entfaltete er im Zeichen der „Daseinsvorsorge“ eine Politik, die Staatsintervention nicht durchweg ausschloss und so deutlich im Gegensatz zu der von den Liberalen im Reichstag propagierten Linie stand. Für Langewiesche zeigte sich in den Kommunen gerade der Linksliberalismus gegenüber den Herausforderungen der Industriegesellschaft weit „sozialer“ als in seiner gängigen Programmatik. Dies stand aber in einem auffälligen Spannungsverhältnis zu dem undemokratischen Wahlrecht, dem die Liberalen ihre starke Stellung in den Kommunen verdankten. Dieser Umstand bedeutete aber, dass die von einigen Liberalen propagierte Erneuerung aus den Kommunen heraus nicht funktionieren konnte, denn das politische System in den Städten konnte nicht auf die Reichsebene übertragen werden. Er trug indirekt auch erheblich dazu bei, dass die Erfolge des Kommunalliberalismus nicht prägend wurden für das Bild vom deutschen Liberalismus, der sich allerdings selbst auch vor allem über seine Politik auf Reichsebene definierte. Mit dem Ende des Kaiserreichs brach zudem diese Traditionslinie des Kommunalliberalismus weitgehend ab.

Daran schlossen sich drei Fallstudien zu deutschen Städten an: Für München zeichnete KARL HEINRICH POHL (Kiel) ein sehr positives Bild. Am Beispiel der Gesundheitspolitik konnte er nachweisen, wie die bayrische Hauptstadt in der Tat ein „Experimentierfeld der Moderne“ war. Auch hier profitierten die Liberalen bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg von einem hohen Wahlzensus und der berühmten Wahlkreisgeometrie, welche in gewisser Weise auch den hohen Anteil der eher anti-liberal eingestellten Katholiken politisch zunächst neutralisierte. Eine Wahlrechtsänderung zu seinen Ungunsten im Jahr 1908 ließ den Münchner Liberalismus sich gegen die Zentrumspartei an die nun an Gewicht gewinnende Sozialdemokratie annähern. München wurde dadurch zu einem „sozial-liberalen Modellfall“, bei dem beispielsweise gesundheitspolitische Maßnahmen zwischen Stadtverwaltung, liberalen Honoratioren und Gewerkschaften offen diskutiert wurden. Ausstrahlungen auf die Landespolitik gingen allerdings nicht davon aus.

RALF ROTH (Frankfurt) stellte bei seinem Porträt des Frankfurter Kommunalliberalismus dessen Führungsfiguren heraus: Es handelte sich dabei um die drei liberalen Stadtoberhäupter Daniel Heinrich Mumm, Johannes (von) Miquel und Franz Adickes, die die Stadtpolitik während der gesamten Zeit des Kaiserreiches bestimmten, sowie den Verleger und Reichstagsabgeordneten Leopold Sonnemann und den Unternehmer und Mäzen Wilhelm Merton, die zwar indirekt, aber nicht weniger entscheidend auf die städtischen Geschicke einwirkten. Die Stadt am Main stand nach 1866 zunächst unter dem Schock, von der Freien Reichsstadt auf den Status einer preußischen Provinzstadt herabgesunken zu sein. Die liberalen Stadtväter wollten aus der Not eine Tugend machen und die bisherige Handelsstadt in eine stärker, aber nicht allein auf Industrie ausgerichtete Metropole umwandeln. Dieser Transfer gelang Roth zufolge in beeindruckender Weise: Die entsprechenden Infrastrukturänderungen machten Frankfurt zu einer der am schnellsten wachsenden Städte im Kaiserreich. Den Auswirkungen der forcierten Industrialisierung begegnete die unangefochtene liberale Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung mit Bemühungen um die soziale und politische Integration der wachsenden Arbeiterschaft. Wichtig waren dabei verschiedene sozialwissenschaftliche Institutionen, die schließlich in der 1914 gegründeten Stiftungs-Universität aufgingen, dem Höhepunkt der Zusammenarbeit von Stadtverwaltung, liberalen Stadtpolitiker und bürgerlichen Honoratioren. Insgesamt sei der grundlegende Wandel Frankfurts im ausgehenden 19. Jahrhundert vergleichsweise reibungslos, wenn auch nicht konfliktfrei von Statten gegangen.

In völlig andere Verhältnisse führte das Referat von HOLGER STARKE (Dresden) über die Dresdner Kommunalpolitik ein: Hier dominierte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein konservatives Klima, dem sich auch die örtlichen Nationalliberalen anpassten und das durch den Aufstieg der Antisemiten in der Stadt noch verstärkt wurde. Ein Wandel bahnte sich erst an, als sich die Nationalliberalen als Vorhut der sächsischen Industrie nach 1900 von den Konservativen emanzipierten und den Einfluss des alten Mittelstandes und seiner Interessenverbände in der Stadtpolitik zurückdrängten. Begünstigt wurde dieser Wandel durch eine gegen die Konservativen gerichtete Eingemeindungspolitik der Stadtverwaltung, welche wiederum den Aufstieg der Sozialdemokratie förderte. Dies führte ab 1905 zu einer partiellen Zusammenarbeit von Nationalliberalismus und Sozialdemokratie, aus der sich aber keine wirkliche kommunalliberale Tradition mehr entwickelte. Dresden wurde so zu keiner liberalen Hochburg, weist aber dennoch beachtliche Spuren des Kommunalliberalismus auf, der hier deutlicher als sonst von der Industrie gefördert wurde.

Abgerundet wurde der erste Kolloquiumstag durch CHRISTOPH MÜLLER (Berlin), der den im Druck befindlichen fünften Band „Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik“ der „Gesammelten Schriften“ von Hugo Preuß vorstellte. 2

Der folgende, von Monika Wienfort (Berlin) geleitete Tag stand im Zeichen der internationalen Perspektive, welche mit der umfassenden Darlegung von GEORG KREIS (Basel) zu „Bürgertum und Freisinnige in Basel vor dem Ersten Weltkrieg“ einsetzte. Hier wurde großer Wert auf die strukturellen Rahmenbedingungen für die Basler Stadtpolitik gelegt, die in Basel durch eine konfessionelle Gemengelage zwischen Reformierten, Lutheranern und Katholiken, den Stadt-Land-Gegensatz und Spannungen zwischen Alteingessenen und aus dem In- und Ausland Zugewanderten geprägt war. Während die Altbasler zwar die „Liberalen“ unterstützten, die aber faktisch Konservative waren, stützte sich der Freisinn auf die Umlandgebiete sowie die Zugewanderten und wurde mit der Erweiterung des Bürgerrechts 1875 zur dominierenden politischen Kraft. Obwohl die Freisinnigen dem Instrument des Referendums eher skeptisch gegenüberstanden, nutzten sie es dennoch häufig zur Durchsetzung von Großprojekten wie dem Neubau des Rathauses oder der Rheinbrücke gegen altliberal-konservative Widerstände. Auch wenn die Freisinnigen eine populäre Infrastrukturpolitik betrieben und beispielsweise dem Schulwesen weit mehr Aufmerksamkeit widmeten als der Universität, konnten sie den Aufstieg der Sozialdemokratie letztlich nicht verhindern; sie wurden schließlich – so Kreis – „Opfer ihres eigenen Erfolges“.

Das Schulwesen bildete den Schwerpunkt bei AKIYOSHI NISHIYAMA (Tokyo) und seinem Vortrag über Straßburg vor 1914. Dass die Schulpolitik zu einem liberalen Reformprojekt werden konnte, lag an der städtischen Zuständigkeit für diese während des Kaiserreiches. Insofern werde – so NISHIYAMA einleitend – das Bild vom obrigkeitlichen Schulwesen im Kaiserreich der vielfältigen Schul-Wirklichkeit nicht gerecht. In Straßburg war das Schulwesen um 1870 von der Ausrichtung an den Kirchenspielen und der strikten Trennung von Geschlechtern und Konfessionen gekennzeichnet. Als 1886 die städtische Selbstverwaltung wiederhergestellt wurde, machte sich die städtische Verwaltung daran, dieses vor allem von der katholischen Kirche getragene System aufzubrechen. Durch die Beibehaltung des demokratischen Wahlrechts hatten reformbereite Kräfte im Liberalismus und in der Sozialdemokratie eine starke Stellung in der Kommunalpolitik; sie fanden sich vor allem in der Epoche des liberalen Oberbürgermeisters Rudolf Schwander ab 1906 zusammen. Straßburg wurde so zu einem Vorort einer Reformpolitik à la Friedrich Naumann. Diese auf Simultanschulen, längere Schulzeiten und Befreiung vom Schulgeld zielende Reformpolitik stieß zwar auch auf Widerstand seitens der elsass-lothringischen Landesregierung, die den Konflikt mit der katholischen Kirche vermeiden wollte, aber letztlich nur bremste und die wichtige Aufwertung der Volksschulen gegenüber den Gymnasien nicht verhinderte. An ihr orientierte sich auch die französische Stadt- und Landesverwaltung nach 1918.

Am Ausgang der Tagung richtete sich der Blick auf zwei europäische Metropolen: Zunächst widmete sich STEFAN GRÜNER (Augsburg) dem bislang wenig erforschten Liberalismus und Radikalismus in Paris. Traditionell und verstärkt noch durch die Erfahrung der Pariser Commune unterstand die französische Hauptstadt einer strengen Aufsicht der Zentralregierung; ihre von der Nationalversammlung 1871 beschlossene und bis 1975 gültige Kommunalverfassung ließ nur eine eingeschränkte Selbstverwaltung zu. Da die tatsächliche Macht beim Präfekten und dem staatlichen Polizeipräsidenten lag, konzentrierten sich die durch die Arrondissements gewählten 80 Stadtverordneten vor allem auf eine an Symbolen orientierte Politik, aus der z. B. der Neubau des Rathauses (Hotel de Ville) und zahlreiche Denkmäler hervorgingen. Auch als Reaktion auf die Commune und als Gegenwicht zur nationalen Politik verfügten im letzten Vierteljahrhundert die Linksrepublikaner über die Mehrheit, ehe nach der Jahrhundertwende die durch die Wahlgeometrie immer mehr bevorzugten innerstädtischen Arrondissements für eine Machtverschiebung zugunsten der liberal-konservativen Kräfte sorgten. Unabhängig von der konkreten Ausrichtung verfolgten die Pariser Liberalen eine Sozial- und Infrastrukturpolitik, die vor allem Kleineigentümer und mittelständische Existenzen begünstigte; nur über die Rolle des Staates dabei herrschte ein gewisser Dissens. Obwohl für Paris von „einem machtpolitisch eingehegten Liberalismus“ gesprochen werden müsse, zeigten sich für Grüner jedoch zahlreichen Parallelen zwischen diesem und seinen Gesinnungsfreunden in Deutschland.

ANDRÁS SIPOS (Budapest) schließlich fragte nach der „Bedeutung von Budapest in den gesellschaftspolitischen Bestrebungen der ungarischen Liberalen nach 1870“. Hier war die Situation zunächst durch einen Gleichklang zwischen nationaler und kommunaler Politik im Zeichen eines großbürgerlich-adligen Nationalliberalismus gekennzeichnet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch etablierten sich in der ungarischen Metropole auch kleinbürgerlich-demokratische Kräfte, was dort mehrfach zu Um- und Neugruppierungen der hauptstädtischen Liberalen führte. Dabei öffnete sich die Kommunalpolitik immer mehr nach links und verfolgte – im Gegensatz etwa zum deutschen Kommunalliberalismus – auch das Ziel der politischen Demokratisierung. Budapest wurde unter anderem zum Zentrum einer „bürgerlich-radikalen Strömung“, die einen dezidiert sozial-liberalen Kurs propagierte, vergleichbar dem deutschen „Großblock-Projekt“ einer Zusammenarbeit von Liberalismus und Sozialdemokratie. Sie gewann zwar Einfluss auf die Stadtverwaltung, aber wenig auf die im Budapester Stadtrat und in der Landesregierung vertretenen liberalen Kräfte. Letztlich blieb für den ungarischen Liberalismus die adelsliberale Tradition maßgebend.

Die umfangreiche Diskussion zu den Referaten drehte sich unter anderem um die Einschätzung der Wahlrechtsfrage (War diese eine Bürde des Kommunalliberalismus, die seine Erfolge schmälerte, oder gerade die Voraussetzung für diese Erfolge, die dem allgemeinen Wahlrechtstandard der Zeit entsprach?) und darum, ob das Einlassen des Kommunalliberalismus auf die Modernisierung in Richtung Infrastruktur und Daseinsvorsorge eigenen Überzeugungen und Aktivitäten entsprang oder durch den Übergang zur Industriegesellschaft mehr oder minder erzwungen wurde. Alle Referate sollen im nächsten Jahr in der Schriftenreihe der Hugo-Preuß-Stiftung publiziert werden.

Konferenzübersicht:

Eröffnung und Begrüßung

Detlef Lehnert, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung, Berlin

Jürgen Frölich, stellv. Leiter Archiv des Liberalismus, Gummersbach

Dieter Langewiesche (Tübingen): Kommunaler Liberalismus des Kaiserreichs in vergleichender Perspektive

Karl-Heinrich Pohl (Kiel): Ein sozialliberales ‚Modell’? München vor dem Ersten Weltkrieg

Ralf Roth (Frankfurt/M.): Bürgergesellschaft und moderner Liberalismus: Frankfurt am Main im späten 19. und frühen 20. Jh.

Holger Starke (Dresden): Dresden - eine liberale Stadt im Kaiserreich?

Georg Kreis (Basel): Bürgertum und Freisinnige in Basel vor dem Ersten Weltkrieg

Akiyoshi Nishiyama (Tokio/Potsdam): Erziehungsstadt statt Erziehungsstaat? Die Reform des Schulwesens der Stadt Straßburg vor 1914

Stefan Grüner (Augsburg): Pariser Bürgertum und hauptstädtischer Liberalismus vor dem Ersten Weltkrieg

András Sipos (Budapest): Die Bedeutung von Budapest in den gesellschaftspolitischen Bestrebungen der ungarischen Liberalen 1870-1940

Anmerkungen:
1 Vgl. auch Tagungsbericht Sozialer Liberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. 03.06.2011-04.06.2011, Potsdam-Babelsberg, in: H-Soz-u-Kult, 29.06.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3698 (19.06.2012)
2 Vgl. Hugo Preuß: Gesammelte Schriften. Fünfter Band: Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik. Herausgegeben von Christoph Müller. Tübingen: Mohr Siebeck 2012, ca. 900 S., ISBN : 978-3-16-150525-6


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