Quelles mémoires pour la Grande Guerre en France? – Podiumsdiskussion zur gegenwärtigen Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs in Frankreich

Quelles mémoires pour la Grande Guerre en France? – Podiumsdiskussion zur gegenwärtigen Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs in Frankreich

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
26.11.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Isabell Koch, Köln

Anlässlich einer neuen Publikation zur Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs in Frankreich von Nicolas Offenstadt „14-18 aujourd’hui. La Grande Guerre dans la France contemporaine“1 diskutierten am 26. November 2010 im Deutschen Historischen Institut Paris deutsche und französische Experten zur Geschichte des Ersten Weltkriegs über den Stellenwert der Erinnerung dieses Krieges in der französischen Gegenwartsgesellschaft. Auf französischer Seite nahmen neben dem Autor selbst SERGE BARCELLINI (Inspektor im Verteidigungsministerium und Berater in Erinnerungsfragen des Departements Meuse; IEP Paris) und ÉLISE JULIEN (IEP Lille) teil, auf deutscher Seite GERD KRUMEICH (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf). Moderiert wurde die Debatte von STEPHAN GEIFES (DHIP).

NICOLAS OFFENSTADT (Universität Paris I – Sorbonne) widmet sich in seiner Studie der seit den 1990er-Jahren steigenden Präsenz und Aktualität des Ersten Weltkriegs in der kollektiven Erinnerung Frankreichs. In vier Kapiteln untersucht er diesen ‚Erinnerungsaktivismus’ (activisme mémoriel) chronologisch, quantitativ und qualitativ. In einem ersten Schritt unterscheidet er drei gegenwärtige Formen der Annäherung: eine individuelle und familiäre (récit généalogique), etwa die Suche nach den eigenen Vorfahren, eine lokal- und regionalgeschichtliche (récit local), die sich beispielsweise auf eine bestimmte Stadt oder Region begrenzt, sowie eine ‚engagierte’, die besonders aus einem pazifistischen Umfeld hervorgehe (récit militant). In einem zweiten Schritt untersucht er die Präsenz des Ersten Weltkriegs in aktuellen Romanen, Filmen, Musik, Comics und Theaterstücken. Er stellt dabei eine zunehmende Präsenz bis in die aktuelle Rockmusik fest, wobei jedoch eine immer weitere Entfernung und größere Abstraktion vom eigentlichen Ereignis zu beobachten sei. Eine dritte Untersuchungsachse widmet Offenstadt dem gegenwärtigen Stellenwert des Ersten Weltkriegs in der staatlichen Gedenktagsinszenierung und Erinnerungspolitik, um darauf aufbauend schließlich den Blick auf die fortschreitende Ikonisierung der (mittlerweile verstorbenen) letzten Frontsoldaten zu richten. Vor dem Hintergrund der Analyse der gesellschaftlichen Erinnerung untersucht er die Rolle der Historiker/innen und der Historiographie hinsichtlich der aktuellen Präsenz in der Erinnerung: Geschichte gehöre nie allein den Historiker/innen, in diesem konkreten Fall sei aber die unterschiedliche Intensität der Beschäftigung mit dem Thema besonders signifikant.

In der Diskussion wurden die Befunde der Analyse Offenstadts bestätigt, Krumeich würdigte sie als eine „Encyclopédie de la présence actuelle de la mémoire de la Grande Guerre“. Zugleich herrschte weiter Einvernehmen über die spezifisch französische Intensität und inhaltliche Ausrichtung der gegenwärtigen Debatte. Um ihre Besonderheit zu veranschaulichen, stellte Offenstadt die französische Erinnerungskultur einleitend in direkten Vergleich zu anderen kriegsbeteiligten Ländern. Während es in Deutschland aufgrund des Stellenwertes des Zweiten Weltkriegs zurzeit weniger Platz für die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gebe, rücke in Belgien durch die damalige Besatzungserfahrung besonders die ‚mémoire civile’ in den Vordergrund, sowie die identitätsstiftende Rolle des Krieges für Flamen und Wallonen. In Australien und Kanada habe die Erinnerung aufgrund der Bedeutung des Krieges für den Prozess der Nationenbildung einen sehr viel institutionelleren und offizielleren Charakter. Élise Julien wies darauf hin, dass es wichtig sei, in der Forschung den Blick auf andere Länder auszuweiten und dass es dabei nicht genüge, nur Unterschiede und Diskrepanzen aufzuzeigen, sondern auch der jeweilige Kontext der Erinnerungskultur dieser Länder thematisiert werden müsse. Serge Barcellini sah für das aktuell starke französische Interesse am Ersten Weltkrieg drei wesentliche Gründe: Zunächst den Tod der letzten unmittelbar am Krieg beteiligten, der ‚anciens combattants’, die die französische Erinnerung bis in die 1980er-Jahre prägten. Damit ginge einher, dass der Krieg nunmehr als Basis der familiären Erinnerung diene. Nachdem bisher die Geschichte von Regimenten im Vordergrund gestanden habe, könne man nun eine Verschiebung von einer kollektiven zu einer eher individuellen Betrachtung beobachten. Abschließend wies Barcellini auf die Bedeutung der Verschiebung von Kompetenzen zwischen Zentralstaat und Gebietskörperschaften im Zuge der Dezentralisierung seit 1981 für die Erinnerungspolitik hin. Dadurch sei ein neuer institutioneller Rahmen für die regionalgeschichtliche Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg vor allem in den ehemaligen Frontgebieten wie Somme und Lothringen geschaffen worden. Er zögerte nicht, diese Entwicklung als „victoire des collectivités territoriales“ zu bezeichnen.

Offenstadt stellte die Frage nach der Herkunft des starken Interesses und betonte, dass es sich hierbei nicht um eine einfache Wiederaufnahme der Vergangenheit handle, sondern um einen kreativen Akt. In Anlehnung an Pierre Nora und François Hartog erklärte er dies dadurch, dass die Vergangenheit zur Quelle wird, wenn die Prognosen für die Zukunft schwieriger werden. In der Diskussion führte ANTOINE PROST (Orléans) weiter aus, dass die Präsenz und die Heftigkeit, mit der die zivilgesellschaftlichen und historiographischen Debatten zurzeit geführt würden, auch mit dem Bedürfnis nach etwas Sakralem zusammenhängen könnten; die aktuellen Tendenzen hätten nämlich durchaus Elemente der Sakralisierung der Soldaten des Ersten Weltkriegs.

Ein zentraler Aspekt der Debatte widmete sich dem Stellenwert der Zeitzeugen für die kollektive Erinnerung in Frankreich. Ihre Wahrnehmung hat in den letzten Jahrzehnten einen starken Wandel erfahren. Krumeich erinnerte daran, dass die Aussagen und Stellungnahmen der Zeitzeugen über Jahrzehnte hinweg als nicht unproblematisch angesehen und ihnen in der Regel nur begrenzte Erkenntnisgewinn zugemessen wurden. Barcellini erklärte die Befürchtungen, mit dem Verschwinden dieser Generation erlösche das Wissen um den Ersten Weltkrieg, für unbegründet, denn die Veteranen hätten auch in ihren letzten vorherigen Erinnerungen nichts inhaltlich Neues mehr beigetragen. Offenstadt hob seinerseits hervor, dass der Frontsoldat („poilu“) aktuell zu der positiven Figur des 20. Jahrhunderts für die französische Gegenwartsgesellschaft stilisiert werde. Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg mit dem Dualismus von Résistance und Kollaboration oder zum Beispiel zu den Veteranen des Indochina- oder des Algerienkriegs, könnten dem Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs alle positiven Qualitäten eines französischen Helden zugeschrieben werden. Sowohl für eine konservativ-patriotische als auch für eine links-pazifistische Politik habe er Symbolcharakter, in letzterem Fall als Figur des Widerstands gegen den Krieg und die militärische Unterdrückung, beispielsweise im Hinblick auf die Meutereien in der französischen Armee 1917. Zu guter Letzt sei er auch derjenige, der seine Aufgabe erledigt habe, das was man von ihm erwartet, und auf den die Familie stolz sein könne. JOHN HORNE (Dublin) warf später die Frage auf, warum diese Heroisierung eine rein französische Konstruktion sei und die Idee eines ‚europäischen Helden’ nicht zulasse. Eine Frage, die keine rechte Antwort fand.

Ein weiterer wesentlicher Punkt der Diskussion war die Rolle der Historiker/innen. In Offenstadts Studie nimmt dieses Thema als Zwischenkapitel (intermède) in der Mitte des Buchs einen besonderen, wenn auch wenig umfangreichen Platz ein, ein Aspekt, der von den Diskutierenden als Spiegelbild für die Schwierigkeit der Positionierung in der aktuellen Debatte gedeutet wurde. Laut Offenstadt liege es nicht an einem Rückzug in den Elfenbeinturm, dass die Historiker/innen in dieser Debatte scheinbar außen vor seien. Vielmehr zeige sich ein zivilgesellschaftliches Interesse bei gleichzeitigen staatlich-politischen Vorstößen der Deutung und Instrumentalisierung, und diese Kräfte seien insgesamt stärker. Bei der individuellen, genealogischen Beschäftigung mit der Geschichte fehle jedoch oft die Kontextualisierung, was zu eigenen Interpretationen und Kreationen führe. Aufgabe der Historiker/innen sei es, indem sie mit ihrem Wissen in den öffentlichen Raum treten, die Menschen bei der Einordnung und Determination ihrer Geschichte zu unterstützen. Élise Julien gab hierbei zu bedenken, dass das Wissen der Historiker/innen jedoch durchaus auch einer Instrumentalisierung unterworfen sein könne.

In der anschließenden Diskussion kamen zwei deutsch-französische Aspekte der Erinnerung in den Blick: Zum einen die Anwesenheit Angela Merkels in Paris 2009 anlässlich des Jahrestags des Endes des Ersten Weltkriegs am 11. November, der in Frankreich auch heute noch gesetzlicher Feiertag ist. Erstmals nahm eine deutsche Regierungschefin an den Feierlichkeiten teil. Diese Form hatte sich bewusst von der Erinnerungsinszenierung von Kohl und Mitterand im September 1984 in Verdun abgegrenzt. Zum anderen kam auch die Auseinandersetzung um das erstmalige Hissen der deutschen Flagge am Fort Douaumont, einer der wichtigsten französischen Befestigungsanlagen in Verdun, zur Sprache. Die Fahne war dort im November 2009 am Tag der Beisetzung von 35 deutschen Soldaten, die wenig zuvor auf der Höhe von Vauquois exhumiert worden waren, gehisst worden, was lokal zu erheblichen Diskussionen geführt hatte. Die Debatte in französischer Sprache wurde aufgezeichnet und auf der Hompage des DHI als podcast zugänglich: <http://www.dhi-paris.fr/index.php?id=374> (13.01.2011).

Übersicht der Podiumsdiskussion:

Teilnehmer

Serge Barcellini, Paris
Élise Julien, Lille
Gerd Krumeich, Düsseldorf
Nicolas Offenstadt, Paris

Moderation
Stephan Geifes, DHI Paris

Anmerkung:
1 Nicolas Offenstadt, 14-18 aujourd’hui. La Grande Guerre dans la France contemporaine, Paris, Odile Jacob, 2010, 198 S. Erste Rezensionen: Dominique Kalifa, Le théâtre de la Grande Guerre. Une étude sur „l’activisme mémoriel“ autour du conflit de 14-18, in: Libération, 25. 11. 2010, S. 7; Antoine de Baecque, Les poilus sont parmis nous. Analysant BD, films ou chansons, Nicolas Offenstadt inscrit la mémoire des tranchées au cœur de notre présent, in: Le Monde des livres, 3. 12. 2010, S. 11; <http://www.nonfiction.fr/article-3947-p2-a_lencontre_du_vieil_homere_.htm> (13.01.2011).


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