Europas Aufstieg als Problem. Eine globalgeschichtliche Verortung des europäischen Mittelalters

Europas Aufstieg als Problem. Eine globalgeschichtliche Verortung des europäischen Mittelalters

Organisatoren
Thomas Ertl, Berlin; Luca Molà, Warwick
Ort
Loveno di Menaggio
Land
Italy
Vom - Bis
08.03.2010 - 11.03.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Claudia Moddelmog, Historisches Seminar, Universität Zürich

Mit dem oben angezeigten Titel der Tagungsreihe, die 2009 begonnen hat und deren zweite Sektion in diesem Jahr abgehalten wurde, ist eine der großen Fragen geschichtswissenschaftlicher Forschung ebenso angesprochen wie eine aktuelle Tendenz: die für die europäische Mediävistik noch neue Hinwendung zur Globalgeschichte.1 In dieser Kombination liegt eine Spannung, die der Veranstalter der Tagung, Thomas Ertl, bewusst aufgegriffen hat und produktiv machen möchte. Denn einerseits sind in den letzten Jahren sehr unterschiedliche Großthesen zum Aufstieg Europas und, damit verbunden, zur Bewertung des Mittelalters in diesem Prozess erschienen, andererseits gibt es im eher unübersichtlichen Feld globalgeschichtlicher Forschung eine starke Tendenz, sich von Charakterisierungen wie „Aufstieg“ oder „Dominanz“ in kritischer Distanzierung abzuwenden. Aus dieser Situation heraus zielt die Tagungsreihe insgesamt mehr darauf ab, Diskussion zu erzeugen als abschließende Ergebnisse zu produzieren. Als besonders glücklich für dieses Vorhaben kann die Wahl des Veranstaltungsortes gelten. Nicht nur im Konferenzzimmer, sondern auch in diversen anderen Räumlichkeiten und im zugehörigen Park führt die nahe am Comer See gelegene Villa Vigoni ihre Gäste immer wieder zusammen und trägt damit viel zu einer ausgesprochen kommunikativen Atmosphäre bei.

Nachdem im letzten Jahr Wirtschaft das zentrale Tagungsthema war, standen in diesem Jahr Politik, Militär und Gewalt im Mittelpunkt. Den Stand der Forschung spiegelt, dass die meisten Referenten ihre Ausführungen auf das (lateinische) Europa konzentrierten und den Bezug auf andere historische Räume vor allem asymmetrisch vergleichend herstellten. Leitbestimmungen, die für die Charakterisierung des (spätmittelalterlichen) Europa immer wieder herangezogen und auch in den Kommentaren hervorgehoben wurden, waren Diversität und Dialektik, Pluralität und Polyzentrik.

So führte bereits im ersten Vortrag WOLFGANG REINHARD (Freiburg) die weltgeschichtliche Einmaligkeit wie den Erfolg des europäischen Staates darauf zurück, dass dieser sich in permanenter Auseinandersetzung mit Alternativen und Widersprüchen insbesondere im religiösen und rechtlichen Feld formierte, ohne diese je endgültig integrieren oder neutralisieren zu können. Die mittelalterliche Zeit habe hierbei zu keinerlei einschneidendem Durchbruch geführt, sondern in einem gestreckten Prozess (nur) notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Entstehung des modernen Nationalstaats geschaffen – eine Unterscheidung, die im Laufe der Tagung immer wieder aufgegriffen wurde.

Ähnlich wie sein Vorredner hob auch PAOLO CAMMAROSANO (Trieste) als konstitutives Element der europäischen Dynamik Diversität und Konkurrenz hervor. Die unterschiedlichen Produktionskapazitäten und Konsumbedürfnisse von Stadt und Land, aber auch der verschiedenen Zonen Europas seien die Grundlagen, beständiger Krieg zwischen konkurrierenden Herrschaften der Motor einer Entwicklung hin zu neuen Formen der (staatlich-öffentlichen) Kreditschöpfung und Münzpolitik seit dem 12. Jahrhundert gewesen. In der Diskussion brachte er beide Phänomene, die als weltgeschichtliche Ausnahme charakterisiert wurden, in Zusammenhang mit dem ebenfalls distinktiven Element kommunaler Entwicklung in Europa. Zudem betonte er auf Nachfrage, die Eigendynamik der europäischen Entwicklung sei weit stärker zu gewichten als wirtschaftlich-monetäre Beziehungen zum muslimischen Mediterraneum.

Auch FRANCO CARDINI (Firenze) operierte mit den oben angeführten Leitbegriffen und kennzeichnete die Herausbildung ebenso dualistischer wie komplementärer Strukturen von weltlichen und geistlichen Institutionen im (west)europäischen Raum – die spezifische Trennung geistlicher und weltlicher Sphäre bei gleichzeitiger priesterlicher Gehorsamsforderung an laikale Herrscher – als besonders dynamische Ausnahmeerscheinung.

THOMAS FRANK (Pavia) nahm nach einem klar strukturierten Überblick über die mittelalterliche Gesetzgebung vergleichend das islamische Recht in den Blick und arbeitete so die Spezifik der jeweiligen Rechtsquellen und damit korrespondierenden Modi der Veränderung des Rechts heraus. Als entscheidenden Unterschied zum Okzident hob er die Grenzen der Gesetzgebung hervor: Im islamischen Recht gebe es keine Konkurrenz von Rechtssystemen wie in Europa (weltliches und geistliches Recht, zudem lang anhaltende Ausklammerung des lokalen Rechts aus der Gesetzgebung). Die sich insbesondere seit dem 15. Jahrhundert in Europa entfaltende Gesetzgebung der Städte und Landesfürsten sei eher als Symptom für Differenzierungsprozesse denn als Vehikel für den Aufstieg Europas zu begreifen, wie besonders die alternative Entwicklung in England erweise (Common Law).

Ähnlich zurückhaltend äußerte sich FRANCO FRANSCESCHI (Siena) nach einer detaillierten Bestandsaufnahme zum Anteil von Gilden und Zünften an wirtschaftlicher Entwicklung und Staatsbildung, die er für das westliche Europa als wichtiges politisches Differenzierungselement charakterisierte. Zwar seien im Orient analoge Funktionen kaum erkennbar, sehr wohl aber die Verbreitung und Attraktivität des korporativen Modells auch außerhalb Europas, die genauer untersucht werden müsse und sich als Feld globalgeschichtlicher Forschungen anbiete.

WOLFRAM DREWS (Bonn) ging der Ausprägung verschiedener imperialer Konzepte im mittelalterlichen Europa nach (Kaisertümer und -titel, imperiale Königtümer, Papsttum). Vorsichtig bezeichnete er die Differenzierung unterschiedlicher universaler und (stets begrenzter) hegemonialer Ansprüche – wie auch der gelehrten Diskurse darüber – als „vielleicht“ typisch westeuropäisches Phänomen. Abseits davon nahm er, Vergleich und Beziehungsgeschichte verknüpfend, einen möglichen Kulturtransfer der Verwendung von imperialen Titulaturen zwischen dem christlichen Westeuropa und dem Emirat/Kalifat von Cordoba im 10. Jahrhundert in den Blick.

GEORG JOSTKLEIGREWE (Münster) arbeitete anhand mehrerer Einzelfälle des 14. Jahrhunderts heraus, dass mittelalterliche Diplomatie kaum auf die (materielle) Organisation, sondern vielmehr auf die Legitimation von Macht abzielte, dies auch über kulturelle oder religiöse Grenzen hinweg (Hundertjähriger Krieg, Lateinisches Kaiserreich, Katalanische Gesellschaft), wobei er für die protokolonialistischen Expansionsprozesse des Spätmittelalters das (von schwachen Staaten geduldete) eigenmächtige Agieren privater Akteure hervorhob. Deren Defizit an Legitimitätsressourcen auf diplomatischem Wege auszugleichen, sei die beste Möglichkeit für europäische Fürsten gewesen, weiträumig über das eigene Herrschaftsgebiet hinaus Einfluss auszuüben. Als Vorstufe späterer globaler Expansionsprozesse sei dieser spezifische Ausbreitungsmodus nicht zu begreifen.

KNUT SCHULZ (Berlin) befasste sich mit den Voraussetzungen militärischer Eroberung durch die technologischen Fortschritte im Bereich der Feuerwaffen seit dem 14. Jahrhundert und hob als Movens der Entwicklung nicht nach außen gerichtete Eroberung, sondern innereuropäische Konflikte und technische Neugier hervor. Erst die Verknüpfung gezielter praktischer Experimente mit einer enormen Steigerung der Produktion im 15. und 16. Jahrhundert könne als eine Grundlage der europäischen Expansion gelten. Zudem wies er darauf hin, dass nur bei der Eroberung und Kolonialisierung der Amerikas, nicht aber im asiatischen Osten, waffentechnische Überlegenheit ausschlaggebend gewesen sei.

Den mittelalterlichen Vorstellungen von Gewalt im Zusammenhang mit (und dezidiert nicht als Ausfluss von) religiösen Konzepten und herrscherlicher Autorität ging THOMAS SCHARFF (Braunschweig) nach, der in der Summe eine erstaunlich positive Konnotation des gerechtfertigten Krieges konstatierte und auf starke Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit in dieser Hinsicht hinwies. Abschließend warf er die Frage auf, ob die mittelalterliche Vorstellung, stark von äußeren Gegnern bedrängt zu sein, ein wesentliches (obgleich nicht ausschlaggebendes) Motiv in frühneuzeitlichen Expansionsprozessen dargestellt habe.

Den mit Abstand am stärksten als globalgeschichtlichen Vortrag zum Mittelalter hielt kein Mediävist, sondern ein Globalhistoriker: PEER VRIES (Wien) setzte sich kritisch mit der California School und dabei insbesondere mit der These Kenneth Pomeranz’ auseinander, das westliche Europa (genauer: England) verdanke seinen Aufstieg nicht langfristig entstandenen Strukturen, sondern insbesondere zwei glücklichen Umständen: leicht zugänglichen Kohlevorkommen und dem Zufluss von Edelmetall und Rohstoffen aus den Kolonien.2 Zum Kern seiner Erwiderung machte Vries das Argument, sowohl die Nutzung von Kohle wie auch die Kolonialisierung seien Ergebnisse spezifischer historischer Problemlagen, die sehr wohl mittelalterliche Grundlagen hätten. Immer wieder mit kontrastierenden Hinweisen auf China brachte er dabei Verwandtschafts- und Haushaltsstrukturen (lange Jugendphase), Arbeitsmarkt und Kreditwesen mit einer anschlussfähigen „Economy of Skills“ in Zusammenhang, die das „Wunder“ einer Kohlerevolution überhaupt erst etwas wahrscheinlicher gemacht hätten und entfaltete analog die Herausbildung einer besonderen politischen Ökonomie, ohne die der Drang zur Erkundung und Ausbeutung von Kolonien unerklärlich bleibe.

Kaum zufällig löste der Vortrag eine besonders grundlegende Diskussion aus. Vernachlässige ein rein erklärendes – und als solches selbst typisch europäisches – Deutungsmuster nicht die eine zentrale Dimension von Geschichte als eines Raums von Alteritäten? Sei nicht die Forderung ernst zu nehmen, Europa zu „provinzialisieren“ (Dipesh Chakrabarty), und seinen Aufstieg zu erklären mithin gar keine europäische Aufgabe? Müsse spätmittelalterliche Geschichte nicht auch als Negativerfahrung, als eine „Kultur der Angst“ (Mongolen, Pest, Osmanen) stärker gewichtet werden? Dem lassen sich weitere zentrale Diskussionsbeiträge und Kommentare aus dem gesamten Tagungsverlauf und der Zusammenfassung DANIELA RANDOS (Pavia) hinzufügen. Angesicht des in der Regel asymmetrischen Vorgehens wurde gewarnt, vorschnell europäische Eigenheiten mit außereuropäischer Andersartigkeit oder auch vermeintlicher Normalität zu kontrastieren. Zudem seien nicht nur globale, sondern auch regionale Differenzen stärker in den Blick zu nehmen. Immer wieder wurde zudem Skepsis am Aufstiegsnarrativ selbst geäußert, das ein Einfallstor für lineare oder teleologische Verkürzungen und modernisierenden Anachronismen sei und zudem die Konstruktion Europas als Ausnahmefall und zugleich dessen gleichsam entschuldigende historiographische Rechtfertigung (zu) nahe lege. Und verstelle die Rede vom Aufstieg Europas nicht die Einsicht, dass für andere Regionen andere Erfolgsmodelle maßgeblich seien? Zudem wurde auf zahlreiche Möglichkeiten hingewiesen, Europa jenseits kausaler Erklärungsversuche globalgeschichtlich zu erforschen (gemeinsame Geschichte, Blickwechsel, Außenperspektiven und Begegnungen, Transkulturalität und Hybridität).

Will man zusammenfassend die Tagungsergebnisse würdigen, sind verschiedene Aspekte zu trennen. Der angekündigte Band, in dem die Beiträge der beiden ersten Tagungen publiziert werden sollen, wird gewiss keine globalgeschichtliche Verortung des europäischen Mittelalters leisten, doch wäre solches derzeit zweifelsohne zuviel verlangt. Immerhin werden darin Anhaltspunkte zu finden sein, wo welche globalgeschichtliche Perspektive lohnenswert sein könnte und wo nicht. Für den Moment wesentlich wichtiger ist die in Gang gesetzte Belebung der Diskussion um eine sinnvolle Ausrichtung globalgeschichtlicher Mediävistik. Mit einer gewissen Vorsicht darf man annehmen, dass Globalgeschichte des Mittelalters in den nächsten Jahren eher nicht als Vorgeschichte der Globalisierung geschrieben werden wird. Zuletzt schließlich zeichnet sich ab, dass die Konzeption nicht einer einzelnen, sondern einer Serie von Tagungen erfolgreich den Impuls geben wird, die Kontakte zwischen globalgeschichtlich interessierten Kollegen auszuweiten und zu verstetigen.

Konferenzübersicht:

Politik
Chair: Sandro Carocci, Roma

Wolfgang Reinhard (Freiburg): Europäische Politik als weltgeschichtliche Ausnahme )

Paolo Cammarosano (Trieste): Finanze pubbliche, politiche statali e prosperità economica

Comments: Matthias Maser, Erlangen

Ordnungsformen
Chair: Luca Molà, Warwick

Franco Cardini (Firenze):L’impatto della chiesa sullo stato europeo

Thomas Frank (Pavia): Gesetzgebung im Vergleich

Peer Vries (Wien): The Great Divergence und das Mittelalter

Comments: Bernd Schneidmüller

Theorie, Kommunikation und Konsensfindung
Chair: Felicitas Schmieder

Franco Franceschi (Siena): Le corporazioni e il potere

Wolfram Drews (Köln/Bonn): Politische Theorie und imperiale Konzepte

Georg Jostkleigrewe (Münster): Diplomatie und grenzüberschreitende Kommunikation: Staatlicher und nicht staatlicher Handel mit Legitimität und Macht (im Kontext spätmittelalterlicher Expansionsprozesse)

Comments: Marco Meriggi, Napoli

Krieg und Gewalt
Chair: Uwe Israel, Venezia

Knut Schulz (Berlin): Feuerwaffen: technische Literatur, innovative Entwicklung und organisierte Produktion im 14. und 15. Jahrhundert

Thomas Scharff (Braunschweig): Vorstellungen und Praktiken von Gewalt

Comments: Luciano Pezzolo, Venezia

Zusammenfassung
Daniela Rando, Pavia

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht Europas Aufstieg als Problem. Eine globalgeschichtliche Verortung des europäischen Mittelalters. 02.03.2009-05.03.2009, Como, Italien, in: H-Soz-u-Kult, 07.04.2009, < http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2573>.
2 Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy (The Princeton economic history of the Western world 4), Princeton 2000.