Europas Aufstieg als Problem. Eine globalgeschichtliche Verortung des europäischen Mittelalters

Europas Aufstieg als Problem. Eine globalgeschichtliche Verortung des europäischen Mittelalters

Organisatoren
PD Dr. Thomas Ertl, Göttingen
Ort
Como
Land
Italy
Vom - Bis
02.03.2009 - 05.03.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Claudia Moddelmog, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Hat der EU-Erweiterungsprozess maßgeblich zum Boom der „Europäischen Geschichte“ beigetragen, so nehmen europäische Historiker inzwischen auch die Globalisierung als Herausforderung wahr und suchen Anschluss an die vornehmlich in den USA schon seit längerem etablierte Globalgeschichte.1 An beide Trends schließt die von Thomas Ertl organisierte, mehrteilige Konferenzreihe an und greift dabei zugleich ein prominentes Problem auf – den Aufstieg Europas zur dominierenden Macht der Moderne. Notwendigkeit und Chancen einer globalgeschichtlichen Erweiterung insbesondere der Mediävistik hat der Organisator in einem vorbereitenden Einführungspapier herausgearbeitet. So gelte es, vermeintliche Spezifika der europäischen Entwicklung im transkulturellen Vergleich zu überprüfen, Annahmen über die epochenübergreifende Kontinuität europäischer Entwicklung mit Spätdatierungen des europäischen Sonderwegs zu konfrontieren und das Konzept einer allein auf genuine Faktoren ausgerichteten Historiographie um eine eurasische Verflechtungsgeschichte zu erweitern.

Die erste Tagung der Reihe war Wirtschaft und Technik gewidmet und in drei Sektionen –Strukturen, Beziehungen, Vergleiche – unterteilt. Einige Beiträge fielen allerdings aus diesem Rahmen heraus, und es wird nicht überraschen, dass die Referentinnen und Referenten ausgesprochen disparate Zugänge zum Tagungsthema wählten.

Im einführenden Beitrag widmete sich LUIGI CAJANI (Rom) der wohl wichtigsten Schnittstelle zwischen Fachwissenschaft und gesellschaftlichem Wissen, den Schulbüchern, und konstatierte eine bis heute anhaltende Verengung des vermittelten Wissens auf nationalstaatliche und eurozentrische Perspektiven, in der Weltgeschichte weitgehend marginalisiert werde.

Mit verschiedenen Konzeptualisierungen der spätmittelalterlichen Wirtschaft Europas befasste sich SANDRO CAROCCI (Rom) und favorisierte institutionenbezogene Modellbildungen. Die Erforschung wirtschaftlicher Dynamiken im Wechselspiel mit dem Handeln verschiedener Institutionen (staatlicher, kommunaler etc.) erlaube die weitgehende Kontextualisierung wirtschaftlicher Vorgänge und eigne sich zudem für vergleichende Zugriffe. Außerdem plädierte Carocci für die stärkere Heranziehung archäologischer Quellen, die auf eine bereits 13. Jahrhundert beginnende „Revolution des Konsums“ hindeuteten.

Im starken Kontrast zu den Diskussionen über die Dynamik der europäischen Wirtschaft im späten Mittelalter stand das Bild, das TILMAN NAGEL (Göttingen) von der Wirtschaft in der westlichen islamischen Welt zwischen 1000 und 1500 zeichnete. Er brachte dabei die Omnipräsenz der religiösen Aufgabe, die gesamte Welt islamischer Herrschaft zu unterwerfen, mit der einseitigen Nutzung der ökonomischen Ressourcen durch die militärischen Eliten (Dienstlehensystem), dem Niedergang der Landwirtschaft und den fehlenden Entfaltungsmöglichkeiten für Produzenten und Händler in Zusammenhang. Somit seien wesentlich endogene Ursachen in der islamischen Welt für den Richtungsumschlag im ökonomischen Austausch mit Europa verantwortlich.

Ausgehend vom zukunftsweisenden Charakter wirtschaftlicher Institutionen wie Messen und Banken wurde im Vortrag MICHAEL ROTHMANNs (Gießen) der zeitlich begrenzte mittelalterliche Jahrmarkt als „Keimzelle“ dieser Institutionen behandelt, der im Unterschied zum zünftisch abgeschotteten lokalen Markt geradezu als „kapitalistische Musterinstitution“ gelten könne. An die Beschreibung der verschiedenen Rahmenbedingungen von Jahrmärkten schloss sich der Nachweis an, dass weit über das Mittelalter hinaus zeitlich abgestimmte Messen ganze Regionen West- und Mitteleuropas permanent an den Fernhandel anschlossen und ihrerseits wiederum mit kleinräumigeren Messenetzen verknüpft waren.

GIACOMO TODESCHINI (Triest) polemisierte gegen die verbreitete dichotomisierende Sicht mittelalterlicher Religion und Wirtschaft und skizzierte, wie in einem gestreckten Prozess (5. bis 14. Jahrhundert) ökonomisches Verhalten mit religiösem Sinn aufgeladen wurde und wie innerhalb religiöser Konzepte sich verfeinernde Vokabularien zur Beschreibung und Bewertung von Tausch, Markt und Profit entstanden. Diese seien mit den wirtschaftlichen Praktiken des 15. Jahrhunderts kompatibel gewesen und hätten die linguistische Grundlage späteren ökonomischen Denkens gebildet.

In expliziter Anknüpfung an die eurasische Verflechtungsgeschichte Janet Abu-Lughods verfolgte FELICITAS SCHMIEDER (Hagen) die unterschiedliche Anbindung Lateineuropas an Fernhandelswege im frühen und späten Mittelalter.2 Erst den Anschluss an das eurasische Weltsystem des 13. Jahrhunderts hätten die sich im „Aufbruch“ befindenden Europäer zu nutzen gewusst. Das in dieser Zeit durch Kommunikation und Autopsie gewonnene makroökomisch-geographische Wissen habe zur hartnäckigen Suche eines Seewegs nach Indien beigetragen, mithin zum Aufstieg Europas.

Wie wenig das Wissen um den fernöstlichen Ausgangspunkt der Pest die gelehrten Konzepte der Europäer veränderte, schilderte KLAUS BERGOLDT (Köln). Die durch die Epidemie ausgelösten Reflexionen waren vornehmlich darauf gerichtet, die traditionellen Konzepte – Elementen- und Säftelehre – und die korrespondierende Auffassung vom gesunden Klima Chinas mit der gegensätzlichen Erfahrung zu harmonisieren.

GERRIT JASPER SCHENK (Heidelberg) ließ einen Vergleich zum Umgang mit den durch Flussläufe erzeugten Bedrohungen in Florenz und Straßburg (14. bis 17. Jahrhundert) in weitreichende Thesen münden: Für das europäische Naturverhältnis typisch sei die Konkurrenz verschiedener – politischer, rechtlicher, epistemologischer – Modelle und Interessen sowie die Fähigkeit, diese adaptierend zu integrieren. Der nur auf lange Sicht zu konstatierende Prozess europäischer Rationalisierung habe sowohl mittelalterliche Grundlagen wie auch transkulturelle, namentlich im Bereich des Wissens- und Technologietransfers.

Nach einem globalen Vergleich auf der Basis approximativer Daten zu Bevölkerungsdichte, Pro-Kopf-Einkommen und Energieverbrauch kam PAOLO MALANIMA (Neapel) zu dem Ergebnis, die im Mittelalter weltweit zu beobachtenden Wachstumsprozesse seien vor der intensiven Nutzung von Kohle als Energiequelle insgesamt stark begrenzt gewesen und hätten ihre wesentliche Ursache kaum in der Veränderung von (gewerblichen) Produktionsweisen, sondern in den klimatischen Veränderungen gehabt.

In kritischer Distanz zu vorliegenden Versuchen, mit Bergbau und Metallverarbeitung ganze Wirtschaftszweige weltgeschichtlich zu vergleichen, plädierte MATHIEU ARNOUX (Paris) dafür, als Grundlage für deren Vergleichbarkeit die originären Charakteristika dieser Sektoren im mittelalterlichen Europa herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck konturierte er den steigenden Bedarf an Metallen, setzte diesen in Bezug zu Organisation und Innovation der Produktion und schilderte die Entstehung eines stark durch staatliche Initiative geprägten kohärenten technologischen Systems mit internationalem Arbeitsmarkt für Experten.

LUCA MOLÀ (Warwick) skizzierte die Entstehung einer europäischen Kultur der Innovation im 15. und 16. Jahrhundert. Stichworte: aktive Aneignung östlicher Technologien, staatliche Initiativen zur Einführung neuer Techniken, Einführung des sich zu einem in ganz Europa und auch in Amerika akzeptierten System entwickelnden Patentschutzes. Einer spezifisch okzidentalen Rationalität wollte er seine Ergebnisse indes nicht zuordnen. Im Hinblick auf die spätere technologische „Unterlegenheit“ Chinas verwies er auf die in der Forschung angeführten institutionellen und kulturellen Faktoren (Staatsmonopol, Konfuzianismus), aber auch auf gegenläufige Beobachtungen.

RUDOLF HOLBACH (Oldenburg) setzte sich mit Organisationsformen der gewerblichen Produktion vor allem in Europa auseinander, wies aber, soweit der Forschungsstand erlaubt, immer wieder auf Parallelen und Unterschiede in den verschiedenen außereuropäischen Regionen hin. Er relativierte die Bedeutung des Verlagssystems als entscheidendem Erfolgsmodell und stellte ebenso die These infrage, ein starker oder zentralistischer Staat habe stets negative Auswirkungen auf wirtschaftliche Aktivitäten.

In Kombination von Verflechtungsgeschichte und Vergleich behandelte THOMAS ERTL (Göttingen) einen wirtschaftlichen Schlüsselsektor, die Textilproduktion, in China, dem mamlukischen Ägypten und Westeuropa, wobei er von einem sich stetig wandelndem System von Zentren und Peripherien, nicht von homogenen „Kulturen“ ausging. In kritischer Auseinandersetzung mit älteren Thesen betonte er, der Aufstieg Europas beruhe nicht auf effizienterer Produktion oder technologischem Vorsprung, sondern auf unterschiedlichen sozialen Strukturen. Überspitzt formuliert: Im Orient habe der Staat die Wirtschaft, in Westeuropa die Wirtschaft den Staat dominiert.

SALVATORE CIRIACONO (Padua) ging auf Schwierigkeiten und Chancen ein, Produktion und Konsum von Luxusgütern als interpretativen Schlüssel für globalgeschichtliche Vergleiche fruchtbar zu machen.

In seiner Zusammenfassung benannte GIUSEPPE PETRALIA (Pisa) verschiedene im Laufe der Tagung hervorgetretene Problemkreise: die Spannung zwischen der Frage nach dem Aufstieg Europas und der Forderung nach Überwindung des Eurozentrismus, die große Aufmerksamkeit für die Wechselwirkungen institutionell-staatlicher und ökonomischer Sphäre sowie die stark differierenden Interpretationen eben dieser Zusammenhänge und die Beurteilung der strukturierenden Auswirkungen des Fernhandels. Außerdem sprach er die epistemologische Differenz zwischen der Konturierung eines europäischen „Sonderwegs“ und einer genetischen Erklärung der modernen Dominanz Europas an.

An diese Bemerkungen kann eine Sichtung der Tagungsergebnisse anschließen. In Hinblick auf Europäische Geschichte ist festzuhalten, dass die Frage nach dem Aufstieg Europas auch verengende Aspekte hat: Osteuropa bleibt dabei unberücksichtigt. Der Schwerpunkt des – angekündigten – Tagungsbandes wird zudem auf dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit liegen, wobei diese Epochengrenze in einer ganzen Reihe von Vorträgen überschritten wurde.

In Hinblick auf die intendierte globalgeschichtliche Erweiterung der europäischen Geschichte ist der Ertrag unterschiedlich zu bewerten. Zweifelsohne ist zu begrüßen, wenn interkulturelle Austauschprozesse und Verflechtungen stärker in den Blick genommen und in ihrer Qualität wie ihren historischen Folgen in den Blick genommen werden. Im Zeitalter der Globalisierung hat die Untersuchung solcher Beziehungen einen eigenen Stellenwert, weil sie erlaubt, aktuelle Probleme im Spiegel der Geschichte zu behandeln. Wie sinnvoll es ist, diese synchrone Ausweitung des Blicks auf den Aufstieg Europas zu beziehen, scheint indes eine andere Frage. Zumindest wird die diachrone Perspektive zur besonderen Herausforderung, wenn man Historiker wie Kenneth Pomeranz ernst nimmt, der die beginnende Dominanz Europas nicht nur spät datiert (18. Jahrhundert), sondern vor allem ihre Kontingenz und Diskontinuität betont.3 Mediävistische „Ursachenforschung“ für den Aufstieg des Westens wird dabei in grundsätzlicher Weise in Frage gestellt, auch und vielleicht insbesondere, wenn sie den anspruchsvollen Weg des interkulturellen Vergleichs geht. Etwas vereinfachend ließe sich sagen: Wer eher von übergreifenden Kontinuitäten europäischer Geschichte ausgeht, wird im Vergleich mit anderen Kulturen (oder kulturell anders geprägten Räumen) wohl eher zu kontrastierenden Urteilen neigen, schlicht weil es um die Erklärung einer spezifischen westlichen „Entwicklung“ geht. So wurde auf der Tagung nicht zuletzt zum Problem, ob die Frage nach solchen – mittelalterlichen – Ursachen eine genetische oder teleologische Perspektive nicht notwendig impliziert und ob es für die intendierte Erweiterung mediävistischer Forschung nicht fruchtbarer sei, Weltgeschichte als ein Repertoire der Differenzen zu begreifen (Giuseppe Petralia). Man kann diese Erwägung gleichermaßen als Kritik wie als Indiz für die Produktivität der während des Treffens in Gang gesetzten Diskussion auffassen.

Konferenzübersicht:

Die Wahrnehmung der mittelalterlichen Wirtschaft Europas in italienischen und deutschen Schulbüchern (Luigi Cajani, Rom)

Strukturen: (Chair: Marco Meriggi, Neapel)

Krise des Spätmittelalters oder Beginn der Expansion? Europas Wirtschaft
im 14. und 15. Jahrhundert (Sandro Carocci, Rom)

Wirtschaftliche Entwicklung in der westlichen islamischen Welt 1000-1500
(Tilman Nagel, Göttingen)

Europäische Marktkonzepte (Michael Rothmann, Gießen)

Geist des Protokapitalismus (Giacomo Todeschini, Triest)

Beziehungen: (Chair: Uwe Israel, Venedig)

Europa und das vormoderne Weltwirtschaftssystem (Felicitas Schmieder,
Hagen)

Die Pest als eurasisches Phänomen (Klaus Bergdolt, Köln)

Politik und Naturgefahren/Naturbeherrschung (Gerrit Jasper Schenk,
Heidelberg)

Vergleiche: (Chairs: Almut Höfert, Basel; Monica Juneja, Heidelberg)

Die vormodernen Energiequellen Europas aus komparatistischer Perspektive
(Paolo Malanima, Neapel)

Montanwesen und Metallverarbeitung (Mathieu Arnoux, Paris)

Technische Innovation zwischen Orient und Okzident (Luca Molà, Warwick)

Formen gewerblicher Produktion: Zunft, Verlag, Großbetrieb (Rudolf
Holbach, Oldenburg)

Textilindustrien in Ost und West (Thomas Ertl, Göttingen)

Luxusproduktion zwischen Ost und West. (Salvatore Ciriacono, Padua)

Zusammenfassung (Giuseppe Petralia, Pisa) und Schlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Der Veranstalter der Tagung hat selbst bereits eine erste Globalgeschichte des Mittelalters vorgelegt: Thomas Ertl, Seide, Pfeffer und Kanonen. Globalisierung im Mittelalter (Geschichte erzählt 10), Darmstadt 2008. Vgl. dazu die Rezension von Juliane Schiel, in: H-Soz-u-Kult, 02.07.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-006> (28.03.2009). Eine gute Einführung zu Globalgeschichte bieten Sebastian Conrad/Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen, in: Dies. / Ulrike Freitag (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt am Main 2007, S. 7-49.
2 Janet Abu-Lughod, Before European Hegemony. The World System A.D. 1250 – 1350, New York 1989.
3 Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy (The Princeton economic history of the Western world 4), Princeton 2000.


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts