„Unbewältigte Vergangenheit“? Faschismus und Krieg in Literatur und Film um 1960.

„Unbewältigte Vergangenheit“? Faschismus und Krieg in Literatur und Film um 1960.

Organisatoren
Institut für Germanistik der Universität Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2007 - 25.11.2007
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Von
Ulrike Schneider, Potsdam

Die Frage nach der „Unbewältigten Vergangenheit“ stand im Zentrum des gleichnamigen Workshops, der „Faschismus und Krieg in Literatur und Film um 1960“ nachging. Veranstaltet vom Institut für Germanistik der Universität Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) ist er Bestandteil einer dreiteiligen Reihe, die am Beispiel der Jahre 1950, 1960 und 1970 eine vergleichende Untersuchung von veröffentlichter Erinnerung an Faschismus und Krieg in beiden deutschen Staaten unternimmt. Gewidmet war die Veranstaltung der im Juli verstorbenen Literaturwissenschaftlerin SIMONE BARCK. Sie war langjährige Mitarbeiterin am ZZF und Mitorganisatorin der Workshopreihe. Ihr 2003 erschienenes Buch „Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre“ bildete, wie HELMUT PEITSCH in seiner Begrüßung hervorhob, die Grundlage für die inhaltliche Konzeption der Reihe. In der Monografie werde überzeugend der Nachweis von unterschiedlichen, gegenläufigen Tendenzen auf dem Feld der deutsch-deutschen, aber auch europäischen Erinnerung an Faschismus und Krieg unternommen.

Der Eröffnungsvortrag von CHRISTOPH KLEßMANN (Potsdam) ging der Frage nach, wie die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht in Form von Kriterien der Trennung, sondern von verknüpfenden Bezugspunkten dargestellt werden könne. Das Konzept einer integrierten Nachkriegsgeschichte ist in den letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund der Zeithistorischen Forschung gerückt. Kleßmann stellte heraus, dass neben der Untersuchung deutsch-deutscher Interaktionen, auch der Kalte Krieg und seine inneren Folgen für beide Staaten betrachtet werden müssten. Gerade auf der Ebene der Beziehungsgeschichte stellten die späten 1950er-/frühen 1960er-Jahre einen ergiebigen Ansatz dar. Einen wesentlichen Vergleichspunkt bilde die Darstellung des Antifaschismus. Er führte in der DDR zu einem verkürzten Faschismusbild aufgrund der Kapitalismustheorie. In der Bundesrepublik verhinderte er eine kritische Auseinandersetzung mit dem Faschismus aufgrund der Gegenpolitik der DDR. Ein weiteres Untersuchungselement wäre die Frage nach der Vorstellung der Deutschen als Opfer. Während dies in der DDR ein Tabuthema darstellte, war es in der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren ein weit verbreitetes Argument. Gerade für die Bundesrepublik sei das Jahr 1960 ein Wendepunkt im Umgang mit der Vergangenheit. Kleßmann verwies auf die Einrichtung der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen (1958) sowie auf das literarische Schlüsseljahr 1959, in dem Bölls Roman „Billard um halb zehn“ und Grass’ „Blechtrommel“ erschienen. Aber auch für die DDR ließen sich Ereignisse auf dem Weg der „Vergangenheitsbewältigung“ feststellen. Dazu zählen das am 19. Oktober 1965 in beiden deutschen Staaten uraufgeführte Drama „Die Ermittlung“ von Peter Weiss sowie die Veröffentlichung von literarischen Texten, die nicht der offiziellen politischen Lenkung folgten.

Die ersten beiden Vorträge des zweiten Tagungstages erweiterten die deutsch-deutsche Perspektive um Erinnerungen im europäischen Kontext. ANETTE STOREIDE (Oslo) ging in ihrem Vortrag auf die Erinnerungen norwegischer Widerstandskämpfer und KZ-Überlebender ein. Die offizielle Erinnerung in Norwegen, in der der patriotische Widerstand auf die gesamte Nation übertragen wurde, gebe das Muster für die Berichte und Texte vor. Die Autoren waren vorwiegend ehemalige politische Gefangene und Widerstandskämpfer. Nur 34 der 771 deportierten norwegischen Juden überlebten den Krieg und nur drei schrieben über ihre Erlebnisse. Während nach Kriegsende bis 1949 zahlreiche Erinnerungstexte veröffentlicht wurden, bildeten in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten Neuauflagen den größten Bestandteil. Am Beispiel der Autoren Gunnar Sønsteby und Per Torhaug führte Storeide den Umgang mit Erinnerung um 1960 vor und machte deutlich, wie sehr die Rezeption der Autoren an die offiziellen Kriterien von Widerstand gebunden war. Während es sich bei Sønsteby um einen bekannten Widerstandskämpfer handelte, der in seinem „Bericht von NR. 24“ auf Namenslisten und Fotos zurückgriff, um eine „authentische“ Abbildung wiederzugeben, verlagerte Torhaug seinen Roman „Das Waldkommando“ auf eine fiktionale Ebene, in der zwar reale Ereignisse als Ausgangspunkt gewählt wurden, aber kein Berichtcharakter den Text prägen sollte. Das Bild des „starken Vorzeigehelden“, für welches Sønsteby in der offiziellen Erinnerung stand, umging Torhaug bewusst, indem er ihm einen traumatisierten Helden gegenüberstellte. Bestand hatte allerdings Sønstebys Buch, das zum Bestseller avancierte, erst 2004 wurde Torhaugs Buch neu aufgelegt. Gleichzeitig kann die Rezeption als Beispiel für den innernorwegischen Prozess gelten, in dem KZ-Überlebende, die nicht die offiziellen Kriterien des Heldenbildes erfüllten, erst Ende der 1960er als gleichberechtigte Opfer anerkannt wurden.

Die Konkurrenz der Erinnerung spiegelte sich auch in dem Vortrag von ANNE BODEN (Dublin) wider. Der Vortrag ging der (fast) ausgebliebenen Rezeption des 1960 in der Bundesrepublik und 1961 in der DDR erschienenen Tagebuchs des Dawid Rubinowicz nach. Den Besprechungen in nur jeweils einer deutschen Zeitung (Die Welt) bzw. Zeitschrift (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft) stehe die große Wahrnehmung in Polen gegenüber, wie Boden hervorhob. Gefeiert wurde das Tagebuch aufgrund seiner chronologischen und zeugnishaften Darstellung des Leidens. Was von dem zwölfjährigen Rubinowicz als jüdisches Leiden und Erfahrung abgebildet wurde, wurde in den polnischen Rezensionen unter das „wir“ der polnischen Opfer summiert. Die jüdische Identität des Jungen blieb in den Besprechungen damit gänzlich ausgeblendet. Nicht nur dieses Indiz weist auf die Marginalisierung von Erinnerungen hin. Boden verwies darauf, dass somit gerade seine differenzierte und bemerkenswerte Nennung von polnischen, deutschen, aber auch jüdischen Tätern in den Rezensionen verwischt werde. Der an den Schluss des Vortrags gestellte Vergleich mit dem Tagebuch der Anne Frank zeigte die unterschiedliche Aufnahme der Tagebücher. Ein Faktum dafür sah Boden in der Herkunft der Kinder gegeben, die bei Rubinowicz aufgrund seines osteuropäischen Judentums eine Identifikation seitens des Publikums verhindert hätte. Die anschließende Diskussion offenbarte geradezu beispielhaft, wie der Text Rubinowicz’ hinter Anne Frank zurückstand, da sie zur Hauptfigur der Diskussion wurde.

JUSTUS FETSCHER (Berlin) stellte in seinem Beitrag Vorträge bzw. Reden in den Mittelpunkt, die von den Intellektuellen Theodor W. Adorno, Helmuth Plessner und Hannah Arendt 1959 veröffentlicht wurden. Gemeinsam war diesen Stellungnahmen nicht nur der biografische Kontext der Emigration während des Nationalsozialismus, sondern die Aufnahme des Schlüsselwortes von der „Bewältigung der deutschen Vergangenheit“. Von allen dreien werde eine fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit beklagt, die eine „schonungslose deutsche Selbstkonfrontation mit Verfehlung, Versagen, Schuld und Verbrechen“ vermissen lässt. Demgegenüber stehe die Wiederkehr „einer ökonomisch-staatlich-gesellschaftlichen Konsolidierung“. Die Argumentationslinien nehmen verschiedene Konzepte auf. Derweil Plessner in „Die verspätete Nation“ (1959) eine historische Besinnung verfechte und im Namen eines deutschen „wir“ spreche, sei Adornos „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?“ von einem psychoanalytischen Ansatz geprägt. Dies weise nicht nur auf Mitscherlichs spätere Untersuchungen voraus, es sei auch der bedeutende und wichtige Versuch das Konzept der Psychoanalyse im deutschen Diskurs „heimisch zu machen“. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Lessing-Preises diagnostizierte Arendt eine „tiefe Ungeschicklichkeit der Deutschen über die Vergangenheit zu reden“. Fetscher zeigte auf, dass gerade das gewählte Vokabular bei Arendt – die auffällige Verwendung von Verben wie „bewältigen“, „nachsinnen“ oder „erzählen darüber“ – auf die Auseinandersetzung mit dem Thema verweise. Wurde weder von ihr noch Adorno das Sprechen als ein „jüdisches Ich“ betont, zitierte man Ausschnitte der Rede später als „Rede einer jüdischen Emigrantin“ im Bundestag.

Eine heute weniger bekannte Konferenz stellte DIETER SCHLENSTEDT (Berlin) in den Mittelpunkt seines Beitrags. Im Juni 1961 fand in der Akademie der Wissenschaften eine „Historikerkonferenz“ statt, die durch den Eichmannprozess in Jerusalem ausgelöst wurde. Im Mittelpunkt stand ein neues Nachdenken über den „faschistischen Antisemitismus“. Damit war diese Konferenz Beweis dafür, dass entgegen vielfacher Darstellungen die Problematik des Antisemitismus in der DDR durchaus diskutiert wurde. Allerdings überraschte nicht allein die Themenwahl, sondern vor allem die Wahl der Argumente, denn die Konferenz ging dem Problem nach, dass sich das „Barbarische des Judenmords kaum in marxistischen Beschreibungen“ darstellen ließ. Schlenstedt verwies auf das damalige Referat von Wolfgang Heise, in dem Heise die Judenvernichtung in den Kontext des Herrschaftssystems des Imperialismus stellte. Ausgehend vom Kaiserreich sah er ein Stufenmodell gegeben, in dem der Antisemitismus zunehmend in der Gesellschaft etabliert wurde. Das Besondere von Heises Argumentation bestehe nach Schlenstedt darin, dass nicht ökonomische Gründe zur Judenvernichtung führten, sondern sie Bestandteil der nationalsozialistischen Kriegspolitik war und das Modell für die spätere Besatzungspolitik bildete. Die Berliner Konferenz unterstütze somit einen Mentalitätswandel der durch Veröffentlichungen wie Gerd Schoernberners „Der gelbe Stern“ (1960) eingeläutet und auch in der DDR wahrgenommen wurde.

Im Mittelpunkt der anschließenden Sektion standen literarische Texte und die Kollektivkomposition „Jüdische Chronik“. Interessante Befunde präsentierte BILL NIVEN (Nottingham) in einem sehr anregenden Vortrag. Er ging der westdeutschen Rezeption des ostdeutschen Bestsellers über den antifaschistischen Widerstandskampf „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz nach. Erste Verhandlungen zur Veröffentlichung in einem westdeutschen Verlag begannen bereits 1958, kurz nach Erscheinen des Buches. Das Gutachten des damaligen Lektors vom Rowohlt Verlag, Peter Rühmkorf, beschrieb den Roman als „klischeehaft“, der in einer „Schwarz-Weiß-Färbung“ der Häftlinge und des SS-Personals stecken bliebe. Trotz dieser negativen Kritik wurde der Roman nicht nur in einer Auflage von 35.000 Exemplaren gedruckt, sondern von Marcel Reich-Ranicki positiv besprochen, er las darin eine implizite Kritik an der Parteidogmatik. Während in der DDR Rezeption der Roman zum Instrument gegen den „faschistischen Nachfolgestaat BRD“ avancierte – was durch die politische Haltung Apitz’ unterstützt wurde –, stand in der westdeutschen Rezeption die innere Konfliktdarstellung zwischen den Häftlingen im Vordergrund, die als Kritik am eigenen Staat gelesen wurde.

Eine Analyse des Jahres 1960 anhand Peter Weiss’ „Kopenhagener Journal“, das erst 2006 veröffentlicht wurde, nahm ROBERT COHEN (New York) vor. Neben den Arbeiten an „Fluchtpunkt“ und „Abschied von den Eltern“ seien vor allem die Lektüre von Brechts damals noch unveröffentlichtem „Journal“ – welches ihm durch Siegfried Unseld vermittelt wurde – sowie der Besuch des Dokumentarfilms „Mein Kampf“ (1959) von Weiss’ Freund Erwin Leiser prägend gewesen. Wie aus den Notizen hervorgehe, stelle Brechts Journal den Auslöser für das 1965 aufgeführte Stück „Die Ermittlung“ dar. Cohen wies darauf hin, dass das Journal um 1960 sowohl Weiss Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung gegenüber dem Kommunismus abbilde, als auch seine Beschäftigung mit der „eigenen Gefährdung“ als Jude durch die Nationalsozialisten, wenn die Familie in Deutschland verblieben wäre. Deutlich werde dabei der Zwiespalt zwischen der Problematik, die „eigene Gefährdung“ anzunehmen und der „drastischen Schuld des Verschonten“, wie Adorno es formulierte.

Auch SILVIA SCHLENSTEDT (Berlin) holte ein Werk aus der Vergessenheit hervor. Die nazistischen Vorfälle um die Jahreswende 1959/60 in der Bundesrepublik bildeten für Paul Dessau den Anlass zur Initiierung eines in Themenwahl und künstlerischer Zusammensetzung einzigartigen Projektes. In Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Jens Gerlach und ost- und westdeutschen Komponisten, darunter Boris Blacher, Karl A. Hartmann, Hans Werner Henze entwickelte Dessau das Kompositionswerk „Jüdische Chronik“. In der Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart stehen sich Geschichte und ihre Deutung gegenüber. Das Kernstück bildete dabei der Warschauer Ghettoaufstand, an dem sich Judenverfolgung und -mord, aber auch der Kampf gegen die Vernichtung nach Schlendstedt einzigartig miteinander verbanden. In Form einer jüdischen Ballade, die überlieferte Zeugnisse aus dem Ghetto sowie Zitate aus der Bibel aufnimmt, wird die Geschichte eines Einzelnen erzählt. Dessau wollte mit der Darstellung und Zusammenarbeit mit Komponisten aus beiden deutschen Staaten einen künstlerischen Beitrag zum gegenwärtigen Diskurs leisten. Die Aufführung des Stückes fand infolge des Mauerbaus 1961 nicht statt. Dessaus Hinweis an die westdeutschen Komponisten, dass es nicht um kommunistische Ideen, sondern um eine Stellungnahme gegenüber dem Antisemitismus ginge, blieb leider ungehört.

Inwiefern zeitgenössische Bildbände über den Vernichtungskrieg ein zentrales Element für die Gestaltung von Erzählungen bildeten, führte JAN KOSTKA (Potsdam) am Beispiel des Autors Klaus Schlesinger vor. Der Einsatz der Fotografien werde dabei nicht nur zum auslösenden Handlungselement, sondern impliziere gleichzeitig die Frage nach dem Umgang mit ihnen. Bis heute bilden Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg das wichtigste Element der geschichtlichen Darstellung. Die fotografische Abbildung eines Geschehens, bspw. die Massenerschießungen von Juden, könne immer nur Ausschnitt eines Augenblicks sein. Am Beispiel der Erzählung „Michael. Entwurf einer Erzählung“ (1965) stellte Kostka die Problematik der geschichtlichen Verzerrung aufgrund der ausschnitthaften Darstellung dar, die nach Susan Sontag „andere Formen von Verstehen und Erinnern“ verdränge.

Ein großer Bestandteil des Workshops war der Darstellung von Krieg und Faschismus im Film gewidmet. Zwei Vorträge führten in das audiovisuelle Medium ein. INGE MÜNZ-KOENEN (Berlin) verdeutlichte anhand des ostdeutschen Fernsehfilms „Gewissen in Aufruhr“ wie Themen von russischer Kriegsgefangenschaft und Heimkehr nicht nur das gesamtdeutsche Publikum beschäftigten, sondern wie sehr die Darstellung vom Kalten Krieg mitbestimmt wurde. Der fünfteilige Fernsehfilm, ausgestrahlt nach dem Mauerbau 1961, war eine Antwort auf den vom WDR produzierten Sechsteiler „Soweit die Füße tragen“ von 1959. Beide Filme sprachen ein erlebtes deutsches Massenschicksal an. Die filmischen Umsetzungen griffen in der Bundesrepublik auf eine Darstellung der sowjetischen Soldaten zurück, die in ihrer Sprache und Gestik eher an SS-Angehörige erinnerten. In der DDR wurde das Bild des kämpfenden, moralisch sich wandelnden Retters der Stadt Greifswald Rudolf Petershagen in den Vordergrund gerückt, der während einer Reise in die Bundesrepublik verhaftet wurde. Das Bild des heldenhaften Soldaten stand in beiden Filmen im Mittelpunkt. Seine Handlungsausrichtung war durch die jeweiligen politischen Bezugnahmen bestimmt und wurde somit in den Dienst der Staaten gestellt.

Nach CHRISTOPH CLASSEN (Potsdam) ließe sich die Geschichte des Fernsehens in beiden deutschen Staaten als eine Konkurrenzgeschichte schreiben. Dabei hob er heraus, dass das Schlagwort von zweierlei Vergangenheit durchaus seine Berechtigung habe, da sich in der strikten Trennung „Vergangenheitsbewältigung“ versus „Antifaschismus“ die Unterschiede der Systeme spiegelten. Trotz gleicher Ansatzpunkte bei der Wahl filmischer Themen – Classen verwies auf den Vergleich Münz-Koenens – bliebe die unterschiedliche politische Ausrichtung bestimmend. Während in den westdeutschen Filmen der 1960er-Jahre der Verweis auf die eigene Gesellschaft dominiere, gehe es den DDR-Darstellungen um die Verbrechen der Anderen. Dies führte dazu, dass sich die Bundesrepublik zivilgeschichtlich und institutionell etablierte, indem sie den Kalten Krieg hinter sich ließ, in der DDR dagegen der gesellschaftliche Aneignungsprozess bis zum Schluss vom Antifaschismus bestimmt blieb. Interessant wäre hier allerdings die Hinzuziehung von anderen Filmen gewesen, die die Thesen kritisch hinterfragt hätten, denn der abendliche Filmbeitrag „Wir Kellerkinder“ machte in wunderbar satirischer Weise deutlich, dass es innerhalb des westdeutschen Kinos – vielleicht auch nur im Kino – auch andere Herangehensweisen gab.

1960 nach dem Drehbuch des Kabarettisten Wolfgang Neuss gedreht, vereinte der Film die während des Workshops angesprochenen Themen. Am Beispiel des Filmhelden Macke Prinz zeigte der Film den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik. In den Erzählungen Mackes, der während des Nationalsozialismus einen Kommunisten, nach dem Krieg seinen Vater vor der Entnazifizierung im Keller versteckte, werden die gesellschaftlichen und politischen Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus offenbar. Demgegenüber steht die Aufdeckung einer nur rein äußerlich stattgefundenen Erneuerung im ‚anderen’ Deutschland, wo ebenfalls Mitläufer integriert wurden. Der Verweis auf die geschichtliche Wirklichkeit führt Macke in eine psychiatrische Anstalt – allein hinter geschlossen Türen, so verdeutlicht der Film, kann man die Wahrheit bändigen. SYLVIA KLÖTZER (Potsdam) stellte in ihrem Abendvortrag das ostdeutsche Pendant die „Stacheltiere“ vor. Anders als bei Neuss handelte es sich um eine satirische Serie, die seit 1953 im Kino vor dem Hauptfilm gezeigt wurde. Ein wichtiger Themenschwerpunkt war die „Auseinandersetzung mit dem Imperialismus“. Zwischen 1957 und 1960 entstanden regelrechte Agitationsfolgen, deren Inhalt weniger komisch als vielmehr diffamierend war. Davon zeugte auch das Beispiel „Ein deutscher Herr in Paris“ (1960) von Benno Besson. Bereits 1961 endete diese Themenreihe der „Stacheltiere“. Der Hinweis von Klötzer, dass der Bezug zur BRD nur im Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit auftauchte, verdeutlichte abschließend wie sehr die filmische Darstellung von der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte geprägt war.

Der Workshop machte sichtbar, dass sich der Ansatz, die osmotischen Prozesse – einen Begriff den Simone Barck prägte – zwischen beiden deutschen Staaten in den Vordergrund zu stellen, als fruchtbar erwies. Damit wurde der Blick nicht nur auf bisher marginal behandelte Texte gelenkt, sondern auch neue Fragen an den Umgang mit der deutsch-deutschen Vergangenheit gestellt. Dabei ist stets die Beziehung zum europäischen Umgang mit Erinnerungen einzubeziehen, da erst in diesem Vergleich herausgestellt werden kann, was ‚typisch’ ost- und westdeutsch bzw. deutsch-deutsch ist. Das Beispiel des polnischen Films „Die Passagierin“ (1961-1963) von Andrzej Munck zeigte, dass die Darstellung von Vergangenheit und Erinnerung ein wichtiger Bestandteil der eigenen nationalen Aufarbeitung war und nicht nur neue, filmische Elemente hervorbrachte, sondern den Blick kritisch auf vergangene und gegenwärtige Opfer- und Täterdiskurse richtete.

Konferenzübersicht:

Christoph Kleßmann (Potsdam): Fragen an eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte
Simone Barcks und Klaus Salges Fernsehfilm „Die Große Hamburger Straße. Zwischen Toleranz und Terror“

Europäischer Kontext
Anette H. Storeide (Oslo): „Wirkliche Helden haben keine Angst“. Die norwegische Widerstandserzählung und die Erinnerungen der norwegischen KZ-Überlebenden
Anne Boden (Dublin): „Jetzt ist die Reihe an uns, zu leiden“. Die Rezeption des Tagebuchs von Dawid Rubinowicz in der Bundesrepublik und in der DDR
Diskussion – Moderation: Martin Sabrow (Potsdam)

Essayistik und intellektuelle Debatten
Justus Fetscher (Berlin): Adorno, Arendt und Plessner 1959 über Vergangenheitsbewältigung
Dieter Schlenstedt (Berlin): Auf der Suche nach den Gründen der Barbarei. Wolfgang Heise und die Eichmann-Konferenz
Ulrike Schneider (Potsdam): Jean Amérys Diagnose der fünfziger Jahre. Die Kultur-Reportage „Geburt der Gegenwart“
Diskussion – Moderation: Irmela von der Lühe (Berlin)

Verfolgung und Widerstand
Bill Niven (Nottingham): Die Rezeption von Bruno Apitz‘ „Nackt unter Wölfen“ in Ost- und Westdeutschland 1958-1968
Robert Cohen (New York): "Die durch die Zukunft veränderte Vergangenheit". Peter Weiss' Kopenhagener Journal aus dem Jahr 1960
Silvia Schlenstedt (Berlin): Die Kollektivkomposition „Jüdische Chronik“ 1960-1961
Diskussion – Moderation: Wolf Kaiser (Berlin)

Krieg, Gefangenschaft, Flucht
Withold Bonner (Tampere): „Düster wird die Luft und droht mit bald’gem Sturm.“ Böhmische Landschaften in den Kriegserzählungen Franz Fühmanns
Berthold Petzinna (Berlin): Berichte aus der Kriegsgefangenschaft in den fünfziger Jahren. Entwicklung eines Genres
Agnieszka Kudelka (Torun): Hans Graf von Lehndorffs „Ostpreußisches Tagebuch“ und Marion Gräfin Dönhoffs „Namen, die keiner mehr nennt“ im Vergleich und Kontext Diskussion – Moderation: Gideon Botsch (Potsdam)

Audiovisuelle Medien
Inge Münz-Koenen (Berlin): Der Fernsehfilm ‚Gewissen in Aufruhr’ (DDR 1960/61)
Christoph Classen (Potsdam): „Antifaschismus“ versus „Vergangenheitsbewältigung“? Zur deutsch-deutschen Darstellung des Nationalsozialismus im Fernsehen um 1960
Jan Kostka (Potsdam): „Du sprichst wie von einer fremden Sache.“ Über die Bedeutung von (Kriegs-)Fotografien im Werk von Klaus Schlesinger
Diskussion – Moderation: Andrea Genest (Potsdam)

Filmabend
„Ein deutscher Herr in Paris“ (DDR, 1960)
„Wir Kellerkinder“ (BRD, 1960)
Sylvia Klötzer (Potsdam): Die „Stacheltiere“ und der Faschismus

Film-Matinee
„Die Passagierin” (Polen, 1961-1963) von Andrzej Munk
Filmgespräch mit Joanna Jablkowska (Lodz), Frank Stern (Wien)– Moderation: Günter Agde (Berlin)

Kontakt

Prof. Dr. Peitsch
Institut für Germanistik dr Universität Potsdam
Tel.: (0331) 9774234
Fax: (0331) 9774246
peitsch@rz.uni-potsdam.de

Koordination:
Annett Schramm, annettschramm@gmx.de
Tel.: (0331) 7042382


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