Das "Genre Wissenschaftszeitschrift" und die neuere Wissenschaftsgeschichte

Das "Genre Wissenschaftszeitschrift" und die neuere Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Abteilung Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.04.2006 - 07.04.2006
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Von
Arne Schirrmacher, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Deutsches Museum

Der erste Workshop im zweiten Bewilligungszeitraum des DFG-Schwerpunktprogramms 1143 zum Themenbereich "Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und 20. Jahrhundert" 1 widmete sich einem Querschnittsthema wissenschaftshistorischer Forschung, der Frage nach dem Umgang mit Wissenschaftszeitschriften als Quelle und ihrer Relevanz für aktuelle wissenschaftshistorische Fragestellungen. Ein Dutzend Projektbearbeiter stellten ihre Erfahrungen mit dem "Genre Wissenschaftszeitschrift" zur Diskussion, an der sich auch etwa ebenso viele Wissenschafts-, Medizin und Allgemeinhistoriker aus dem deutschen Sprachraum beteiligten 2.

In ihrer Einführung verwies Sigrid Stöckel (Hannover) auf die Ubiquität von Zeitschriftenquellen in der wissenschaftshistorischen Forschung, von denen häufig eher unreflektiert angenommen wird, dass sie ein getreuer Spiegel des wissenschaftlichen Diskurses ihrer Zeit darstellen. Als "schnelles" Medium mit Reaktionsmöglichkeiten (etwa durch Gegenartikel oder Leserbriefe) erscheint die Wissenschaftszeitschrift gleichsam als Grundkonstrukt eines freien Meinungsaustausches, der zu unserem modernen Bild von verwissenschaftlichten oder Wissensgesellschaften gehört.

Wie sehr jedoch die Kontexte von inhaltlicher Ausrichtung, Autoren-, Herausgeber- und Schriftleiterzirkeln und auch verlegerischen Interessen dieses Ideal eines freien Wissenschaftsforums in Frage stellten, zeigten gleich die ersten beiden Beiträge von Martin Nissen (Berlin) und Gerlind Rüve (Hannover). Sie umschrieben zugleich die Spannweite der Wissenschaftsfelder, die auf der Tagung diskutiert wurden: Von der Frage der Wissenschaftlichkeit der "Historischen Zeitschrift" bis zum gesellschaftlichen Sendungsbewusstsein Medizinischer Fachzeitschriften. Nissen zeigte, wie die "Historische Zeitschrift" das Genre der Kulturzeitschrift erweiterte, indem sie einen Verwissenschaftlichungsprozess vollzog, der jedoch vornehmlich in der Popularisierung der historisch-kritischen Methode bestand und nicht in inhaltlicher oder begrifflicher Spezialisierung. Diese war natürlich für die Naturwissenschaften und die Medizin typisch. Rüve beschrieb wie die deutschen medizinischen Wochenblätter diese Vermittlerrolle des neuen Spezialwissens an die praktischen Ärzte erfüllten, sich aber nicht darin erschöpften. Während sie in Deutschland im 19. Jahrhundert bisweilen noch Kampfblätter für die Verwissenschaftlichung der Medizin waren, zeigt der Kontrast mit dem britischen "Lancet", dass "Zeitschriftenpolitik" eines breiter gefassten Wissenschaftsjournalismus auch Sozialpolitik oder Unterstützung von Reformbewegungen bedeuten konnte. So suchte auf der einen Seite das Organ der Geschichtswissenschaft gerade nach Politikferne, während auf der anderen medizinische Fachzeitschriften sich eine politische Stimme zuzulegen versuchten. Gangolf Hübinger (Frankfurt/Oder) rundete den ersten Themenblock zu den Funktionen wissenschaftlicher Zeitschriften mit einer Analyse des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" ab, in der er das Räderwerk dieser einflussreichen Zeitschrift auseinander nahm. Eine selten gute Quellenlage erlaubt es hier, Herausgeber (Sombart, Weber, Schumpeter ...) Autorenkreise und sogar die ca. 1000 Abonnenten fachlich, regional oder auch konfessionell aufzuklären.

Der zweite Block des Workshops setzte sich mit der Gegenüberstellung von gesellschaftlicher Verwissenschaftlichung und der gleichzeitigen "Vergesellschaftung der Wissenschaft" auseinander und fragte, wie Wissenschaftszeitschriften als Medien dieser Prozesse erkannt werden können. Während sich Alexander Gall und Arne Schirrmacher (beide München) mit generellen medienanalytischen Fragen beschäftigten, stellten Frank Uekötter (Bielefeld) und Christine Pieper (Freiberg) zwei konkrete Zeitschriftenfallstudien vor. Gall betrachtete in einem Werkstattbericht zunächst, wie man Wissenschaftsfotografien in Zeitschriften um 1900 analysieren sollte. Nach welchen Kriterien können Auswahl, Vergleich und Kategorienbildung festgelegt werden? Wenn die um die Jahrhundertwende aufkommenden Massenillustrierten in nicht unerheblichen Maße durch die Abbildungen wirkten, müsste sich durch Quantifizierung der Stiche, Zeichnungen und Fotos zu Wissenschaft und Technik (etwa durch Anzahl und Druckfläche) die Wechselwirkung von Wissenschaft und Gesellschaft historisch nachzeichnen lassen. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion darüber, wie durch Stichprobenverfahren und Kategorisierungen aussagekräftige Ergebnisse gewährleistet werden könnten. Schirrmacher versuchte dagegen einen Überblick über wissenschaftsvermittelnde Zeitschriften und Schriftenreihen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu skizzieren. Durch grafische Darstellung von Erscheinungszeiträumen und das Aufgehen von Zeitschriften in andere ließen sich deutliche Konjunkturen von Gründungswellen und Rekonfigurationen des wissenschaftlichen Zeitschriftenmarktes nachweisen. Die These, dass es im 20. Jahrhundert verschiedene Konstellationen von wissenschaftsvermittelnden Organen und damit verschiedene "Vermittlungssysteme" gegeben hat, wurde anhand einer Differenzierung von Wissenschaft und Öffentlichkeit in spezifische Schichten konkretisiert, zwischen denen sich mannigfache Diskursverbindungen ausbilden konnten.

Allein die enorme Bedeutung der Agrarwissenschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt die Relevanz einer Untersuchung der auflagenstarken landwirtschaftlichen Wochenblätter. Uekötter kontrastierte den großen Einfluss dieser an die Praktiker gewandten Publikationen mit ihrer Vermeidung jeglicher Methodendiskussionen oder Kontroversen. Die Vertrauenswürdigkeit wurde nicht durch Nachvollziehbarkeit oder kritischer Methodik generiert, sondern durch Authentizität der Berichte, durch Einbettung der Informationen in eine breites Spektrum ländlichen Lebens und durch klare Abgrenzung nach außen (etwa bereits zum Bio-Landbau). Auf ganz anderen Ebenen von Wissenschaft und Öffentlichkeit -- aber nicht weniger abhängig vom gesellschaftlichen Kontext -- erwies sich die zweite Fallstudie zur Zeitschrift "Rechentechnik/Datenverarbeitung", welche von 1964 bis zur Wende in der DDR erschien. Pieper skizzierte den ostdeutschen Weg zur Informatik und seinen rhetorischen Eiertanz zwischen eigenständiger Wissenschaftsentwicklung und technologischer Lücke in der Computertechnologie als offizielle Sowjetisierung bei faktisch schleichender Amerikanisierung.

Abgeschlossen wurde der Workshop mit einem Block zur Diskurs- und Genreanalyse medizinischen Fachzeitschriften von Torger Möller (Berlin) und Sigrid Stöckel, die auch einige Ergebnisse der krankheitshalber verhinderten Wiebke Lisner (Hannover) vorstellte. Möller versuchte eine "diskursive Metaordnung" des Genre Wissenschaftszeitschrift am "Index medicus" zu entwickeln, indem er die Verzeichnung von Fachartikeln zur Epilepsie unter wechselnden Kategorien im Index analysierte. Die Diskussion darüber, wie die Kombination von Diskursanalyse und quantitativen Betrachtungen vorgenommen werden kann, zeigte, dass eine vorsichtige Renaissance bibliometrischer Methoden wünschenswert erscheint. Die vorgestellte Methodenkombination erlaubte es, auch Rückwirkungen der Ordnung im Index auf die Fachzeitschriften festzustellen, etwa wenn diese versuchen, Artikel für bestimmte Klassifikationstermini zu platzieren. Stöckel verdeutlichte den Einfluss politischer Veränderungen auf die Genre- und Themenentwicklung anhand deutscher und britischer Fachjournale der Medizin. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konnten deutliche Veränderungen von Genres und politischen Diskursen in den Journalen beobachtet werden. Gleichzeitig mit einer Phase der "Dethematisierung" von Politik etwa in der "Deutschen medizinischen Wochenschrift" erfolgte hier eine Umdeutung der Ergebnisse der NS-Forschung, vor allem der Menschenversuche, indem immer wieder versucht wurde, sie als Grundlagenforschung umzudeklarieren. Als kontextfreie Wissenschaft sollten sie nun inhaltlich anschlussfähig gemacht und zugleich als humanitär dargestellt werden.

Die von Rüdiger vom Bruch (Berlin) mit einer Zusammenfassung eingeleitete Schlussdiskussion machte deutlich, dass der Begriff der Wissenschaftszeitschrift vielfältiger Differenzierung bedarf und der Umgang des Historikers mit ihr noch reflektierter erfolgen sollte. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen wirken tief in diese vermeintlich rein wissenschaftlichen Zeitschriften hinein und Einflüsse dieser Art lassen sich weder durch den Einzelartikel noch durch einen Blick ins Vorwort oder Editorial allein definieren. Zu fragen ist vielmehr nach der Herausbildung von Zeitschriftenidentitäten und deren häufig starker Stabilität, nach den Artikelgenres und ihren langfristigeren Transformationen oder nach der Rolle des entstehenden Wissenschaftsjournalismus im wirtschaftlichen Kontext der Verlage.

Auch wenn die Teilnehmer den Workshop mit der Einsicht verlassen haben mögen, dass sie gar nicht mehr genau wissen, ob die Wissenschaftszeitschrift wirklich ein klar umreißbares Genre ist, so hat sich doch die begründete Erwartung eingestellt, dass aus der Vielzahl der beteiligten Projekte des Schwerpunktprogramms, die mitten in der Arbeit stecken, bald hilfreiche Antworten auf diese Frage gegeben werden können. So mag vielleicht das integrative und vergleichende Studium von Wissenschaftszeitschriften auch einen Zugang zu der in letzter Zeit verstärkt geforderten historischen Erforschung von Wissenschaftskulturen aufzeigen. 3

Anmerkungen:
1 Homepage des SPP: http://www.geschichte.hu-berlin.de/bereiche/wige/dfg/index.htm.
2 Das angekündigte und in dieser Form realisierte Tagungsprogramm findet sich unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=5058.
3 Vgl. z. B. das 2005 erstmals erschienene "Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur" oder Markus Arnold / Gert Dressel (Hg.): Wissenschaftskulturen - Experimentalkulturen - Gelehrtenkulturen, Wien 2004.


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