NS-Zwangsarbeit und Justiz

NS-Zwangsarbeit und Justiz

Organisatoren
Forum Justizgeschichte e.V., KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora
Ort
Nordhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.03.2006 - 05.03.2006
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Von
Anke Löbnitz

Zwangsarbeit und Justiz sind zwei Forschungsgebiete zur Geschichte des Nationalsozialismus, die Historiker und Juristen sehr gründlich erforscht haben. Leider gibt es nur wenige Arbeiten, die beide Themen verbinden. Umso begrüßenswerter ist es, dass vom 3. bis 5. März 2006 in Nordhausen rund 80 Juristen, Rechtshistoriker und Historiker auf der Tagung „NS-Zwangsarbeit und Justiz“ zusammentrafen und fächerübergreifend diskutierten. Die Kooperationsveranstaltung des Forums Justizgeschichte e.V.1 und der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora2 bot einen Einstieg in den interdisziplinären Austausch. Zentrale Themen waren die Rolle der Justiz für die NS-Zwangsarbeit, der rechtliche Rahmen für die Entschädigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und damit verbunden die Entschädigungspraxis sowie die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen, die im Zusammenhang mit NS-Zwangsarbeit stehen. Unterstützt wurde die Tagung von dem Thüringischen Justizministerium, der Landeszentrale für Politische Bildung in Thüringen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Tagungsort war die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

Für den Eröffnungsvortrag konnten die Veranstalter den Experten zur Geschichte der Zwangsarbeit schlechthin gewinnen. Ulrich Herbert (Freiburg) eröffnete die Tagung mit einem Überblick über die NS-Zwangsarbeit, Entschädigung und Aufarbeitung und steckte zugleich den zeitlich und thematisch umfangreichen Rahmen der Tagung ab. Herbert erläuterte die Gruppen von Zwangsarbeitern, die sich aufgrund ihres Status und ihrer Rekrutierungsweise unterscheiden lassen.3 In seiner quantitativen Analyse wies er auf die zunehmende gesellschaftliche Durchdringung der Zwangsarbeit hin: Faktisch beschäftigte jeder Betrieb 1944 Zwangsarbeiter.

Die erste Sektion widmete sich am Samstag verschiedenen Aspekten der NS-Zeit. Helmut Kramer (Wolfenbüttel) erläuterte den Beitrag der Justiz zum Zwangsarbeitsystem am Beispiel der Strafverfolgung von Zwangsarbeitern durch Sondergerichte. An den ab 1933 eingerichteten Sondergerichten verurteilten Richter Zwangsarbeiter auf der Grundlage rigoroser Normen, wie der Volksschädlingsverordnung, besonders hart. Als „rassisch minderwertig“ geltende Zwangarbeiter, wie Polen und Russen, erwartete nicht selten das Todesurteil. Die Sondergerichte, deren Urteile öffentlich bekannt gemacht wurden, ergänzten die geheime Verfolgung durch Gestapo und SS und sollten disziplinierend wirken. Obwohl Letztere für den Hauptteil der Zwangsarbeiterverfolgung verantwortlich waren, kam den Sondergerichten eine entscheidende Rolle zur Sicherung des Systems zu. Die Beteiligung der Berufsrichter an den Sondergerichten war weit verbreitet. Fast jeder amtierende Richter war hier mindestens einmal tätig. Kramer beklagte, dass das Thema bis heute in der Juristenausbildung keine Rolle spiele.

Nikolaus Wachsmann (London) ging auf die Zwangsarbeit im NS-Strafvollzug ein. In den Gefängnissen, Zuchthäusern und Strafgefangenenlagern stieg die Zwangsarbeit zwischen 1939 und 1945 zahlenmäßig stark an, wobei die Häftlinge zunehmend in der Rüstungsindustrie und in einer steigenden Zahl von Außenlagern eingesetzt wurden. Entscheidend für den im Laufe des Krieges stattfindenden Funktionswandel des Häftlingseinsatzes war das Ziel der Justizbehörden, sich im polykratischen System zu profilieren. Im Vergleich der Haftanstalten mit den Konzentrationslagern kam Wachsmann zu dem Schluss, dass die Gemeinsamkeiten bezüglich der Zwangsarbeit überwiegen. Allerdings diente die Arbeit in den Konzentrationslagern als Folterinstrument, wogegen sie in den Strafanstalten erzieherisch wirken sollte.

Almuth Püschel (Potsdam) wählte ihren Zugang über eine bestimmte Quellengattung und stellte auf der Grundlage von Ermittlungs- und Prozessakten beispielhaft das Schicksal einer polnischen Zwangsarbeiterin vor, die wegen angeblicher Brandstiftung 1941 zunächst zu einer Haftstrafe, nach der Revision des Urteils 1942 schließlich zum Tode verurteilt wurde. Der Fall zeigt, dass auch reguläre Gerichte Zwangsarbeiter hart aburteilten. Dabei stellt sich besonders die Frage nach der Motivation der Urteilsrevision. Püschel verwies zwar auf das zu dieser Zeit erlassene Polensonderstrafrecht, allerdings hätte man sich eine genauere Betrachtung gewünscht.

Die erste Sektion schloss mit dem Beitrag von Bernhild Vögel über die zwischen 1943 und 1945 eingerichteten Säuglingslager. Vögel beschrieb die Voraussetzungen für deren Einrichtung und die abscheulichen Bedingungen und zeigte auf, dass weder Vormundschaftsgerichte noch Strafverfolgungsbehörden gegen die Säuglingslager vorgingen. Entschädigungsansprüche von Angehörigen schmetterten deutsche Gerichte nach 1945 ab. Zu der bis heute marginalen Rolle des Themas in der Entschädigungsdiskussion kommt erschwerend hinzu, dass ehemalige Zwangsarbeiterinnen aus den Nachfolgestaaten der UdSSR oder Polen aus Angst vor Anfeindungen als „deutsche Huren“ nur selten den Schritt wagen, Ansprüche geltend zu machen.

Bevor sich das Tagungsprogramm am Nachmittag ganz der Entschädigungsthematik zuwandte, besichtigten die Teilnehmer das Gelände des ehemaligen KZ Mittelbau-Dora mitsamt der dazugehörigen Stollenanlage. Das KZ, das erst im Spätsommer 1943 gegründet wurde, steht exemplarisch für die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen für die Rüstungsindustrie. Der Leiter der Gedenkstätte Jens-Christian Wagner erläuterte die Neukonzeption der Gedenkstätte.4

Anschließend eröffnete Cornelius Pawlita (Gießen) den Nachmittag mit einem Überblick über die Geschichte der bundesdeutschen Entschädigung. Das subjektiv-persönliche Territorialitätsprinzip erlaubte nur jenen einen Anspruch, die einen Aufenthalt im Reichsgebiet vor 1939 nachweisen konnten. Dementsprechend ermöglichte die Gesetzgebung lediglich eine Entschädigung deutscher NS-Verfolgter. Ausländische Zwangsarbeiter waren von vornherein ausgeschlossen.

Die nächsten Beiträge widmeten sich spezielleren Themen. Joachim Rumpf (München) legte dar, wie die deutsche Industrie geschickt den Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 Londoner Schuldenabkommen von 1953 interpretierte, um Ansprüche ausländischer Zwangsarbeiter abzuwehren. Ministerialverwaltung und Justiz schlossen sich der Argumentation der Industrie, diese hätte bei der Zwangsarbeiterbeschäftigung „im Auftrag des Reiches“ gehandelt, an und versperrten damit Entschädigungsforderungen ehemaliger Zwangsarbeiter an deutsche Unternehmen für Jahrzehnte. Die einvernehmliche Position von Staat und Wirtschaft zeigte auch der Fall der letztlich erfolglosen Zivilklage des ehemaligen KZ-Häftlings Edmund Bartel aus den 1960er-Jahren, den Thomas Irmer (Berlin) vorstellte.

Auch Anja Hense (Hamburg) und Gabriele Hammermann (Dachau) zogen in ihren Beiträgen zur aktuellen Entschädigungspraxis kritische Bilanzen. Hense belegte mit ihrem Beitrag zur Entstehung und Konzeption der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, dass deren Gründung keineswegs eine freiwillige humanitäre Geste deutscher Unternehmen, sondern die Reaktion auf den durch die Sammelklagen erzeugten juristischen und politischen Druck aus den USA war. Das restriktive Stiftungsgesetz begrenzt die Zahlungen auf Zwangsarbeiter mit überdurchschnittlich schwerem Schicksal. Kriegsgefangene wurden von vornherein ausgeschlossen. Zu den Ausgeschlossenen gehören auch die ehemaligen italienischen „Militärinternierten“, auf die Hammermann abschließend an diesem Tag einging. Die Argumentation, als Kriegsgefangene später in den Zivilstatus überführt worden zu sein, wird bis heute von Deutschland nicht akzeptiert. Den Hintergrund für diese Haltung bildet wohl die Befürchtung, nach einer etwaigen Entschädigung könnten ehemalige sowjetische Kriegsgefangene Entschädigungsforderungen in immenser Höhe stellen.

Nach einem langen Tag mit zehn Vorträgen begann am Sonntag Michael Löffelsender (Nordhausen) die Sektion zur justiziellen Ahndung und referierte über den bislang kaum erforschten Dachauer Dora-Prozess des Jahres 1947. Dessen Anklageschrift und Beweisführung zeigen, dass das amerikanische Militärgericht die Zwangsarbeit als konstitutives Element des KZ Mittelbau-Dora erkannte. Das Kernstück der Anklage, das juristische Konstrukt des „Common Design“, also der Vorwurf des gemeinsam begangenen Verbrechens, wurde allerdings im Laufe des Prozesses zunehmend in Frage gestellt. Im Vergleich zu den anderen Dachauer KZ-Prozessen – Dora war der Letzte –, in denen dem Common Design noch größere Bedeutung beigemessen wurde, fiel im Dora-Prozess das Urteil, das sich mehr an der individuellen Schuld orientierte, wesentlich milder aus.

Während in Dachau die ersten Auswirkungen des aufziehenden Kalten Krieges sichtbar wurden, stand der Essener Dora-Prozess von 1967-1970 ganz im Zeichen der deutsch-deutschen Systemkonfrontation. Georg Wamhof (Göttingen) belegte, wie die DDR das Dora-Verfahren mittels Nebenklage und Rechtshilfe instrumentalisierte. Mit ihrem Ziel, die NS-Kontinuitäten in der Bundesrepublik zu belegen und die DDR als Staat antifaschistischer Widerstandskämpfer darzustellen, spielte sie allerdings letztlich der Argumentation der Verteidigung in die Hände.

Am Beispiel der Prozesse gegen Täter aus dem KZ Sachsenhausen, die in der DDR in 11 Verfahren, in West-Berlin und der Bundesrepublik in 17 Verfahren verurteilt wurden, unternahm Ralf Oberndörfer (Berlin) den interessanten Versuch, die Strafverfolgung beider deutscher Staaten zu vergleichen. Leider blieben die Antworten auf dieses von der Forschung wenig beleuchtete Terrain relativ dürftig. Erkenntnisse, wie die fehlende Verzahnung der Prozesse zwischen Bundesrepublik und DDR, deren unterschiedliche Länge und Intensität und die auf beiden Seiten erkennbare Schonung von Akademikern hätten sicherlich um weitere Aspekte ergänzt werden können.

Jan Erik Schulte (Bochum) bereicherte die Sektion um eine neue Perspektive: der Strafverfolgung von NS-Tätern im Ausland. Schulte referierte über die juristische Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen in Kanada und verortete sie im historisch erinnerungspolitischen Diskurs. In dem Einwanderland stehen die wenigen Prozesse seit Ende der 1980er-Jahre bis Anfang des Jahres 2001 in engem Zusammenhang mit der Immigrationspolitik und dem Ziel, eingewanderten Kriegs- und Menschheitsverbrechern die Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Die Zwangsarbeit spielte in den Verfahren keine Rolle. Die Prozesse können als Ereignisse angesehen werden, die in Kanada eine Auseinandersetzung mit der Geschichtsepoche in Gang brachten. Gleichzeitig ergab sich jedoch die Gefahr negativer Auswirkungen auf das Zusammenleben der Einwandergruppen, da sich einige mit Opfern andere mit Tätern identifizierten.

Abgeschlossen wurde die Sektion von Ingo Müller (Bremen), der provokativ die Versorgung der Täter der (Nicht)entschädigung der Opfer in der Geschichte der Bundesrepublik gegenüberstellte. Die Wiedereingliederung von ehemaligen NS-Beamten in Justiz und Verwaltung und ihre üppige Versorgung standen dabei der Nichtintegration Verfolgter und der engherzigen Auslegung der Entschädigungsgesetzgebung, die die Mehrheit der Opfergruppen ausschloss, eklatant gegenüber.

Müllers Schlussvortrag war gleichzeitig Resümee der Tagung, deren unterschiedliche Beiträge die Mitwirkung deutscher Juristen an Konzeption und Realisierung der Zwangsarbeit, aber auch ihre unrühmliche Rolle bei der justiziellen Ahndung, Entschädigung und Täterversorgung belegten. Die Veranstaltung zeigte, dass trotz zahlreicher Einzelstudien eine Synthese zu den Formen unfreier Arbeitsverhältnisse im Nationalsozialismus und ihrer Nachgeschichte fehlt. Die abwechslungsreiche und inhaltlich gut komponierte Tagung machte auch Forschungslücken deutlich, so beispielsweise die Entschädigung der Opfer und die Täterversorgung in der DDR oder die Gesichte der sowjetischen Zwangsarbeiter. Die Veröffentlichung eines Tagungsbandes ist geplant. Man darf gespannt sein, inwiefern die Tagungsthemen in die neue Dauerausstellung der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora einfließen, die im September 2006 eröffnet werden wird.

Anmerkungen:
1 Homepage: http://www.forum-justizgeschichte.de
2 Homepage: http://www.dora.de
3 Vgl. Herbert, Ulrich, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn (Neuaufl.) 1999.
4 Vgl. Wagner, Jens-Christian, Lern- und Dokumentationszentrum Mittelbau-Dora. Die Neukonzeption der KZ-Gedenkstätten Mittelbau-Dora, Weimar 2003.


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