1968: Musik und gesellschaftlicher Protest (II). Musikkulturen zwischen Protest und Utopie

1968: Musik und gesellschaftlicher Protest (II). Musikkulturen zwischen Protest und Utopie

Organisatoren
Katholische Akademie Schwerte in Kooperation mit dem Interdisziplinären Forschungskolloquium Protestbewegungen (IFKP) und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.01.2006 - 15.01.2006
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Von
Martin Lücke, Bochumer Symphoniker

Vom 13. bis zum 15. Januar 2006 fand in der Katholischen Akademie Schwerte in Kooperation mit dem Interdisziplinären Forschungskolloquium Protestbewegungen (IFKP) und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth die Tagung „1968: Musik und gesellschaftlicher Protest (II). Musikkulturen zwischen Protest und Utopie“ statt. Der erste Teil der Tagung, in dessen Mittelpunkt die interdisziplinäre Bestandsaufnahme zwischen Musik-, Sprach- und Sozialwissenschaften als neuer Ansatz stand, wurde bereits Ende September des letzten Jahres an gleicher Stelle veranstaltet. Diesmal lag der Schwerpunkt des Symposiums auf den Bereichen Pop- und Rockmusik, Kirchenmusik, Frauenbewegung, Protestkultur sowie Alte Musik.

In der ersten Sektion unter dem Titel „Panorama „1968“ – Neue Musik und Rockmusik“ stellte zunächst Gianmario Borio, Lehrstuhlinhaber für musikalische Philologie an der Universität Pavia, das Thema „Avantgarde als pluralistischer Begriff: Musik um 1968“ vor. Borio ging in seinem faktenreichen und mit zahlreichen Beispielen aufgelockerten Vortrag auf Erscheinungen der E-Musik ein, der sich die populäre Musik um 1968 genähert habe (beispielsweise mit Frank Zappas „Mothers of Invention“). Ebenso belegte er, dass sich die Popmusik um 1968 zudem der Pop-Art angenähert habe.

Christophe Pirenne, Dozent für Musikwissenschaft an der Universität Lüttich und Autor der kürzlich erschienenen Monographie Le rock progresif anglais1, referierte informativ über „Die Utopie als Protest im progressiven Rock“. Den Begriff und die Bewegung des progressiven Rock datierte Pirenne auf das Jahr 1968. Der Terminus ist hingegen bereits älter und geht auf die Vermarktungsstrategien eines Albums der Beach Boys aus dem Jahre 1966 zurück. Progressiver Rock war für viele Gruppen, unter anderem Pink Floyd, The Kinks, Jimmy Hendrix der Versuch, die eng gesteckten Grenzen der Rockmusik auszuweiten. Folgende Eigenschaften führte Pirenne für die Charakterisierung des progressiven Rock an: 1. Mischung verschiedener Musikstile; 2. Große Vielfalt eingesetzter Instrumente; 3. Hohe musikalische Fähigkeiten – „as good as fast as classical musicians“; 4. Texte mit literarischem Wert; 5. Konzeptalben – diese bestehen nicht aus einzelnen Songs, sondern alle Stücke bilden einen größeren Zusammenhang; 6. Ausgefeilte Präsentation. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis hätten sich die Protagonisten des progressiven Rock in den meisten Fällen nicht als Teil einer politisch motivierten Bewegung verstanden, denn Gruppen wie unter anderem Pink Floyd ließen sich von großen Musikfirmen vermarkten und seien sich der Regeln des freien Marktes sehr bewusst gewesen.

In der folgenden zweiten Sektion widmeten sich die Referenten der „Radikalisierung und des Agit-Prop“. Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Sara Hakemi sprach in ihrem Vortrag über die in den 1960er-Jahren stattfindende Radikalisierung des gesellschaftlichen Alltags. Dabei stand der Aspekt der Mode im Mittelpunkt ihrer Ausführungen. So sei die Öffentlichkeit Mitte der 1960er-Jahre noch durch lange Haare, Jeans (bei Männern) oder das Tragen von Hosen (bei Frauen) aufzubringen gewesen. Auch spätere Protagonisten der RAF, Gudrun Enslin und Andreas Baader, hätten versucht, auf diesem Wege – Baader stilisierte sich modisch nach Marlon Brando – und mit Gewalt gegen Sachen – Frankfurter Kaufhausbrand – die Öffentlichkeit „in Rage zu bringen.“ Baaders modische Führerschaft wandelte sich jedoch, ebenso wie bei Enslin, in eine politische Führerschaft. Laut Hakemi erklärte die RAF der Gesellschaft erst dann den Krieg, als deren frühen Provokationen nicht mehr wahrgenommen wurden. Im Anschluss an diesen einzigen Musiklosen Vortrag entwickelte sich im Plenum eine kontroverse Diskussion zum häufig schwammig benutzten Terrorbegriff.

Der folgende Vortrag von Andreas Kühn 2, der wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf ist, behandelte die „Musik in der Lebenswelt der maoistischen K-Gruppen.“ Die K-Gruppen neigten zu traditionellen Formen des Arbeiterliedguts und bedienten sich als musikalische Basis der Kultur der Weimarer Republik sowie dem Arbeiterlied der 1920er-Jahre. Die Imagination von Großkämpfen zwischen Kapital und Proletariat waren der Orientierungsrahmen der K-Gruppen und hatte damit praktische Funktion. Die K-Gruppen polemisierten gegen fast jede Form der Musik, sogar gegen den oftmals als Protestsänger titulierten Bob Dylan. In der Kommunistischen Volkszeitung wurde zum Tode von Elvis Presley kommentiert, er sei gestorben da er zuviel gefressen hatte. Kühn führte aus, dass die Musik für die maoistischen Gruppen nach innen eine Disziplinierungsfunktion und nach außen eine Abgrenzungsfunktion besaß. Großen Erfolg hatte aus diesem Grund auch eine Peking Oper, die 1970 in der Bundesrepublik Deutschland gastierte. Ebenso fand ein Versuch statt, das Arbeiterliedgut der 1920er-Jahre wieder aufleben zu lassen, wozu 1978 in den Dortmunder Westfalenhallen ein Wettbewerb stattfand – die Gewinnergruppe erhielt eine Gastspielreise nach Albanien.

Ein spannend erzählter Zeitzeugenbericht von Peter Schleuning, Musikwissenschaftler an der Universität Oldenburg, schloss den ersten Tag der Tagung ab. Schleuning war Mitglied der aus dem SDS-Umfeld kommenden linken „Blaskapelle Rote Note“, die nach 1970 in Freiburg/ Breisgau aktiv war. Die Annahme war, man führe damit die Musikkultur der KPD fort. Auftritte, genannt „Einsätze“, bei studentischen Demonstrationen, Theateraufführungen sowie bei Umweltkämpfen im Elsass und gegen das AKW Wyhl am Kaiserstuhl bestimmten die Arbeit der Blaskapelle. Schleuning berichtete aber auch von inneren Konflikten in Bezug auf Übungsdisziplin, Liedauswahl und Gruppenstruktur.

Der zweite Tag begann mit der Sektion „Protestmusik in Deutschland“. Holger Böning, Literaturwissenschaftler an der Universität Bremen, sprach zum Thema „Die Anfänge musikalischen Protest in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR: ausländische Einflüsse im politischen Lied“, wobei die Ausführungen zur DDR aus Zeitgründen leider sehr knapp ausfielen. Böning erläuterte, dass erstmals nach 1945 während der Ostermarschbewegung der 1960er-Jahre wieder ein eigenes Liedgut geschaffen wurde. Zunächst seien übersetztes amerikanisches Liedgut sowie ein amerikanisches Instrumentarium (Trommeln, Banjo) eingesetzt worden. Teils heute noch bekannte Sänger wie Dieter Süverkrüp, Franz Josef Degenhardt, Hanns Dieter Hüsch oder Reinhard Mey hatten ihre künstlerischen Anfänge bei dem seit 1964 auf der Burg Waldeck – „Ort der größtmöglichen Freiheit der Andersdenkenden“ – stattfindenden Festivals. Vorbild deutscher Liedermacher seien internationale Chansonniers wie beispielsweise Bob Dylan oder George Brassens gewesen. Bereits 1969 wurde das Festival auf Burg Waldeck wieder eingestellt, da nur noch diskutiert wurde und die Musik in den Hindergrund geriet. Reinhard Mey wurde gesagt: „Stell die Gitarre in die Ecke und diskutier!“ Für die DDR nannte Böning die Singbewegung als Trägerin des politischen Liedes, die „ein wichtiges kritisches Potential“ entfaltet habe.

Einen überaus informativen Vortrag hatte im Anschluss der Bielefelder Psychologieprofessor Rainer Dollase, der zum Thema „Rezeptionseinstellungen zur Rock- und Jazzmusik in den 1970er-Jahren als Folge der 68er-Bewegung – ein Blick in alte Konzertumfrageergebnisse“ referierte. Mit zwei weiteren Autoren veröffentlichte Dollase insgesamt drei Studien zum Rezeptionsverhalten von populärer Musik, die er samt Schlussfolgerungen – die 68er Bewegung sei die symbolische Funktionalisierung von Musik – umfassend vorstellte.

In der folgenden vierten Sektion „Protestmusik in Europa“ berichtete zunächst Stephanie Schmoliner in ihrem Vortrag „Resignation oder Rock’n’ Resistance? Zum Stellenwert von Musik und sozialen Bewegungen“, dass 1968 das Jahr gewesen sei, in dem politisch motivierte Rockkünstler mehr als je zuvor und danach die deutschen Charts prägten. Sie schrieb der Rockmusik eine politische Relevanz zu und behauptete eine leider nicht empirisch belegte Dominanz der politischen Rockmusik im Jahr 1968.

Weiter ging es auf der geographischen Landkarte mit Daniel Koglin, Doktorand der Musikwissenschaften in Berlin, nach Griechenland. Er stellte den griechischen Rebetiko als eine Musik des Widerstands vor. In den 1960er-Jahren wurde der Rebetiko, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg äußerst populär, insbesondere von studentischen Bewunderern wieder entdeckt. Das volksliedhafte und im Neunertakt vorgetragene Rebetiko besaß zwar kaum politische Inhalte, wurde aber dennoch vom Militärregime verboten. Obwohl nach innen unpolitisch, wurde ihm von Seiten der studentischen Bewegung als auch des Militärregimes nach außen eine politische Bedeutung zugesprochen.

Elena Müller, Literaturwissenschaftlerin und Doktorandin an der Universität Potsdam, sprach zum Thema „Musik und Widerstand. Vom kriminellen über Laien- zum Autorenlied: Die Musik der russischen Tauwetterzeit“. Das Laienlied der 1960er-Jahre stand in der Sowjetunion im Gegensatz zum Schlager. Die einfache musikalische Begleitung fand in der Regel mit der Gitarre statt, Konzerte wurden in Wohnungen oder in freier Natur gegeben. Eine wichtige Quelle für das Laienlied war das Repertoire des so genannten Kriminellenliedes, mit dem die intellektuelle Schicht vorrangig im GULag in Berührung kam, wo sich beide Gruppen kreuzten. Aus den Laienliedern sind in den 1970er-Jahren die so genannten Autorenlieder entstanden, eine Form von gesungener und rezitierter Poesie, zu dessen prominentesten Vertreten Bulat Okudzhava, Alexsandr Galitsch und Vladimir Vysockij gehören. Insbesondere letztgenannter erreichte in der Sowjetunion den Status eines wahren Volkskünstlers und wurde zum Bindeglied zwischen dem Laien- und Autorenlied sowie dem musikalischen Protestgenre der 1980er-Jahre, dem russischen Rock.

Die folgende fünfte Sektion des Symposiums befasste sich mit der „Frauenbewegung“. Die Kultur- und Musikwissenschaftlerin Monika Bloss, Privatdozentin an der FH Potsdam, sprach in ihrem Vortrag über „Popmusik zwischen sexueller Befreiung und sexueller Abgrenzung.“ Sie führte aus, dass die Feministische Bewegung in den 1970er-Jahren eng mit dem Aufleben von Frauenmusik verbunden war. Sowohl in Deutschland als auch in Nordamerika entwickelten sich Musikbereiche, die exklusiv auf Frauen ausgerichtet waren. Zunächst ging Bloss auf die Situation in den USA ein. 1975 entwickelte sich Helen Reddys Song „I’m a Woman“ zur Hymne der Frauenbewegung. Das Label Olivia Records wollte Musik für Frauen institutionalisieren, hatte wirtschaftlich jedoch keinen Erfolg. In der Folge ging die Referentin auf die Situation in Deutschland ein, beschrieb die Gruppen „Flying Lesbians“, die erste deutsche Frauenmusikgruppe, Schneewittchen, Lysistrata und Nina Hagen. Letztgenannte hatte jedoch nur wenig Zustimmung in frauenbewegenden Kreisen. Jedoch wurden im Vortrag keine Beziehungen der genannten Gruppen zum Thema 1968 geklärt.

Die Musikwissenschaftlerin Beate Kutschke, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste in Berlin und Mitinitiatorin der Tagung, untersuchte das Frauenbild in Luigi Nonos Al gran sole carico. In ihrem Vortrag beantwortete sie die Fragen, ob Nono ein politisch engagierter Komponist war, ob er ein so genannter „60er“ war, welche Bezüge zur Neuen Linken und in Bezug zur Frauenbewegung stehen. Obgleich Nono ein explizit linker Komponist war, fänden sich in seinem Werk traditionelle Stereotypen. Hier werde auch ein Gegensatz zwischen der so genannten Neuen und der Alten Linken sichtbar.

In der sechsten Sektion ging es um „Avantgarde und Religion“. Peter Hahnen, Referent bei der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz in Düsseldorf, hielt ein Plädoyer für die „Gesungene (Kirchen-)Reform? Das Neue Geistliche Lied uns sein Programm“.

Daniela Philippi, Privatdozentin am Musikwissenschaftlichen Institut der Johann Gutenberg Universität in Mainz, stellte die seit 1965 in Kassel stattfindende „Woche der geistlichen Musik der Gegenwart“ vor, deren Ziel es war, neue experimentelle E-Musik im Gottesdienst zu etablieren, da laut Klaus Martin Ziegler, Organisator des Festivals, alte Musik den heutigen Menschen zwar berühren, seine seelischen Bedürfnisse aber nur von neuer Musik, artikuliert werden können.

Die siebte Sektion war mit „Varia“ übertitelt. Ramon Reichert, Medienwissenschaftler und Philosoph, stellte das so genannte „Direct Cinema“ am Beispiel des Protestsängers Bob Dylan vor. Das Konzept des Direct Cinema-Films basiert auf einer ständig anwesenden (Hand-)Kamera und dem vollständigen Verzicht auf Sprecherkommentare. 1965 drehte der amerikanische Regisseur Don Allen Pennebaker vor diesem Hintergrund den Film „Don’t look back“ über Bob Dylan. Zwei Jahre später, 1967, dokumentierte Pennebaker den so genannten „Summer of Love“ in einem Film über das Monterey Rock-Festival. Reichert erwähnte, dass sich der noch heute existierende Mythos von Woodstock erst nach dem Erscheinen des gleichnamigen Filmes 1970 entwickelte. Der Film „Gimme Shelter“ (1970) über die Rolling Stones diente der Polizei sogar nachträglich zur Täterermittlung in einem Mordfall.

Die Musikwissenschaftlerin Nina Polaschegg untersuchte „Die Entwicklung des Free Jazz und der improvisierten Musik in Kontext von 1968“. Die Referentin machte deutlich, dass, obwohl der Free Jazz noch immer als Protestmusik gilt, viele Protagonisten radikale Anhänger der schwarzen Bürgerrechtsbewegung waren und er gleichzeitig mit der Studentenbewegung auftrat, keine inhaltliche Verbindung zwischen beidem zu belegen ist. Die Rebellion des Free Jazz gegen alte musikalische Formen vereinigte ihn mit früheren musikalischen Neuerungen. Die Klänge des Free Jazz jedoch seien ebenso wenig semantisch bestimmbar wie alle anderen rein musikalischen Formen. Die Ästhetik des freien Spiels werde zwar, wie die Musik anderer Jugendkulturen, von Wut aufs Establishment getragen, doch handle es sich beim Free Jazz nicht um eine politisch-programmatische Musik. Letztlich gelang dem Free Jazz in Deutschland keine Revolutionierung, er blieb die Musik einer (heute zunehmend alternden) Avantgarde.

Kailan Rubinoff berichtete abschließend über die „Notenkrakersactie and its Implications for the Dutch Early Music Movement“.

Die letzte Sektion wurde dem „Protest und Theatralität“ gewidmet. Zunächst berichtete Sabine Ehrmann-Herfort über neue Formen musikalischen Theaters bei Luciano Berio, anschließend Björn Heile von der University Brighton über „Avantgarde, Engagement und Autonomie: Mauricio Kagel in den sechziger Jahren.“

Anmerkungen:
1 Christophe Pirenne: Le rock progressif anglais 1967–1977. Musique et musicologie 38.
Paris 2005.
2 Andreas Kühn: Stalins Enkel, Maos Söhne, Frankfurt 2005.

Kontakt

PD Dr. Arnold Jacobshagen
jacobshagen@uni-bayreuth.de

Dr. Beate Kutsche
Beate.kutsche@arcor.de


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