Titel
Religiöse Festkultur. Tradition und Neuformierung katholischer Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Das Liborifest in Paderborn und das Kilianifest in Würzburg im Vergleich


Autor(en)
Stambolis, Barbara
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 38
Erschienen
Paderborn u.a. 2000: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
DM 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich, Tobias

Seit einigen Jahren ist die zuvor als „Terra incognita“ (1) beklagte Sozialgeschichte der Religion im Begriff entdeckt zu werden. Die im französischen Forschungskontext stehenden Mentalitätsdebatten rezipierend, entstehen zahlreiche Studien deutscher Historiker mit dem Ziel, religiöse Erfahrungen zu beleuchten. Dies fördert auch umfassende Kenntnisse zur „katholischen Lebenswelt“ zu Tage, deren Synthesemöglichkeiten mittels des „Milieubegriffs“ kontrovers diskutiert werden: Gibt es zwischen 1800 und 1960 einen geschlossenen katholischen Kulturkreis? Unterscheidet er sich regional oder umfasst er die deutschsprachige, katholische Welt insgesamt?

Barbara Stambolis legt ihre Antworten in Form einer Habilitation vor. Sie konzentriert sich auf einen wichtigen Milieuindikator: die religiöse Festkultur zwischen 1736/1800 und 1990. Zugleich knüpft sie durch die Wahl ihres Untersuchungsgegenstandes an die Forschungsfelder „Nationalismus“ und „Heimatbewegung“ an, wodurch ihre Arbeit weit über bisher vorliegende, oft eng geführte „Milieustudien“ hinausgeht. Exemplarisch interessieren das Paderborner Liborifest und dessen Würzburger Gegenstück zu Ehren des Heiligen Kilian. Diesen Kundgebungen stellt sie weitere exponierte Feierlichkeiten, z.B. die Trierer Rockwallfahrten (115f), aber auch Einzelfallstudien, etwa zum sauerländischen Rüthen (296-302), zur Seite.

Gerade in der Gegenüberstellung des zunehmend dechristianisierten Kiliani-Festes und der fortwährend religiös dominierten Libori-Feier (321) arbeitet Stambolis heraus, dass die katholische Festkultur sich anpassungsfähig genug verhält, um bis heute fortzudauern. In Würzburg löst sich die „untrennbare Einheit“ (41) von kirchlichem und profanem Charakter des Festes schon frühzeitig auf.

Im Vormärz unterstützen zwar katholische Erneuerer noch die Vorstellungen der gerade in Sängervereinen zusammengeschlossenen, süddeutschen Liberalen, dass das Fest vornehmlich regionale Einheit zu artikulieren habe (96). Im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch gewinnt die zivile Inszenierung des Kiliani-Festes als fränkisches Oktoberfest (73, 145) die Oberhand über die religiösen Anteile. Diese Entwicklung erhält nach dem ersten Weltkrieg durch Turnveranstaltungen und die Heimatbewegung weiteres Gewicht (71-76, 145-158).

Lokalstolz und regionale Identifikation bleiben in den Libori-Festivitäten hingegen sekundär. Gerade in Paderborn pflegt man die „milieutypische Führertreue“ zu Papst und kirchlichen Repräsentanten (193-199, 333). Die „’schwarze’ Stadt“ (313) enthält ein „latentes Resistenzpotential“ (201) katholischer Religiosität, wodurch es ihren Einwohnern gelingt, in Kultur- und Kirchenkämpfen das „Althergebrachte“ zu verteidigen (259). Zudem schließen die frommen Westfalen ihr „Haus voll Glorie“ schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber protestantisch-nationalisierenden Tendenzen ab, obwohl man die preußischen Monarchen und die späteren Kaiser wohlgesonnen feiert (85-87, 177-196, 328).

Allerdings muss nach Stambolis die katholische Widerstandsfähigkeit durch Anpassungskraft ergänzt werden, um den zahlreichen politisch bedingten, funktionalen Veränderungen zwischen Napoleon und NS-Zeit längerfristige, mentale Kontinuitäten gegenüber zu setzen (324). Dies macht Stambolis über das Würzburger und vor allem das Paderborner Beispiel hinaus an den Wallfahrten in Werl/Westfalen klar. In der Mitte des 19. Jahrhunderts zieht dieser Ort der Marienverehrung große Pilgermengen an (122). 100 Jahre später zeichnen sich ähnliche Konjunkturen ab. Im Zusammenhang der politisch beabsichtigten und kirchlich unterstützten „Beheimatung und Integration“ von Ostflüchtlingen (288-291) erfreut sich die Werler Wallfahrt seit 1946 großer Attraktivität bei den Vertriebenen. Die Paderborner Bistumsleitung wie die örtliche Kirchenvertretung beleben diese Anziehungskraft des „Wallfahrtszentrums“ (292f) dadurch, dass sie anders als zuvor eine „stark im Gemüthaften verwurzelte Heiligenverehrung“ fördern (291).

Auch in den 1970er Jahren agiert man in Werl flexibel und führt neue Pilger- und Kultformen ein (319), ohne den traditionalen Kerngedanken der Wallfahrt in Frage zu stellen. So ermöglichen die Kirchenvertreter eine Kontinuität, die sich erfolgreich gegen die allgemeine Festmüdigkeit wendet (311).

Dazu können sie sich im 19. und 20. Jahrhundert durchweg auf eine aktive Beteiligung der Laien stützen, die gerade während des Nationalsozialismus eine tragende Rolle für die Fortdauer katholischer Feste spielen (266). Vor allem Jugendliche und Arbeiter hebt Stambolis als „Säulen des katholischen, mehr religiös als sozial zu bestimmenden Milieus“ hervor (138-144, 213-219, 229).

Insgesamt zeigt Stambolis überzeugend, „dass religiöse Feste sich in der konkurrierenden Vielfalt alternativer Sinnwelten zum christlichen Horizont im Festleben der Neuzeit behaupten konnten, weil in ihnen einerseits kirchliche Traditionen weiterlebten und andererseits zeitbedingte Veränderungen zu einem breit gefächerten Wandel inhaltlicher Akzentuierungen sowie der Formensprache führten“ (339). Nur „ansatzweise“ erkennt sie hingegen ein „schichtenübergreifendes und durch religiöse Erfahrung zusammengehaltenes Milieu“ (330). Dieses muss sogar noch fragiler und uneinheitlicher als Stambolis vorschlägt gedacht werden, wenn man ihre Resultate in ein Schema einordnet, so wie es der Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte in Münster vorschlägt 1. Demnach ist das Bistum Würzburg als „traditionale Lebenswelt“ zu betrachten, während Paderborn dem „Sonderweg“ des westfälischen katholischen Milieus folgt.

Barbara Stambolis schreibt in nüchternem Stil eine Studie, die von immensen Literaturkenntnissen profitiert. Obwohl viele Einzelergebnisse bereits in Aufsatzform vorliegen, verliert das Buch nicht viel an inhaltlicher Faszination, wozu beiträgt, dass Stambolis in ihrer empirischen Bestandsaufnahme Lieder innovativ mit einbezieht, während die zahlreichen Abbildungen in der Publikation leider nur illustrative Funktion besitzen.

Irritierend ist hingegen der chronologische Aufbau ihrer Darstellung. Eine sachthematische Gliederung wäre wünschenswert gewesen. Sie würde offenbaren, dass der untersuchte Gegenstand dem diffusen und undefiniert bleibenden Bereich der Mentalitätsgeschichte zugehört und die beanspruchte „lange Dauer“ (10) sich mit Ausnahme eines einleitenden Kapitels (23-48) auf „nur“ 200 Jahre beschränkt. Zugleich würde die sachliche Ordnung des Stoffes stärker zu diachronen Vergleichen verpflichten. So würde dem Leser zum Beispiel klarer werden, dass die „romantische Religiosität“ um 1830 mit der „Rückbesinnung auf das ‚christliche Abendland’“ nach 1945 auffallend eng verwandt ist.

Insgesamt trägt Stambolis wichtiges bei, um einen bislang vernachlässigten Teilaspekt der katholischen Glaubenswelt des 19. und 20. Jahrhunderts zu beleuchten. Ihre Studie bereitet somit das Forschungsterrain zur Beschäftigung mit der religiösen Festkultur im Katholizismus vor, die viel mehr als das katholische Vereins- und Pressewesen weiterer Erforschung bedarf.

1 Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte [AKKZG]: Konfession und Cleavages. Ein Erklärungsmodel zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland. In: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 120 (2000), S. 358-395.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension