J. Giesecke: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit

Titel
Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950-1989/90


Autor(en)
Giesecke, Jens
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten 20
Erschienen
Anzahl Seiten
616 S.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Fakultät für Geschichtswissenschaften und Philosophie, Universität Bielefeld

In den siebziger Jahren verfolgte der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, ein ungewöhnlich ambitioniertes Ziel: Er wies seine Mitarbeiter an, ausreisewillige DDR-Bürger zu ermitteln, bevor diese bei den Behörden einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik einreichten. Dies ist nur eines der überraschenden Details aus Jens Gieseckes materialreicher Dissertation über die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Auf grosser Quellendichte basiert Gieseckes ehrgeiziger Versuch, die vierzigjährige Geschichte dieser zentralen Gruppe der sozialistischen Dienstklasse aus multiperspektivischer Sicht zu analysieren. Dabei gelingt es ihm, einerseits sozial- und alltagsgeschichtliche Ansätze miteinander zu kombinieren und andererseits die Geschichte des MfS in eine Gesellschaftsgeschichte der DDR zu integrieren.

Die Studie ist strikt chronologisch gegliedert und beginnt mit der Entstehung der politischen Polizei in der Sowjetischen Besatzungszone. Der Interpretationsrahmen ist jedoch weiter gesteckt: Jens Giesecke gelingt es, die Geschichte des MfS in der Geschichte des deutschen Kommunismus und der politischen Polizei in Deutschland zu verorten. Ferner ist zu betonen, dass der Text in beeindruckender Weise durchgängig den Forschungsstand zur DDR-Geschichte reflektiert. Weiter gelingt es dem Autor, mit nicht unumstrittenen Begriffen der historischen Forschung - wie etwa "(Post-)Stalinismus", "Generation", "Elite", "Tschekismus" oder "Gewalt" - überzeugend zu operieren. Dieser souveräne Umgang mit Materie, Forschung und Begrifflichkeit stellt das Fundament für eine Studie dar, die auch über die historische DDR-Forschung hinaus auf breites Interesse stossen dürfte.

Neben die quellengesättigte Darstellung tritt bei Jens Giesecke die gründliche Analyse der Arbeit und des sich wandelnden Selbstverständnisses des MfS in den verschiedenen Epochen der DDR-Geschichte. Der Autor zeigt, wie schwer der Aufbau einer Geheimpolizei aus den Reihen der überlebenden deutschen Kommunisten fiel. Während man etwa in der DDR-Wirtschaft durchaus auch auf NS-Belastete zurückgriff, setzte die SED beim Aufbau ihres Sicherheitsapparats auf einen vollständigen personellen Bruch. Aus dieser Entscheidung resultierten, wie Giesecke zeigen kann, zahlreiche Probleme wegen schlechter Ausbildung und häufig auch mangelnder Loyalität der neu rekrutierten Mitarbeiter. Hier gewähren die Quellen tiefe Einblicke in die Genese eines zeitgenössisch gefürchteten Apparates, der intern allerdings nur langsam gefestigt werden konnte. Einem stalinistisch geprägten "tschekistischen" Selbstverständnis folgend, spielte die Anwendung physischer Gewalt im MfS der fünfziger Jahre eine grosse Rolle. Gleichzeitig war das Ministerium zunehmend bemüht, in einer eigenen Hochschule die Bildung seiner Mitarbeiter zu verbessern, um "wissenschaftlich" arbeiten zu können. Wie in anderen Bereichen der DDR, so zeigt sich ebenfalls am Beispiel des MfS, dass ideologische Zuverlässigkeit im Zweifelsfall wichtiger war als Qualifikation.

Gieseckes Untersuchungen korrespondieren mit Djilas' klassischer These von der ?neuen Klasse' in kommunistischen Diktaturen: Durch vierzig Jahre MfS ziehen sich nicht nur vierzig Jahres tschekistisches Elitedenken, sondern auch eine Kultur der materiellen Selbstprivilegierung, die mit dem offiziellen klassenkämpferischen Verzichtsethos der Institution und den Gleichheitspostulaten der SED-Ideologie schwerlich zu vereinbaren waren. Von der Führungsspitze des Ministeriums bis in die Kreisdienststellen entfaltete sich eine Kultur der Begünstigung, die neben der Repression und dem häufig arroganten öffentlichen Auftreten zum schlechten Ruf des MfS beigetragen haben mag.

Die Studie verdeutlicht, dass man die vierzig Jahre DDR-Geschichte als eine Folge ineinander übergehende Krisenszenarien lesen kann. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man die Perspektive des MfS zu Grunde legt. Aus der Sicht des Apparats blieb der "Gegner" immer gefährlich und omnipräsent - selbst in Zeiten der Entspannung. Nach dem Ende des ?Kalten Bürgerkrieges' der vierziger und fünfziger Jahre wurde das Selbstverständnis der Mitarbeiter der Staatssicherheit durch den 20. Parteitag der KPdSU schwer erschüttert. Jens Giesecke zeigt, dass die Person Erich Mielkes ab 1957 eine zentrale Rolle beim Aufbau einer neuen poststalinistischen Sicherheitsdoktrin stellte und das MfS so stabilisierte. Die Vorstellungen Mielkes von einer totalen Durchdringung der Gesellschaft führten zwar mittelfristig zu einem Rückgang der körperlichen Gewaltanwendung durch die "Organe". Die stalinistischen Strukturen und Mentalitäten blieben jedoch bestehen. Daher überrascht es auch nicht, dass das MfS in den Jahren 1957-82 eine ununterbrochene personelle Expansion bis zu einer Stärke erlebte, die in der Polizeigeschichte ihres Gleichen sucht. Zu dieser Dynamik trug besonders der KSZE-Prozess bei, der mittelfristig die Ausreisebewegung ausloeste und von der SED-Führung zunehmend als innenpolitische Bedrohung wahrgenommen wurde. Diese rasche Expansion des MfS stand im Widerspruch zum Selbstverständnis als tschekistische Elitetruppe. Eingehend werden die Mechanismen der (zunehmenden Selbst-)Rekrutierung und die langsame Verstopfung der Karriereleitern im MfS beschrieben. Zu Beginn der achtziger Jahre erfasste dann die Stagnation nicht nur die DDR im allgemeinen, sondern auch die Staatssicherheit im besonderen.

In den abschliessenden Kapiteln wird deutlich, dass der gesellschaftliche Wandel in der DDR auch vor den Mitarbeitern der Staatssicherheit nicht halt machte. Zwar konstatiert der Autor, dass sich in den siebziger Jahren ein eigenständiges Milieu unter den Angehörigen der Sicherheitsorgane konstituierte, doch bereits in den achtziger Jahren wurde es an seinen Rändern durch die schleichende Westernisierung der gesamten DDR-Gesellschaft angegriffen. Trotz der weiterhin hohen Privilegien gestaltete sich die Werbung neuer Mitarbeiter zunehmend schwieriger. Ausserdem begann die strukturelle Lähmung der Staatssicherheit deutlich zu werden: Gewöhnlich gut informiert, aber unwillig zu handeln nahmen die Mitarbeiter und ihre IMs als 'teilnehmende Beobachter' an der friedlichen Revolution von 1989/90 teil. Die frühere Speerspitze im Klassenkampf war in einem langwierigen Wandlungsprozess stumpf geworden. Das MfS verfügte zwar potentiell noch über grosse strukturelle und reale Gewaltmittel, hatte aber tatsächlich an der Agonie der späten DDR teil.

Grösstenteils uneingelöst bleibt das Versprechen aus dem Titel des Buches, etwas über die tschekistische Lebenswelt zu erfahren. Wohl auch aufgrund der Quellenlage beschränkt sich die Darstellung auf Einblicke in das Selbstverständnis des MfS, seine Anforderungen an idealtypische Mitarbeiter und ihre Familien und auf die aktenkundigen Disziplinarfälle (Wobei deutlich wird, dass es nicht gelang, den Alkoholmissbrauch im Apparat unter Kontrolle zu bekommen). Die Normalität der geheimpolizeilichen Arbeit, der vielbeschworene "Alltag" der sicherlich häufig unspektakulär war, spielt jedoch in Gieseckes Arbeit kaum eine Rolle.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es sich bei Jens Gieseckes Buch um einen hervorragenden Beitrag zur Historisierung und Entmystifizierung der DDR-Staatssicherheit handelt. Was fuer die Zukunft bleibt, ist die Forderung an die (geheim-)polizeiliche Forschung , den Vergleich mit den Repressionsapparaten der anderen Diktaturen sowjetischen Typs voranzutreiben. In Nipperdeyscher Manier schreibt der Autor am Beginn der Darstellung: "Am Anfang stand der NKWD." Wenn dem so war, kann man als Historiker nur auf die weitere OEffnung der russischen Archive hoffen. Eine vage Hoffnung in Zeiten, in denen ein im KGB-Milieu sozialisierter früherer Tschekist, Praesident des groessten Nachfolgestaates der Sowjetunion ist.

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