Y. Weiss: Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust

Titel
Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust. Jüdische Identität zwischen Staatsbürgerschaft und Ethnizität 1933 - 1940


Autor(en)
Weiss, Yfaat
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 81
Erschienen
München 2000: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Toralf Kleinsorge

Die Darstellung von Yfaat Weiss beruht auf ihrer Dissertation, die 1997 an der Universität Tel Aviv angenommen wurde. Die hebräische Originalfassung erschien gleichfalls im vergangenen Jahr in Israel. 1 Die Problematik des vergleichendenden Ansatzes der Arbeit, den der Titel bereits andeutet, und die Gefahr seines Mißverstehens wird bei einem Blick auf die Ankündigung des Buches (in seiner hebräischen Fassung) auf der Website des Leo-Baeck-Instituts (Jerusalem) sichtbar. Dort taucht in der Kurzbeschreibung die Bezeichnung "semi-fascist Poland" auf. 2 Eine derartige Charakterisierung der politischen Realität Polens in den 30er Jahren, die die Zweite Republik in eine deutliche Nähe zu den totalitären Regimes in Deutschland und Italien stellen soll, widerspricht dem Ansatz der Autorin, die, ausgehend von jüngeren historischen Arbeiten, von einem autoritär verfaßten Regime spricht.

Nicht eine vermeintliche Ähnlichkeit der Herrschaftsformen bzw. -praxis in Deutschland und Polen nach 1933 bildet die Basis des Vergleichs, sondern die Annahme von Gemeinsamkeiten im jeweiligen Status von deutschen und polnischen Juden: "Beide Gruppen führten fortan ihr Leben innerhalb eines kollektiven Status unter dem Joch diskriminierender antisemitischer Politik". 3 Auf die Existenzbedingungen der beiden jüdischen Minderheiten wird zwar im Verlauf der Arbeit eingegangen, wenn auch mit deutlicher Detailschärfe bei der Beschreibung der deutsch-jüdischen Gruppe, aber den Fokus der Arbeit bilden die Beziehungen zwischen beiden Gruppen. Y. Weiss arbeitet hierbei auf zwei Ebenen: auf einer inneren deutschen Ebene, die die Beziehungen zwischen deutschen Juden und den in Deutschland lebenden polnischen Juden (mit polnischer Staatsbürgerschaft) umfaßt, und auf einer übergeordneten Ebene der Gesamtbeziehungen zwischen deutschen und polnischen Juden. In die Gruppe der polnischen Juden werden auch jene eingeschlossen, die außerhalb Polens leben (hier in erster Linie Nordamerika). 4

Nach Y. Weiss betrachteten sich die deutsche Juden bis 1933 als gleichberechtigte Bürger des deutschen (Rechts-)Staates, verbunden mit dem Bewußtsein einer ethnischen Zugehörigkeit zum Judentum. Die polnischen Juden verstanden sich dagegen als eine nationale Minderheit, die ihrer polnischen Staatsangehörigkeit eine nachrangige Bedeutung zugewiesen hätte. Infolge der Machtübernahme der Nationalsozialisten war der deutsch-jüdischen Minderheit ein neuer Handlungsrahmen aufgezwungen worden, der auch die Beziehungen zwischen deutschen und polnischen Juden auf eine neue Grundlage stellte. Die Zäsursetzung orientiert sich demnach ausschließlich an der deutschen bzw. deutsch-jüdischen Geschichte. Man kann Y. Weiss nur folgen, wenn sie zwar auf die Verstärkung der antisemitischen Elemente in der polnischen Politik nach dem Tod Jozef Pilsudskis (1935) hinweist, diesem aber nicht die Qualität eines Wendepunktes zuschreibt.

Im ersten Kapitel der Darstellung werden die Beziehungen zwischen dem deutschen Staat, der deutsch-jüdischen Minderheit und der Randgruppe der polnisch-jüdischen Emigranten in Deutschland behandelt. Anknüpfend an die Ergebnisse einer umfangreichen Forschung zur Geschichte dieses Beziehungsgeflechts in Kaiserreich und Weimarer Republik 5 skizziert Y. Weiss die jähen Brüche und schmerzhaften Erkenntnisse nach 1933. Für die deutsch-jüdische Minderheit, die sich mit dem schrittweisen Verlust ihrer bürgerlichen Rechte und schließlich ihrer Existenzgrundlage konfrontiert sah, war es eine schwer verständliche Situation, daß Juden mit ausländischer Staatsbürgerschaft bis 1938 in formal-juristischer Position über eine sichere Position verfügten. Im Alltagsleben des NS-Deutschlands der ersten Jahre waren letztere jedoch häufig einer größeren Gefahr von Angriffen ausgesetzt, so daß die Entwicklung einer wechselseitigen (!) Solidarität von großer Bedeutung war. Interessant ist es zu verfolgen, wie Vorurteile auf Seiten des etablierten deutsch-jüdischen Bürgertums gegenüber den polnisch-jüdischen Gemeindemitgliedern auch nach 1933 fortlebten, gleichzeitig aber auch vormalige negative Haltungen und Einstellungen überdacht und aufgegeben wurden.

Das zweite Kapitel widmet sich der Entwicklung des religiösen Lebens der jüdischen Minderheit in Deutschland und Polen unter dem Einfluß der antisemitischen Politik des Staates. Exemplarisch wird diese Thematik am Status osteuropäischer Rabbiner und Synagogen in Deutschland und an der Reaktion des Verbots des koscheren Schlachtens (Schächten/Schechitah) dargestellt. In Deutschland war bereits im April 1933 ein Schächtverbot erlassen worden, dessen Vorläufer auf Länderebene, bereits unter dem Einfluß der Nationalsozialisten, sich noch in die Zeit der Weimarer Republik zurückverfolgen lassen (Bayern, Braunschweig). Da für die große Mehrheit der deutschen Juden die Einhaltung der Kaschrut-Vorschriften (Speisegesetze) keine zentrale Rolle mehr spielte, schien es den nicht-orthodoxen Strömungen im deutschen Judentum sinnvoll, sich auf andere, strategisch wichtigere Felder der nationalsozialistischen "Judenpolitik" zu konzentrieren. Die Reaktionen waren daher verhalten (Centralverein) oder überhaupt nicht vorhanden (Zionisten). Einzig und allein die orthodoxe Minderheit innerhalb der deutsch-jüdischen Minderheit sah sich mit einem sehr ernsthaften Problem konfrontiert, das sie mit der Unterstützung von namhaften Rabbinern in Polen, die eine unbestrittene Autorität in der Welt des (ultra-)orthoxen Judentums besaßen, zu lösen suchten. Da das Thema des Schächtverbots als Detailstudie angelegt ist, wäre es lohnenswert gewesen, die Beziehungen zwischen deutschen orthodoxen Rabbinern und den rabbinischen Autoritäten in Polen noch genauer zu rekonstruieren. Hier wäre vor allem die Sichtweise des orthodoxen Rabbinats in Polen auf die Vorgänge in Deutschland und deren Unterschiede zur Interpretation säkularer politischer Gruppen (Zionisten, Bund usw.) von großem Interesse gewesen. Y. Weiss hätte hier als israelische Historikerin eine Brücke zur (im doppelten Sinne des Wortes) benachbarten Judaistik schlagen können. 6

Die Bedeutung der antisemitischen Politik des deutschen Nationalsozialismus als Vorbild für die antijüdischen Strömungen in Regierung und Opposition im Polen der 30er Jahre gehört zweifellos zu den häufig gestellten Fragen in diesem Kontext. Am Beispiel der Debatte um das Schächtverbot in Polen (1936) möchte Y. Weiss eine direkte Wirkungslinie von Deutschland nach Polen herausarbeiten. Demnach war der Gesetzesantrag eines Sejmabgeordneten "eine exakte Kopie des bayerischen Gesetzes von 1930" 7 gewesen. Leider vermißt man aber an diesem wichtigen Punkt einen konkreten Nachweis anhand des Quellenmaterials. Hier muß auch ein wesentliches Problem der Arbeit benannt werden. Bei der Darstellung der polnisch-jüdischen Minderheit und der polnischen Politik stützt sich Y. Weiss ausschließlich auf die Sekundärliteratur (vornehmlich in englischer und hebräischer Sprache) und auf die (durchaus detaillierten) Polen-Berichte in der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Presse. Sowohl die Arbeiten der polnischen Geschichtswissenschaft, die sich bereits seit den 80er Jahren intensiv mit dem Themenkreis Antisemitismus und polnisch-jüdische Beziehungen im Zwischenkriegspolen befaßt 8, als auch das polnischsprachige Quellenmaterial bleiben unberücksichtigt. Aber wäre es nicht vermessen, der Historikerin, die in ihrer Darstellung souverän mit vier Sprachen (Deutsch, Englisch, Hebräisch, Jiddisch) "operiert", die fehlende Kenntnis des Polnischen vorzuwerfen?! Sinnvoller erscheint hier der Hinweis, daß die weitere Bearbeitung dieser vergleichenden Fragestellung auf der Grundlage eines sprachlich und kulturgeschichtlich sehr heterogenen Quellenmaterials im Rahmen eines national wie fachlich gemischten Projektteams realisiert werden sollte.

Im dritten Kapitel, das die Tätigkeit der jüdischen Hilfsorganisationen behandelt, entfaltet die Arbeit eine ihrer Stärken. Besonders gelungen ist Y. Weiss die Darstellung des Engagements des American-Jewish Joint Distribution Committee (Joint), die im wesentlichen auf Archivmaterialien von Joint basiert. Hatte Joint bis 1933 keine Leistungen für deutsche Juden erbringen müssen, so wurde seine Hilfe sehr bald nach Hitlers Machtantritt zur dringenden Notwendigkeit. Die antijüdische Gesetzgebung der Nationalsozialisten führte bereits in den ersten Jahren zur Pauperisierung von Teilen der deutsch-jüdischen Minderheit, deren Unterstützung für Joint und andere Hilfsorganisationen zu einer zentralen Aufgabe wurde. Zugleich ergab sich damit ein tragisch zu nennender Zwiespalt für die Entscheidungsträger der Hilfsorganisationen. Die Hilfsleistungen, die die deutschen Juden nun erhielten, mußten zwangsläufig jüdischen Organisationen und Projekten in Polen, den traditionellen Empfängern, entzogen werden. Angesichts der Ausmaße der sozialen Not der polnischen Juden, die durch die Weltwirtschaftskrise noch verstärkt worden war, wurden sogar Stimmen laut, die Hilfe ganz aufzugeben, da sie ohnehin nichts ausrichten könne.

In einem weiteren Abschnitt beschäftigt sich Y. Weiss ausführlicher mit dem Einfluß des NS-Antisemitismus auf die polnische Politik und Gesetzgebung. Am Beispiel der gegen jüdische Studenten gerichteten Zulassungsbeschränkungen und antijüdischer Boykottaktionen im Bereich der Wirtschaft möchte Y. Weiss das deutsche Vorbild erkennen, auch wenn sie antijüdische Vorläufer in der polnischen Geschichte des 19. u. 20. Jh. einräumt. 9 Ein Nachweis für eine derartige Rezeption steht jedoch noch aus. 10

Die weiteren Themen des Buches können abschließend nur kurz genannt werden: die Not der Auswanderung vor dem Hintergrund mangelnder Einwanderungsziele, das problematische Verhältnis von Transfer-Abkommen und Boykott-Bewegung und die deutsche Ausweisungsaktion vom Oktober 1938 als deutsch-polnischer Konflikt mit jüdischen Opfern.

Y. Weiss hat sich mit ihrer Arbeit gleich mehrere Verdienste erworben. Der Wert und die Realisierbarkeit eines vergleichenden Ansatzes bei der Darstellung deutsch-jüdischer und polnisch-jüdischer Geschichte vor 1939 wurden nachgewiesen. Darüber hinaus wurden im Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte (1933-1939) eigenständige Beiträge zu ausgewählten Fragestellungen (Hilfsorganisationen, Boykott-Bewegung, Zbaszyn 1938) erbracht. Es wäre zu wünschen, daß sich auf dieser Grundlage ein Projekt im oben skizzierten Sinne konstituiert, das neben sprachlicher und geschichtswissenschaftlicher Kompetenz auch den Mut zur Kontroverse mitbringt.

Zu danken ist auch Matthias Schmidt für seine gut lesbare Übersetzung und dem Richard-Kroebner-Zentrum für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, die die Übersetzung ermöglichte.

Anmerkungen

1 Etnijut ve-esrachut. Jehude germania ve-jehude polin 1933-1940 (Ethnizität und Staatsbürgerschaft. Die Juden Deutschlands und die Juden Polens 1933 - 1940), Jerusalem: 2000.

2 www.leobaeck.org/public.htm (20.06.2001)

3 Weiss, 2000, S.13.

4 Vgl. ebd., S.14.

5 Beispielhaft seien hier die folgenden Arbeiten genannt: Aschheim, S., Brothers and Strangers. The East European Jew in Germany and German Jewish Consciousness, 1800-1923; Maurer, T., Ostjuden in Deutschland 1918-1933, Hamburg 1986.

6 Vgl. Urbach, E. E., Hitjachasut schel rabbanei polin li-kehilot Jisrael be-artzot ha-maarav bi-tkufa sche-ben schte ha-milchamot - perek be-cheker sifrut schelot ve-teschuvot (Die Haltung der rabbinischen Autoritäten Polens zu den jüdischen Gemeinden im Westen in der Zwischenkriegszeit - ein Kapitel zur Erforschung der Responsaliteratur), in: Mendelsohn, E., Shmeruk, Ch. (Hg.), Studies on polish Jewry: Paul Glikson Memorial Volume, Jerusalem 1987, S.97-116.

7 Weiss, 2000, S.67.

8 So erschienen 1998 gleich zwei Arbeiten in polnischer Sprache zum Verhältnis der Nationaldemokraten (Endecja) zur sogenannten "Jüdischen Frage": Bergmann, O., Narodowa Demokracja wobec problematyki zydowskiej w latach 1918 - 1929 (Die Nationaldemokratie zur jüdischen Problematik in den Jahren 1918 - 1929), Poznan 1998; Sobczak, M., Stosunek Narodowej Demokracji do kwestii zydowskiej w Polsce w latach 1918 - 1939 (Die Haltung der Nationaldemokratie zur jüdischen Frage in Polen in den Jahren 1918 - 1939), Wroclaw 1939.

9 Vgl. Weiss, 2000, S.112ff.

10 Sobczak betont die Eigenständigkeit der antisemitischen Ideologie der Nationaldemokraten, die in den 30er Jahren zwar Akzentverschiebungen erfahren hat, deren Ursache aber primär nicht im Vorbild des NS-Antisemitismus zu suchen ist. Vgl. Sobczak, 1998, S.409-437.

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