Steitz, Walter (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Titel
Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus. Teilband 1: 1933-1939 u. Teilband 2: Die Kriegswirtschaft


Herausgeber
Steitz, Walter
Reihe
Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit/Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe XXXIX
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael C. Schneider, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V., TU Dresden

Ein so vielgestaltiges und heterogenes Themenfeld wie die nationalsozialistische Wirtschafts- und Sozialgeschichte in einer Quellenedition von knapp 550 Seiten angemessen, ausgewogen und auch neueren Forschungstendenzen Rechnung tragend repräsentieren zu wollen, ist ein fast unmögliches Unterfangen. Und so konzediert Steitz in der Einleitung zum ersten Band auch, daß sowohl alltagsgeschichtliche Aspekte wie auch überhaupt die Sozialgeschichte weniger als die Wirtschaftsgeschichte vertreten seien. Indes irritiert bei einer im Jahr 2000 veröffentlichten Edition schon, daß die Verdrängung der Juden aus dem Wirtschaftsleben nicht berücksichtigt werden sollte (Bd. 1, S. 16; Bd. 2, S. 12), wie auch die neuere Unternehmensgeschichte ohne nähere Begründung vollständig ignoriert wird, sowohl in der Quellenauswahl als auch in den Literaturverzeichnissen. Die beiden Einleitungen bewegen sich auf dem Forschungsstand der späten 1970er Jahre, was auch die thematische Fokussierung auf makroökonomische Fragen, etwa die Außenhandelsreglementierung oder die Kriegsfinanzierung erklärt. Weder auf die Untersuchungen von Dietrich Eichholtz 1 noch auf die einschlägigen Beiträge aus "Das deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" 2 wird hier Bezug genommen. Einzig Rainer Zitelmann vertritt (neben einem Beitrag von Albrecht Ritschl) mit seinem Aufsatz über "Die totalitäre Seite der Moderne" die frühen 1990er Jahre. Daß er hier (Bd. 1, S. 4) durchaus wohlwollend rezipiert wird, muß angesichts der zumeist kritischen Reaktionen - die freilich unerwähnt bleiben - überraschen.

Welche Quellentypen sind nun in dieser Edition zu finden? Neben einigen wichtigen Gesetzestexten (etwa dem "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit") finden sich im Band zur Vorkriegszeit vor allem Berichte verschiedener Instanzen des NS-Regimes, etwa Lageberichte der Gestapo zur Versorgungslage der Bevölkerung oder auch einige Berichte des wehrwirtschaftlichen Instanzenzuges. In der Regel werden die Dokumente aus leicht zugänglichen Editionen entnommen, etwa Timothy Masons "Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft" 3 oder der Edition von Hans Mommsen und Susanne Willems 4. Soweit der Herausgeber archivalische Primärquellen ediert, beschränkt er sich (mit einer Ausnahme) auf das Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i.Br., dem er in der Tat einige interessante Dokumente entnimmt, so etwa eine Denkschrift des Instituts für Weltwirtschaft zur rüstungs- und kriegswirtschaftlichen Bedeutung Osteuropas für das Reich zwischen 1936 und 1944 (Bd. 2, Nr. 43, S. 324-363).

Die Kommentierung der einzelnen Quellenstücke ist außerordentlich sparsam, bisweilen auch irreführend: So handelt es sich bei Dokument 4 (Bd. 1, S. 41f.) nicht, wie man aus der Kommentierung ableiten könnte, um einen juristischen Kommentar zum Gesetz zur Förderung der Eheschließung. Daß es sich bei dieser Quelle mit unverkennbar propagandistischem Anstrich vielmehr um einen Artikel des Staatssekretärs im Reichsfinanzministerium, Fritz Reinhardt, handelt, erfährt man nur, wenn man in der herangezogenen Quellensammlung nachschlägt. Zudem erläutert dieser "Kommentar" auch nicht, wie behauptet, "die Auswirkungen" des Gesetzes, sondern allenfalls seine Intentionen. Hier hätte es sich angeboten, wie dies andere Bände der Reihe auch tun 5, auf die umfangreiche Literatur zu verweisen, die die begrenzte Wirksamkeit dieses Gesetzes längst nachgewiesen hat. Die vorliegende Edition verzichtet jedoch in den meisten Fällen auf Literaturhinweise sowohl zum Sachzusammenhang als auch zum Charakter der jeweiligen Quelle, verweilt jedoch in Einzelfällen bei den Details der Überlieferungsgeschichte (so bei Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan, Bd. 1, Quelle 17, S. 84-92). Es ist nicht erkennbar, nach welchen Kriterien Literaturverweise angeführt werden bzw. auf sie verzichtet wird. Bei den zahlreichen aus der Edition von Timothy Mason übernommenen Quellen wurden dessen nunmehr ein Vierteljahrhundert alte Kommentierungen und auch Literaturverweise ohne Aktualisierungen wörtlich übernommen, ohne daß diese Übernahmen immer als solche kenntlich gemacht worden wären.

Der zweite Band, der den Zeitraum des Krieges abdeckt, druckt einige Verordnungen aus der ersten Kriegsphase ab, so etwa die Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939. Überhaupt konzentriert sich die Materialauswahl dieses Bandes auf die Phase zwischen Kriegsbeginn und Anfang 1942 (33 von 43 Dokumenten), eine Periode, die der Herausgeber in seiner Einleitung noch im Anschluß an Alan S. Milward als Phase einer bewußt eingeschlagenen ökonomischen "Blitzkriegsstrategie" wertet, ohne dort andere, ebenso relevante Interpretationen, etwa jene Richard J. Overys, zu erwähnen (Bd. 2, S. 2f.). Die Ausbeutungsstrategien, die Unternehmen verschiedener Branchen in den besetzten Gebieten anwandten, finden weder in der Einleitung noch in der Quellendokumentation Berücksichtigung.

Von den 10 verbleibenden Dokumenten für die zweite Kriegsphase zwischen Anfang 1942 und Kriegsende beziehen sich vier auf Lohnpolitik und Arbeitszeit. Allerdings wird die Beschäftigung von Zwangsarbeitern auf der Ebene der Dokumente nicht berücksichtigt, wenn man nicht einen zeitgenössischen Artikel zum "Arbeitseinsatz im Kriege" hierunter fassen will (Bd. 2, Quelle 32, S. 204-234), eine Quelle, die indes allenfalls für die Frage nach der zeitgenössischen offiziellen Einordnung dieses Themas aussagekräftig sein kann. Eine Reihe von statistischen Übersichten schließt an die Dokumente an. Jene des ersten Bandes beleuchten etwa den Geldumlauf 1928-1945, die Außenhandels- und Investitionsentwicklung oder auch Löhne bzw. Lohnquoten. Im zweiten Band sind Tabellen zur Entwicklung der Reichsschuld, zum Außenhandel und eine umfangreiche Aufstellung zur Rüstungsproduktion zwischen 1942 und 1944 zu finden, die die deutsche Produktion mit jener der USA, Großbritanniens und der UdSSR vergleicht. In der noch aus der Arbeit Hans Pfahlmanns übernommenen Tabelle über die "ausländischen Arbeiter und Angestellten im Deutschen Reich" (Bd. 2, S. 372) fehlt ein Bezugsdatum; und auch in der Einleitung (Bd. 2, S. 6) spricht der Herausgeber von "etwa 5,4 Mill. ausländischen Zwangsarbeiter[n]", ohne einen Bezugszeitraum oder ein Stichdatum anzugeben. Mit Milward nennt er dann im folgenden Satz eine Zahl von 7,5 Mio. Fremdarbeitern im September 1944, eine in ihrer Größenordnung zutreffende Ziffer 6, ohne den offenkundigen Widerspruch beider Sätze aufzulösen.

In den beiden Literaturverzeichnissen fehlen insbesondere jüngere Untersuchungen zur Unternehmensgeschichte im Nationalsozialismus 7, aber auch branchenbezogene Untersuchungen wie etwa die Studie Christopher Koppers zur Bankenpolitik 8. Auch sonst weist das Literaturverzeichnis einige Merkwürdigkeiten auf: So wird etwa ein als unveröffentlicht bezeichnetes Manuskript von Richard J. Overy aufgeführt (Bd. 1, S. 277), nicht jedoch sein 1994 erschienener und eine Reihe früherer Aufsätze vereinender Sammelband "War and Economy in the Third Reich" 9, in dem sich ein Beitrag zum selben Thema findet 10. Daß auch Overys Studie "The Nazi Economic Recovery" in der veralteten Auflage von 1982, nicht in der überarbeiteten Auflage von 1996 angegeben wird, überrascht dann nicht mehr. Der das Werk von Dietrich Eichholtz zur "Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft" abschließende, 1996 erschienene dritte Band 11 ist dem Herausgeber ebenso entgangen wie die Studie von Walter Naasner zur Verschiebung der Machtzentren in der zweiten Kriegsphase 12 oder der von Mark Harrison herausgegebene Sammelband "The economics of World War II" 13, der den Forschungsstand zu den wichtigsten am Zweiten Weltkrieg beteiligten Volkswirtschaften zusammenfaßt. Insgesamt ist festzuhalten, daß angesichts des über weite Strecken veralteten Literaturverzeichnisses, der thematischen Enge der Quellenauswahl, des unproblematischen Zugangs zu den meisten Herkunfts-Editionen und nicht zuletzt der zahlreichen Ungenauigkeiten, bisweilen auch Fehler (die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wird z.B. in Bd. 1, Quelle 1, S. 21f., auf den 20. Januar 1933 datiert) der Ertrag der beiden Bände in keinem vertretbaren Verhältnis zum verlangten Preis steht.

Anmerkungen:
1 Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bde. 1-3, Berlin 1969-1996.
2 Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bde. 1 (Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Stuttgart 1979) sowie 5/1 (Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939?1941, Stuttgart 1988) und 5/2 (Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942?1944/45, Stuttgart 1999).
3 Mason, Timothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975.
4 Mommsen, Hans/Susanne Willems (Hg.): Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, Düsseldorf 1988.
5 Vgl. Kießling, Friedrich (Hg.): Quellen zur deutschen Außenpolitik 1933-1939, Darmstadt 2000.
6 Vgl. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin/Bonn 1985, S. 271.
7 So fanden keine Aufnahme in das Literaturverzeichnis: Budraß, Lutz: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918?1945, Düsseldorf 1998; Gregor, Neil: Stern und Hakenkreuz. Daimler?Benz im Dritten Reich, Berlin 1997; Mommsen, Hans/Grieger, Manfred: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.
8 Kopper, Christopher: Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus. Bankenpolitik im "Dritten Reich" 1933?1939, Bonn 1995. Ebenso fehlt die Untersuchung von Spoerer, Mark: Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925?1941, Stuttgart 1996.
9 Overy, Richard J.: War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994.
10 Overy, Richard J.: "The Reichswerke ‚Hermann Göring': A Study in German Economic Imperialism, in: ders.: War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994, S. 144-174.
11 Eichholtz, Dietrich: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Bd. 3: 1943?1945. Unter Mitarbeit von Hagen Fleischer, Manfred Oertel, Berthold Puchert und Karl Heinz Roth, Berlin 1996.
12 Naasner, Walter: Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942?1945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition/Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Boppard a. Rhein 1994.
13 Harrison, Mark (Hg.): The economics of World War II. Six great powers in international comparison, Cambridge 1998.

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