A. Edler; J. Kremer (Hg.): Niedersachsen in der Musikgeschichte

Titel
Niedersachsen in der Musikgeschichte. Zur Methodologie und Organisation musikalischer Regionalforschung.


Herausgeber
Arnfried, Edler; Kremer, Joachim
Reihe
Internationales Symposion Wolfenbüttel 1997 (= Publikationen der Hochschule für Musik und Theater Hannover 9)
Erschienen
Augsburg 2000: Wißner-Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Sepp, Ludwig-Maximilians-Universität München

Der Titel des vorliegenden Sammelbandes, der aus einem 1997 abgehaltenen Kongreß "Zu Grundfragen musikalischer Regionalgeschichte am Beispiel Niedersachsens" hervorging, täuscht. Es werden keineswegs nur Themen der niedersächsischen Musikgeschichte behandelt. Da eine auf dieses Land bezogene musikalische Regionalforschung bisher nicht existierte, ging es den Initiatoren der Tagung darum, methodische und inhaltliche Konzeptionen für eine auf Niedersachsen bezogene Musikgeschichtsforschung neu zu entwickeln. Entstanden ist daher ein Band, der in seinen vier Hauptteilen zunächst methodische Überlegungen von Musikwissenschaftlern und Historikern und dann einen Überblick über die musikalische Regionalforschung in Schweden, Großbritannien und Deutschland enthält, gefolgt von Fallbeispielen zur niedersächsischen Musikgeschichte und Beiträgen zu einer Regionalgeschichte der Oper.

Musikalische Regionalforschung ist ein Stiefkind der Musikwissenschaft. Sie blieb, wie Arnfried Edler in seinem einleitenden Aufsatz "Forschungsprojekt Niedersächsische Musikgeschichte. Möglichkeiten - Ziele - Grenzen" (S. 11-22) feststellt, lange Zeit eine Domäne von Amateuren mit negativen Folgen für das methodische Niveau der Arbeiten. Gleichzeitig beschränkte sich die historische Musikforschung wesentlich auf "Ereignisgeschichte", also die Betrachtung von Komponistenbiographien und Einzelwerken. Die "longue durée" blieb vollkommen unberücksichtigt, das mangelnde Wissen über sie wurde bis in die 1970er Jahre nicht einmal wahrgenommen.

Diese Entwicklung erklärt Helmut Loos ("Landesgeschichte und Kulturregion, keine selbstverständliche Übereinstimmung. Das Beispiel Mitteleuropa", S. 139-145) aus dem Selbstverständnis der Musikwissenschaft, der es vorwiegend um "die Feststellung überregionaler Ausstrahlung oder - man beachte die Wortwahl - 'Gültigkeit' bzw. 'Geltung' von Musik" geht (S. 139). Von dieser Hypothek aus der Entstehungszeit des Fachs, als Musik maßgeblich zur Definition der nationalen Identität diente, konnte sich die Musikwissenschaft bis heute nur schwer frei machen: "Es ist noch häufig eine Dominanz nationaler Kategorien zu beobachten, was weder einem historischen Bewußtsein etwa für die Zeit des 18. Jahrhunderts und früher entspricht, noch in der heutigen Zeit des sich vereinigenden Europas als sachadäquat empfunden wird." (S. 144)

Susanne Rode-Breymann zeigt unter dem Titel "Regionalgeschichte - eine unverzichtbare Teildisziplin der Musikforschung? Überlegungen am Beispiel von Wien" (S. 221-231), daß die Ergebnisse einer derartigen Forschung methodisch oft fragwürdig sind. Aufschlußreich für das Niveau musikwissenschaftlicher Arbeit ist ihr Seitenhieb auf Kollegen, die "überzeugt sind, die Geschichte der eigenen Metropole am kundigsten selbst darzustellen zu können, und, wie ich provokant hinzusetzen möchte, deswegen in Archiven mit vorwiegend regionalgeschichtlichen Materialien eher selten anzutreffen sind ..." (S. 221). Daß die Überwindung einer reinen Stil- und Gattungsgeschichte zu tieferen Erkenntnissen führt, demonstriert sie unter anderem am Beispiel des als Opernkomponisten nicht wahrgenommenen Franz Schubert. "Die Grundannahme, auf der der eher angestrengte Diskurs über dieses Phänomen basiert, nämlich Schubert habe eben in der Gattung Oper im Grunde versagt, scheint angesichts der Schubert sonst zugesprochenen kompositorischen Qualität und der Tatsache, daß Schubert sich beständig musiktheatralischen Gattungen widmete, wenig logisch." (S. 226) Anhand der Betrachtung des zeitgenössischen Wiener Musiklebens kommt sie zu dem Schluß, Schuberts Mißerfolg als Opernkomponist sei eine Folge der 1821 erfolgten Verpachtung der Hofoper an einen Italiener und des daraus resultierenden Siegeszuges der Opern Rossinis in Wien.

Allen methodisch orientierten Beiträge dieses Bandes - zusätzlich zu den genannten sind noch Walter Salmens Ausführungen über "Bilder zur Musikgeschichte in Niedersachsen" (S. 47-70) zu erwähnen - ist gemeinsam, daß sie in der musikalischen Regionalforschung nicht die bisherigen Pfade der Musikwissenschaft im Kleinen fortführen wollen, sondern neue methodische Wege im interdisziplinären Dialog suchen. Als Vorbilder werden vor allem die Annales-Gruppe und Norbert Elias genannt. Im Grunde handelt es sich beim Aufschwung der musikalischen Regionalforschung seit den 1990er Jahren 1 um einen späten Mitvollzug des Methodenwandels der Geschichtswissenschaft in den 1960er Jahren.

Arnfried Edler sieht klar, daß das heutige Niedersachsen ein Konglomerat unterschiedlicher Territorien ist, auf das verschiedene künstlerische Einflüsse aus Italien, England und Frankreich einwirkten. Grundlegendes Ziel sei es, "diese Vielfalt zu strukturieren ..., die unterschiedliche Entwicklung in großen und kleinen Residenzen, Handels-, Beamten-, Universitäts- und Industriestädten modellhaft aufzuzeigen und in ihren Voraussetzungen sowie den Beziehungen zu den allgemeinen und benachbarten historischen Erscheinungen verstehbar zu machen" (S. 21).

Für Walter Salmen orientiert sich musikalische Strukturgeschichte "an den in dem jeweils thematisierten Raum aufzufindenden Institutionen, den mannigfaltigen Profilen der professionell, semiprofessionell oder liebhabermäßig Musizierenden, an deren sozialen Rollen und ökonomischen Bedingungen, den Kategorien der funktional eingebundenen oder der nur ästhetischen Rezeption von Kunst, der Bildung und Zusammensetzung von Repertorien ob in Blaskapellen, Kirchenchören, Opernhäusern, auf Jahrmärkten oder Überseeschiffen" (S. 50).

Helmut Loos stellt die Frage "ob der personenorientierten Forschung in der Regionalmusikgeschichtsschreibung wirklich der Rang zukommt, den sie gewöhnlich immer noch einnimmt" (S. 140-141) und fordert eine Verstärkung von struktur- und sozialgeschichtlichen Ansätzen bei der Erforschung des historischen Musiklebens. Kompositions-, Struktur- und Ideengeschichte sollten aufeinander bezogen werden.

Es spricht für das Bemühen um Interdisziplinarität, daß mit Carl-Hans Hauptmeyer ein Historiker die "Wirtschaftsgeschichte Niedersachsens des Mittelalters und der frühen Neuzeit im interregionalen Kontext" (25-46) thematisiert und ausführlich auf die sozialen Voraussetzungen des Musiklebens zu sprechen kommt. Hauptmeyer schließt mit der Forderung: "Regionale Musikgeschichte müßte ein Teil der Alltags- und Mentalitätsgeschichte im Sinne des aktuellen Verständnisses von Kulturgeschichte sein." (S. 45)

Diesen methodischen Überlegungen kann nur zugestimmt werden. Die Umsetzung scheint am besten zwei Autoren gelungen zu sein, nämlich Beate Hannemann ("Interdisziplinarität und Operngeschichte. Zur Methodologie regionaler Musikgeschichte" S. 233-247), die ihr Konzept zur vergleichenden Erforschung der niedersächsischen Opernhäuser vorstellt, und Daniela Wissemann-Garbe ("Musikleben und Repertoire um St. Stephani und Juleum zu Helmstedt im 17. Jahrhundert", 211-218), wobei diese sich vor allem auf eine vergleichende Betrachtung des Repertoires beschränkt, die im Hintergrund stehende Institutionen und deren Musikleben nicht behandelt.

Die anderen Beiträge bleiben indes hinter den Erwartungen zurück, die die Ausführungen zu Methode weckten.

So berichtet Rüdiger Thomsen-Fürst ("Expeditionen ins Paradies der Tonkünstler. Das Forschungsprojekt 'Geschichte der Mannheimer Hofkapelle im 18. Jahrhundert' der Heidelberger Akademie der Wissenschaften", S. 117-125) nicht über eine "gewöhnliche" deutsche Hofkapelle, sondern das Mannheimer Ausnahmeorchester. Die erforderliche vergleichende Betrachtung mehrerer Hofkapellen kann das Projekt aber nicht leisten.

Hans-Günther Ottenberg ("Elbestädtisches Musikleben und Musiker suchen Autoren. Zum aktuellen Stand der Erforschung der Dresdner Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts", S. 147-158) rechtfertigt seine Projekte mit der Feststellung, sie seien dem "hohen künstlerischen Rang der Stadt an der Elbe in Geschichte und Gegenwart geschuldet" (S. 147). Die laufenden Forschungsprojekte umfassen Studien zur Geschichte einzelner Gattungen und zu ausgewählten Musikpersönlichkeiten.

Einen einzelnen Musiker stellt Joachim Kremer mit seinem Beitrag "Zur Mobilität und Repertoireverbreitung im 19. Jahrhundert. Der Lüneburger Organist Louis Anger (1813-1870) im Urteil Mendelssohn-Bartholdys, Schumanns und Hummels" (S. 161-183) vor. Mit Anger als Organisten konnte Lüneburg 1841 einen hochqualifizierten Musiker gewinnen. Das Organistenamt war bis um 1800 ausschließlich der Kirchenmusik verpflichtet. Im 19. Jahrhundert weitete sich die Aufgabenstellung auch auf die Gestaltung von öffentlichen Konzerten und die Leitung bürgerlicher Musikvereine aus. Die naheliegende Frage, ob diese Entwicklung wesentlich durch den Stadtmagistrat verursacht war, dem die Ausschreibung der Stelle oblag, wird nicht gestellt, auch die materielle Seite des Amts (Bezahlung) nicht thematisiert. Offen bleibt ferner, ob Anger wirklich das Musikleben Lüneburgs so grundlegend verändert hat, wie Kremer vermutet, da die Untersuchung der Zeit vor und nach seinem Wirken unterbleibt.

Günther Katzenberger betrachtet in seinem Aufsatz "Zur Verflechtung höfischer und städtischer Musik in Hannover zur Zeit Georgs V." (S. 185-196) das Wirken des musikbegeisterten Königs Georg V. (1851-1866), der plante, Hannover zu einer deutschen Musikmetropole auszubauen. Auch hier wäre eine intensivere Betrachtung der Zeit davor sinnvoll gewesen. Da der Vergleich mit anderen Residenzstädten unterbleibt - das naheliegende Beispiel Münchens und Ludwigs II. von Bayern wird nur kurz angedeutet -, kann die Besonderheit des Falles nur schwer erkannt werden. Eine künftige Bezugnahme auf Forschungen zur Kulturpolitik in deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts wäre wünschenswert. 2

Auch der Beitrag Axel Fischers zu "Johann Nikolaus Forkels 'Akademische Winter-Concerte' und das Göttinger Musikleben um 1800" (S. 197-209) bleibt einer besonderen Hochblüte verpflichtet, die am Wirken einer herausragenden Person festgemacht wird. Forkel als einer der Begründer des Fachs Musikwissenschaft kann nicht als Regelfall eines Göttinger Universitätsmusikdirektors bezeichnet werden. Der angebliche Verfall des Göttinger Musiklebens vor und nach Forkels Wirken wird ausschließlich aufgrund von Forkels Selbstdarstellung und einer Zeitungsnotiz postuliert, ohne diese beiden Quellen kritisch zu betrachten. Als Ursache des Niedergangs sieht Fischer die zunehmende private Konzerttätigkeit in Göttingen.

Die vorgestellten Forschungsprojekte bleiben nach Ansicht des Rezensenten stark mit den Schwächen bisheriger musikwissenschaftlicher Arbeit behaftet, nämlich dem Fehlen einer vergleichenden Einordnung, der Konzentration auf künstlerisch herausragende Zeiten, Werke und Personen sowie dem Überwiegen des biographischen Ansatzes. Die einleitende Postulate, mehr Struktur- und Sozialgeschichte zu betreiben und damit die "longue durée" zu berücksichtigen, werden nicht eingelöst. Zu kritisieren ist weiterhin die Beschränkung auf die musikalische "Hochkultur". Die sog. "Volksmusik" wird weder in einem der Projekte noch in der Projektformulierung beachtet - während der einzige am Sammelband beteiligte Historiker (Hauptmeyer) das Musikleben des einfachen Volkes für eines der wichtigsten Forschungsfelder hält. Dies steht im Widerspruch zur Erkenntnis auch der Musikwissenschaft, daß die bisherigen Abgrenzungen von ernster und unterhaltender Musik so nicht haltbar sind. Die Lektüre des Bandes hinterläßt folglich einen zwiespältigen Eindruck. Die sehr selbstkritischen methodischen Überlegungen sind in den konkreten Projekten nicht so berücksichtigt worden, wie es wünschenswert wäre. Da diese aber vielfach noch in der Anfangsphase stehen, soll diese Kritik gleichzeitig auch als Anregung dienen.

Anmerkungen:
1 Deutlich wird dies vor allem an den Beiträgen, die sich der Darstellung von Forschungsinstitutionen und deren Arbeit widmen: Hartmut Schick, Forschungsprojekte zur Musikgeschichte Baden-Württembergs und Grundprobleme der Liededition am Beispiel Schubarts, S. 105-115; Stephan Hörner, Zur Situation der regionalen Musikgeschichtsschreibung in Bayern, S. 127-138.
2 siehe z.B.: Werner Buchholz, Nationalstaat und regionale Kulturbehauptung: Kulturpolitik in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 134 (1998), 185-189; Hans-Michael Körner, Landesgeschichte und Kulturpolitik. Eine Schlußbemerkung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 134 (1998) 341-343.

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