C. Gerlach (Hg.): Durchschnittstäter

Titel
Durchschnittstäter. Handeln und Motivation


Herausgeber
Gerlach, Christian
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 16
Erschienen
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 16,36
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Welzer, Psychologisches Institut, Universität Hannover

Um es gleich vorwegzunehmen: Der Titel des Bandes "Durchschnittstäter. Handeln und Motivation" verspricht deutlich mehr und anderes, als die in ihm versammelten Beiträge einzulösen vermögen. Denn dieser Titel suggeriert den potentiellen Lesern, sie würden hier z.B. Rekonstruktionen von Täterbiographien, von Handlungsvollzügen und von Selbstdeutungen vorfinden. Das ist aber in keinem der Beiträge der Fall. Es geht in ihnen nämlich wesentlich um die Beschreibung institutioneller Entwicklungsprozesse im NS (z.B. des Zollgrenzschutzes) und der Ausdifferenzierung von Suborganisationen mit Überwachungsfunktionen (z.B. des Streifendienstes der HJ), die bisher noch kaum Aufmerksamkeit in der Forschung zu Akteursgruppen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gefunden haben. Es wäre also sinnvoller gewesen, dem Leser "Studien zu Akteursgruppen" oder ähnliches zu versprechen, dann würden die zum Teil sehr lesenswerten Beiträge auch die richtigen Adressaten finden. Auch das Konzept des "Durchschnittstäters" ist alles andere als überzeugend: im Editorial werden "Durchschnittstäter" definiert als "Täter jenseits der sozialen und ideologischen Eliten der deutschen Gesellschaft in der NS-Zeit" (S. 9) - eine heillos weite Definition, die keinerlei Eingrenzung der für eine Täterforschung entscheidenden Fragen nach Handlungsorientierungen, -potentialen und -optionen erlaubt. Im Beitrag von Thomas Sandkühler werden "Durchschnittstäter" definiert als "Tätergruppen am unteren Ende der Hierarchie, die für die deutsche Gesellschaft jener Zeit repräsentativ waren" (S. 137), und es bleibt wohl dem Belieben des Lesers überlassen, was er sich darunter vorzustellen hat.

So weit, so unbedacht. Aber abgesehen vom verfehlten Thema bieten insbesondere die Beiträge von Armin Nolzen zum Streifendienst der Hitlerjugend, von Jens Nagel und Jörg Osterloh zu den Wachmannschaften in Lagern für sowjetische Kriegsgefangene sowie von Thomas Sandkühler zum Zollgrenzschutz solide und sehr lesenswerte Rekonstruktionen der institutionellen Entwicklungsprozesse und der sich verändernden Aufgabenzuweisung und -aneignung der entsprechenden Funktionseinheiten in der NS-Gesellschaft.

Bei den Beiträgen von Claudia Brunner zur Sozialpolitik des Münchener Wohlfahrtsamtes und von Rainer Fröbe zur Zentralbauleitung Auschwitz vermißt man hingegen die Herausarbeitung des NS-Spezifischen am Handeln der entsprechenden Akteure, die im übrigen in Ermangelung biographischer Materialien ohnehin blaß bleiben. Wenn Claudia Brunner etwa den 1881 geborenen Wohlfahrtsreferenten Friedrich Hilble ins Zentrum ihrer Analyse stellt, drängt sich unmittelbar die Frage auf, welche Bestandteile seiner Dienstauffassung und arbeitsethischen Orientierung auf seine Sozialisation im Kaiserreich zum einen und auf die Traditionen einer Wohlfahrtspflege zum anderen zurückgehen, zu deren Kernbestand der untrennbare Zusammenhang von Disziplinierung und sozialer Unterstützung ab ovo gehört.

Was an den von Hilble entwickelten Maßnahmen und abgegebenen Stellungnahmen jenseits der ab 1933 veränderten Diktion, in denen die "Volksgemeinschft" eine prominente Rolle zu spielen beginnt, spezifisch für einen Akteur im NS-Staat, einen "Durchschnittstäter" gar, sein soll, bleibt völlig unklar. Brunners Einschätzung, daß Hilble "zu jenen verbeamteten Überzeugungstätern gehörte, die im NS-Regime, ungeachtet seiner inhumanen Intentionen, mehr als nur ‚ihre Pflicht erfüllten'" (S. 61), scheint schon von daher unbelegt, als Hilble bereits 1937 gestorben ist und überhaupt den geringsten Teil seines Berufslebens unter dem "NS-Regime" gewirkt hat. Was in diesem Zusammenhang das Konzept der "Überzeugungstäterschaft" (S. 61) beinhalten soll, bleibt das Geheimnis der Autorin. Interessanter wäre es gewiß gewesen, die Kontinuitätslinien autoritärer und disziplinärer Wohlfahrtsstrategien zu rekonstruieren, die vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis eben in die NS-Zeit reichen und schließlich eine verhängnisvolle Verschwisterung mit rassistischen Konzepten eingehen. Brunners abschließende "Bewertung" (S. 67ff.), die mitteilt, daß in "autoritären Regimen [...] die negativen menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen aktiviert und gesellschaftsfähig" gemacht werden (S. 68), stellt eine Anthropologisierung dar, die weder etwas zur Erklärung von Täterhandeln beiträgt noch auf der Höhe des Forschungsstandes ist. Wenig erkenntnisträchtig, aber auf derselben Linie, sind Aussagen zur "Neigung des Menschen zu Anpassung, Bequemlichkeit und Routine" (S. 71) oder der durch nichts belegte und zu belegende Satz, daß "plötzliche Launen [...] normale unauffällige Menschen unvermutet zu Tätern werden" ließen (S. 70).

Ähnlich spekulative Allgemeinsätze finden sich auch in Rainer Fröbes Beitrag zum an sich interessanten Thema des Handelns der mehrheitlich zivilen Architekten und Ingenieure der Zentralbauleitung Auschwitz. Wenn hier von einer "Entwirklichung" der Opfergruppen in den Augen der Akteure, von deren "Wahrnehmungsverlust" und "Abstumpfung" die Rede ist (S. 192), dann ist das durch nichts belegt als durch Alltagstheorien, die dann mit allerhand gängigen Hinweisen auf "autoritäre Charakterstrukturen" (S. 193), Gewaltbereitschaft und Aggression (S. 196) aufgepeppt werden, ohne daß das Vorhandensein solcher Dispositionen am Material belegt würde. Stilblüten ("diese Vermutung ist strenggenommen hypothetisch"(S. 196)) hätten redaktionell vermieden werden können; überhaupt hätte man diesen Beitrag ohne Substanzverlust um zwei Drittel kürzen können.

Dem interessanten Beitrag von Armin Nolzen zum Streifendienst der Hitlerjugend, in dem etwa auf die Rolle der sexuellen Gewalt hingewiesen wird und ganz zu recht eine "komparative Sozialgeschichte der aktiven Gewaltausübung durch organisierte Individuen" eingefordert wird (S. 39), hätte es besser getan, wenn der Autor darauf verzichtet hätte, eine von ihm entwickelte Typologie von in der HJ praktizierten Gewaltformen als "Soziologie der HJ-Gewalt" zu bezeichnen. Denn von einer solchen könnte ja erst dann gesprochen werden, wenn Befunde über die soziale Herkunft der Akteure und über figurationsanalytisch zu erschließende Gewaltdynamiken beigebracht würden. Da sich Nolzen dieses Defizits irgendwie bewußt zu sein scheint, votiert er schließlich für eine "‚dichte Beschreibung' der Tat selbst" (S. 39), und das nun bringt mich abschließend zu einigen allgemeineren Bemerkungen zu dem Anliegen des Bandes.

Erstens scheint es seit den gleichermaßen problematischen Arbeiten von Sofsky und Goldhagen wohlfeil zu sein, immer dann das Label "dichte Beschreibung" zu verwenden, wenn unklar ist, vor welchem methodischen Hintergrund die zum Teil sehr weitreichenden Aussagen und vorgeblichen Befunde zustandegekommen sind. Die Methodologie von Clifford Geertz, die er im gleichnamigen Band auch am Material vorführt, zielt aber darauf ab, "den Bogen eines sozialen Diskurses nachzuzeichnen, ihn in einer nachvollziehbaren Form festzuhalten" (Geertz 1987, S. 28). In diesem Sinne betrachtet Geertz das, was man gewöhnlich als "Daten" bezeichnet, "als unsere Auslegungen davon [...], wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen" - womit man direkt bei der Aufgabe einer Täterforschung und ihrer Problematik wäre, daß man es mit immer schon interpretiertem Material zu tun hat, durch deren Deutungskomplexe man hindurch muß, um zu verstehen, wie die Dinge sich für die Handelnden dargestellt haben. "Dichte Beschreibung" ist mithin eine reflexive Methodologie, und wie man in bezug auf den Nationalsozialismus und den Holocaust die standortgebundene Wahrnehmung des Beobachters und Interpreten systematisch in die Analyse von Täter- oder Opferhandeln einbeziehen kann, zeigen etwa die neueren Arbeiten von Saul Friedländer oder James Young.

Sowenig solche Ansätze im vorliegenden Band in Anspruch genommen werden, so wenig wird auf Ansätze der Gewalt- und Machtsoziologie zurückgegriffen - die Autorinnen und Autoren verzichten allesamt darauf, sich bei dem eminent interdisziplinären Thema der Täterforschung anhand der Arbeiten von Hans Joas, Heinrich Popitz, Jan Philipp Reemstma, um nur einige zu nennen, zu informieren. Erstaunlich finde ich auch, daß gerade in der Auseinandersetzung mit den komplexen Handlungsprozessen, mit denen man es in der Täterforschung zu tun hat, nicht auf den figurationssoziologischen Ansatz von Norbert Elias zurückgegriffen wird, der es erlauben würde, Gewaltdynamiken als Prozesse sozialer Interaktion zu beschreiben.

Im vorliegenden Band wird ganz zu Recht regelmäßig auf Christopher Browning als Referenzautor verwiesen, aber warum werden denn eigentlich nicht die sozialpsychologischen Befunde, mit denen Browning arbeitet, aus erster Hand zur Prüfung dessen herangezogen, was sie zur Erklärung von Täterhandeln beitragen können? Exemplarisch würden mir da die Arbeiten von Stanley Milgram, die Sozialpsychologie der Intergruppenbeziehungen von Henry Taijfel oder die Ferienlagerexperimente von Muzafer Sherif einfallen. Da die Autorinnen und Autoren des Bandes, wenn ich recht sehe, ja mehrheitlich einer jungen Wissenschaftlergeneration angehören, würde ich bei dem Versuch, die "Täterforschung" voranzubringen, erstens mehr Courage beim Überschreiten disziplinärer Grenzen erwarten und zweitens mehr Phantasie im Entwickeln von Fragen an das so akribisch herauspräparierte Material.

Literaturhinweis:

Geertz, C. (1987). Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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