Titel
Millenium. Deutungen zum christlichen Mythos der Jahrtausendwende


Autor(en)
Bochinger, Christoph; Frey, Jörg; Hauschildt, Eberhard; Kaufmann, Thomas; Timm, Hermann
Erschienen
Anzahl Seiten
202 S. Abb. u. Fotos
Preis
DM 34,00
Matthias Pohlig, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universitaet zu Berlin

Botho Strauss äusserte vor einigen Monaten in einem Interview in der "ZEIT" seine Verwunderung darüber, daß die Theologie, die doch in ihrer gedanklichen Differenziertheit und begrifflichen Erfindungsgabe ein unerschöpfliches Reservoir alteuropäischer Intellektualität darstelle, in den wissenschaftlichen und vor allem gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart so gut wie nicht vorkomme. Angesichts dieses nicht ganz unzutreffenden Befundes kann es der Geschichtswissenschaft nur nützen, wenn sie gerade bei einem ihrer genuinen Themen - der Einteilung, Deutung und Wertung von Zeit - die Reflexionen der Theologie zur Kenntnis nimmt. Dies gilt für das hier zu besprechende Buch und sein Thema, die christliche Vorstellung vom tausendjährigen Friedensreich auf Erden vor dem Weltende, auch unabhängig von seinem Entstehungszusammenhang, der inzwischen glücklich überstandenen Milleniumshysterie. Fünf theologische Lehrstuhlinhaber an deutschen Universitäten haben sich hier zusammengefunden, um aus der Sicht unterschiedlicher Teildisziplinen (Neutestamentliche Wissenschaft, Kirchengeschichte, Praktische Theologie, Religionswissenschaft und Systematische Theologie) exemplarisch darzustellen, was die protestantische Theologie zum Thema "Millenium" zu sagen hat. Daß vier der fünf Professoren zwischen 38 und 42 Jahre alt sind (wer könnte auf Anhieb vier deutsche Geschichtsprofessoren dieses Alters nennen?), legt es nahe, gerade aus fachfremder Perspektive in diesem Buch eine beispielhafte Bestandsaufnahme dessen zu sehen, was die Theologie der jüngeren Generation leistet und wo die Möglichkeiten liegen, von ihr zu lernen.

Der Band beschäftigt sich erst in zweiter Linie mit dem Jahrtausendwechsel. Ausgangspunkt ist vielmehr die in der biblischen Offenbarung skizzierte Vorstellung eines tausendjährigen Reichs, in dem der wiedergekommene Christus mit seinen Heiligen auf der Erde regiert, bevor der letzte Kampf gegen den Antichrist sowie der Jüngste Tag folgen. Der in der abendländischen Geschichte folgenreiche und umstrittene Chiliasmus als Vision eines innerweltlichen Friedensreiches, zu dessen Herbeiführung die Menschen entscheidend beitragen können, wird aus Anlass des Jahrtausendwechsels neu befragt.

Zwei grundsätzliche Kritikpunkte sind voranzustellen. Erstens leuchtet nicht ein, warum die Vorstellung von einem tausendjährigen Friedensreich einen "christlichen Mythos der Jahrtausendwende" - so der Untertitel - begründen soll: Das Ende der Welt, das am Ende des tausendjährigen Reichs der Apokalpyse steht, als "Jahrtausendwende" zu bezeichnen, ist problematisch; ganz unnötig ist aber der hier unreflektiert benutzte, einer anderen als der christlichen Tradition entstammende und im Band an keiner Stelle explizierte Begriff des "Mythos".

Negativ fällt zweitens auf, daß in einem Band zum "Tausendjährigen Reich" die Verwendung dieses Begriffs durch die Nationalsozialisten nicht auftaucht. Eine Thematisierung des Zusammenhangs mit biblischen Deutungsmustern und religiösen Traditionen hätte instruktiv ausfallen können; vor allem in dem Beitrag von Christoph Bochinger wird die Frage der distanzierenden Transformation oder gar Säkularisierung des Konzepts angesprochen (aber leider nicht auf den nationalsozialistischen Missbrauch des Terminus bezogen): Inwieweit bleiben säkulare Verwendungen biblischer Vorstellungen diesen immer in bezug auf Metaphorik und geschichtlichen Horizont verhaftet?

Auf den Beitrag des praktischen Theologen Eberhard Hauschildt trifft wohl am besten zu, was der Klappentext "nachdenkenswerte Perspektivierungen" nennt und damit von "soliden Informationen" (!) sowie "kritischen Reflexionen" absetzt. Die Jahrtausendwende wird hier aus einer der Säkularisierung der Gesellschaft hinterherdenkenden kirchlichen Perspektive als Variante des bürgerlichen Geburtstags gedeutet, zu der die Kirche "ihren Besuch macht". Der Autor wünscht sich im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft "gemeinsame Bildungsanstrengungen, offene konstruktive Kritik, ausdifferenzierte Rollen" (152). Das sind berechtigte Wünsche, anhand derer aber auch deutlich wird, wie weit sich die Kirche von den immer auch apokalyptisch geprägten Traditionen des christlichen Abendlandes entfernt hat. Ob die Kirche als nur "heutige", ohne ausgeprägten Bezug auf Vergangenheit und als Ende gedachte Zukunft, spirituelle Bedürfnisse besser befriedigen kann als zum Beispiel ein Sportverein, sei dahingestellt.

Auch der Aufsatz des systematischen Theologen Hermann Timm interessiert sich mehr für das Jahr 2000 als für die apokalyptischen Traditionsstränge. Er skizziert die verschiedenen Wege katholischer und protestantischer Kirchen, mit dem "medial erzeugten Erwartungsdruck" (184) umzugehen: Während der Katholizismus das Jubeljahr mit dem Selbstbewusstsein einer institutionalisierten "Gnadenanstalt" (Max Weber) als Heilszeit vorführt, bestehen die Protestanten auf dem kategorialen Unterschied zwischen einer Geburtstagsfeier und der zukünftigen, jenseitigen Gnadenzeit. Die relativ vorhersehbaren Visionen, die Timm der protestantischen Kirche für das nächste Jahrtausend wünscht, zielen in Richtung auf eine Spiritualisierung der Kirchenfrömmigkeit, die aber gleichzeitig den Menschen auch in seiner Körperlichkeit ernstnimmt, und dies weltweit. Timms und Hauschildts Beiträge, die dem Historiker als Historiker nicht viel zu sagen haben, zeigen, daß der Band zumindest teilweise für ein stark kirchlich orientiertes Publikum konzipiert ist.

Dies gilt nicht für die drei restlichen Aufsätze. Wer eine kompetente Einführung sowohl in die Exegese als auch die Rezeptionsgeschichte derjenigen drei Verse der Offenbarung sucht, in denen die folgenreiche Vorstellung vom tausendjährigen Reich entworfen wird, lese Jörg Freys Aufsatz über "Herkunft, Sinn und Wirkung der Milleniumsvorstellung in Offenbarung 20,4-6". Frey verdeutlicht, daß das Tausendjährige Reich, in dem Christus mit den auferstandenen Märtyrern herrschen wird, sich nur gewaltsam mit der im Bibeltext nachfolgenden Vision vom Neuen Jerusalem in Übereinstimmung bringen läßt: Einen "Endzeitfahrplan" (32), den man dort immer wieder gesucht hat, bietet die Apokalypse nicht. Statt dessen dient die Passage vor allem der "eschatologischen Rehabilitation" (44) der Märtyrer. Ihnen wird die Herrschaft mit Christus noch auf dieser Erde, auf der sie gestorben sind, in Aussicht gestellt - nur diesem Interesse dient die Vorstellung von einem irdischen, tausendjährigen Reich Christi; "Spekulationen über ein 'goldenes Zeitalter' am Ende der Weltzeit" (49) werden vom Text nicht gedeckt. Gerade aber die knappe und systematisch kaum einzuordnende Vision dieser Passage wurde zum Prüfstein der exegetischen Haltung zur Apokalypse insgesamt: Das Lehrstück des Chiliasmus, das in der abendländischen Tradition vor allem durch die augustinische Deutung - das Tausendjährige Reich ist die Kirche, es hat also schon begonnen; wann es enden wird, ist unklar, da das Millenium nur symbolisch zu verstehen ist - domestiziert wurde, eignete sich immer wieder als systemoppositionelle Ideologie. Frey zeigt in seinem Schnelldurchlauf durch die Rezeptionsgeschichte aber erfreulich differenziert, daß chiliastische Vorstellungen sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit keineswegs auf sozialrevolutionäre Gruppen beschränkten; daß die einflussreiche Zeitalterlehre Joachims von Fiore und der Joachimitismus nicht direkt von Offb 20 abhängen, sondern hier vielfältige Traditionsvermischungen vorliegen; daß schliesslich die postmilleniaristische Deutungsvariante, die Christi Erscheinen erst nach dem tausendjährigen Reich erwartet und "letztlich mehr an den Joachimitismus als an die Apokalypse" (65) anknüpft, im amerikanischen christlichen Fundamentalismus der Gegenwart weiterlebt, sich dort aber zunehmend der säkularen Fortschrittsidee angenähert hat.

Thomas Kaufmann arbeitet in seiner quellennah gearbeiteten, instruktiven Studie zu konfessionskulturellen Deutungsalternativen der Zeit im 16. Jahrhundert die divergierenden katholischen und protestantischen Strategien des Umgangs mit überkommenen geschichtstheologischen Elementen heraus. Während katholischerseits ein nachtridentinischer Triumphalismus das starke Endzeitbewusstsein des Jahrhundertbeginns abschwächte - Kaufmann führt aber als Ausnahme ein sehr seltenes und interessantes Beispiel katholischer Apokalyptik vor -, wurden die Daten 1550, 1575, vor allem aber 1600 von lutherischen Predigern zum Anlass genommen, ein eigenes, apokalyptisch gefärbtes, antirömisches "Jubeljahr" mit der Erinnerung an die Ereignisse des Reformationsjahrhunderts zu initiieren. Die sehr intensive lutherische Apokalyptik mündete aber zu keinem Zeitpunkt in chiliastische Visionen: Gerade weil Luther Augustin darin gefolgt war, im tausendjährigen Reich ein Symbol für die Kirche zu sehen, konnten Lutheraner im späten 16. Jahrhundert kaum den Eindruck gewinnen, daß das Millenium bevorstehe, sondern viel eher, daß es bereits vorüber sei: Zusammen mit Anzeichen einer sozioökonomischen Krise konnte sich diese exegetische Entscheidung zu einem manifesten Endzeitbewusstsein auswachsen.

Christoph Bochinger beschreibt aus religionswissenschaftlicher Perspektive verschiedene inner- und ausserkirchliche Bewegungen der Gegenwart und ihren Umgang mit dem Milleniums-Thema. Auf etwas unklare Weise Gegenwartsdiagnose und historische Perspektivierung verbindend, skizziert der Autor drei verschiedene Richtungen: Die Amtskirche begeht den Jahrtausendwechsel wie ein Betriebsjubiläum, "niemand interessiert sich offenbar für die endzeitlichen Konnotationen" (156). Ist dies ein Zeichen für die vollends säkularisierte Gesellschaft, die selbst vor der Kirche nicht haltmacht? Oder ist das individuelle Geburtstagsfest, das selbst Institutionen feiern dürfen, selber nur denkbar als Erbe einer christlich geprägten, strukturell individualistischen Kultur? Leider werden diese Fragen nur gestellt, die Antwort fällt unentschieden aus. Während die Kirche also das tausendjährige Reich aus ihrer Bildwelt gestrichen zu haben scheint, finden sich bei einigen kryptochristlichen Sekten chiliastische Vorstellungen eines kommenden Friedensreiches. Allgemein aber gilt: "Es gibt [...] kaum einen Bezug zwischen der Rezeption von Offb 20, konkreter Enderwartung und Jahrtausendwende." (166f.) Drittens treten sich in der religiösen Kultur der Gegenwart unterschiedliche Versuche einer kirchenkritischen konnotierten Spiritualisierung des Zeitenwende-Konzepts auf: Von einer Verinnerlichung und Vergeistigung wird die Herbeiführung einer neuen Welt erwartet - von Joachim von Fiore über Swedenborg und Blake bis zu New Age. Sogar Odo Marquards Plädoyer für einen säkularen Polytheismus erscheint hier; dieser Traditionsstrang führt letztlich, so Bochinger, zu "säkulare(n) Ersatzformen des Religiösen", bei der es sich "nicht mehr um Religion und schon gar nicht um christliche Religion" (179) handele, die möglicherweise aber von einer respiritualisierten Kirche abgefangen werden könnten. Der Aufsatz bietet sehr viele interessante Perspektiven, bleibt aber in Thesen und Schlussfolgerungen zu unentschieden.

Zusammenfassend sei gesagt, daß der Band - vor allem in den Beiträgen von Frey und Kaufmann - zum einen lesenswerte und sehr vertraut anmutende Ansätze enthält, die durch das Interesse an kollektiven Deutungsmuster für kultur- und frömmigkeitsgeschichtlich orientierte Historiker anregend sind. Zum anderen gestattet der Band einen zwischen Vergnügen und Befremden changierenden ethnologischen Blick in die deutsche Universitätstheologie. Ob der von Theologen traditionellerweise zurückgewiesene Eindruck, daß man es mit zwei vollkommen unterschiedlichen, letztlich unvereinbaren Strängen der Theologie zu tun hat - einem systematisch-historischen und einem eher praktisch-ergebnisorientierten -, nur der fachfremden Perspektive entspringt, bleibt eine offene Frage.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension