T. van Rahden: Juden und andere Breslauer

Titel
Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925


Autor(en)
van Rahden, Till
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 139
Erschienen
Göttingen 2000: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
382 S.47 Tab.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Mikuteit, Hübinger Europa-Universität

In seiner Studie "Juden und andere Breslauer", die als Bielefelder Dissertation bei Hans-Ulrich Wehler entstanden ist, untersucht Till van Rahden "die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925". Auf breiter Quellengrundlage und neuestem Forschungsstand stellt van Rahden in fünf Hauptkapiteln jeweils einen der folgenden Aspekte in den Mittelpunkt seiner Arbeit: "Sozialstruktur von Juden, Protestanten und Katholiken von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg", "Juden im allgemeinen und im jüdischen Vereinswesen Breslaus", jüdisch-christliche Mischehen, das Breslauer Schulwesen und schließlich die lokalen politischen Verhältnisse.

Auf fast dreihundert Seiten stellt van Rahden die beeindruckenden Ergebnisse seiner umfangreichen, mühsam-akribischen Forschungsarbeit dar, die er in gut lesbarer Sprache trotz mancher Redundanzen und Längen präsentiert. Eindrucksvoll beweist er, welchen vielfältigen Gewinn eine mikrohistorische Studie von dieser Qualität erbringen kann, ohne sich notwendig in Details verlieren und die Makrohistorie vernachlässigen zu müssen. Seine Entscheidung, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen am Beispiel des bislang wenig erforschten Breslau zu ergründen, erhöht noch den Wert der vorgelegten Arbeit. In jeweils unterschiedlicher Ausführlichkeit untersucht der Autor zahlreiche Aspekte der städtischen Sozial- und Kulturgeschichte mit Hilfe des erprobten Methodeninstrumentariums. Dabei gelangt er zu oftmals ebenso neuen wie überraschenden Ergebnissen und beweist wiederholt einen sicheren Blick für aufschlußreiche Details. Die Übertragbarkeit seiner Ergebnisse auf die Verhältnisse in anderen Städten muß späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Anhand von fast fünfzig Tabellen im Text veranschaulicht der Autor seine differenzierten Untersuchungsergebnisse zum Teil auch visuell und schließt jedes Hauptkapitel mit einer knappen Zusammenfassung der jeweils wichtigsten Ergebnisse ab.

Dabei handelt es sich weniger um die Zwischenergebnisse einer von Kapitel zu Kapitel fortschreitenden Untersuchung. Vielmehr stellen die einzelnen Hauptkapitel jeweils in sich abgeschlossene Untersuchungseinheiten dar, die sich zwischen Einleitung und Epilog auch in anderer Folge hätten anordnen lassen. Es überwiegt insgesamt der sozialhistorische Untersuchungsanteil, der mit der kulturhistorischen Perspektive vom Autor nicht durchgängig in überzeugender Weise verbunden wird. Methodisch dominiert weniger das vom Autor postulierte "multikulturalistische Paradigma" (S. 17) als vielmehr das der sozialhistorischen Geschichtsschreibung in der Tradition der Bielefelder Schule. Die kulturhistorische Öffnung dieses Ansatzes, die in der vorliegenden Arbeit versucht wird, reflektiert van Rahden methodisch nicht explizit. Es ist aber auffällig, daß beispielsweise die Konzepte und Begriffe Pierre Bourdieus keine Anwendung finden.

In seiner Einleitung verklammert der Autor die einzelnen Kapitel unter dem leitenden Gesichtspunkt der jüdischen Integration in die städtische Gesellschaft Breslaus vorrangig politisch-ideologisch. Er deklariert seine Arbeit explizit als Beispiel für eine "Geschichtsschreibung im Zeichen des Multikulturalismus" (S. 16). Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Kontroversen will van Rahden ausdrücklich historische Orientierung bieten, um "den Wandel des deutschen Selbstverständnisses, von einer homogenen, womöglich sogar völkisch begründeten Nation zu einer multikulturellen Gesellschaft" und "liberalen Staatsbürgernation" zu unterstützen (S. 16). Ausdrücklich verwirft er die Prämisse, "daß nämlich die moderne Gesellschaft dem Fernziel eines homogenen Nationalstaats zustrebe" (S. 14). Seine Studie basiert vielmehr "auf der Annahme, daß ethnische und religiöse Differenzen nicht aufhebbar sind, kulturelle Pluralität nicht nur wünschenswert, sondern unvermeidbar ist" (S. 14). Im Anschluß an den multikulturalistischen Liberalismus hält van Rahden den Universalismus des traditionellen Menschen- und Bürgerrechtekatalogs für erweiterbar "um ein individualistisch begründetes Recht auf Anderssein" (S. 15). Dadurch sieht er aber keinen "neuen Frühling der Völker und ethnischen Gruppen" (S. 17) heraufziehen. Vielmehr schließt der Begriff des Multikulturalismus, so van Rahden, "den Konflikt gerade mit ein, weil er eine Gesellschaft bezeichnet, in der eine Pluralität von ethnischen und religiösen Gruppen die Bedingungen ihres Zusammenlebens ständig neu verhandelt und in der das Individuum eine Vielzahl von partikularen und situativen Identitäten ausbalancieren muß. Die multikulturelle Gesellschaft beendet Konflikte nicht, sondern hegt sie ein und entschärft sie, institutionell durch den auf den Menschen- und Bürgerrechten beruhenden Rechtsstaat, ideell durch die wechselseitige Anerkennung von Differenz." (S. 17).

Paradigmatisch will van Rahden dies an der Geschichte der Breslauer Juden zwischen der Mitte der sechziger Jahre des 19. und der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in ihrer Beziehung zu Protestanten und Katholiken aufzeigen. Die Zeit des Ersten Weltkriegs und die Nachkriegszeit behandelt er nur kursorisch im Epilog. Warum er den Untersuchungszeitraum 1925 vor Beginn der Weltwirtschaftskrise mit ihren einschneidenden Folgen enden läßt und die Jahre zwischen 1925 und 1933 kaum mehr am Rande streift, bleibt ohne Erklärung. Indem aber die späteren Jahre des angegebenen Untersuchungszeitraums kaum beleuchtet werden, ohne daß van Rahden die sich dramatisch verschlechternden Beziehungen zwischen Juden und "anderen Breslauern" während des Ersten Weltkriegs und danach verschweigt, gerät seine Studie in eine bedenkliche Schieflage. Da die Jahre bis 1914 weitaus eingehender untersucht und die Ergebnisse mit einer idealisierenden Tendenz präsentiert werden, entsteht in Hinblick auf die ethnische und religiöse Vielfalt und Differenz - van Rahdens zentralen Untersuchungskategorien - der Eindruck einer historischen Idealsituation der "Vielheit in der Einheit der Stadt" (S. 28), die nur partiell durch Diskriminierung und Exklusion beschränkt gewesen zu sein scheint.

Vor dem Hintergrund des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das auch auf kommunaler Ebene galt, führt van Rahden die spezifischen Voraussetzungen für das vergleichsweise hohe Ausmaß der jüdischen Integration in Breslau an: "ein hoher jüdischer Bevölkerungsanteil, ein seit den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts etabliertes jüdisches Bürgertum, selbstbewußt auftretende jüdische Gemeindeorgane und einzelne Vertreter jüdischer Interessen, eine stabile linksliberale Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung sowie schließlich eine nichtjüdische Bevölkerung, die zumindest in Teilen bereit war, spezifisch jüdische Forderungen als legitimen Ausdruck jüdischer Partikulariät anzuerkennen" (S. 27 f.). Auch in einigen anderen deutschen Großstädten, wie Berlin, Frankfurt oder Königsberg, mag es fern der teilweise stark antisemitisch geprägten Zentren der Macht "am Hof, in der Regierung, den Spitzen der Bürokratie und selbst im Reichstag" (S. 26) städtische Räume gegeben haben, in denen mit ähnlichen "Modellen der Anerkennung von Differenz" (S. 27) zumindest teilweise erfolgreich experimentiert wurde. Es erscheint aber auf der Suche des Autors nach Frühformen eines modellhaft praktizierten multikulturellen Liberalismus in der deutschen Geschichte fragwürdig, inwieweit das Breslau der Vorkriegszeit als Projektionsraum für heutige politisch-ideologische Entwürfe tatsächlich dienen kann. Das gilt nicht allein, wenn man die bedrückend hohen Breslauer Wahlerfolge der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren berücksichtigt. Die noch während des Ersten Weltkriegs in Breslau stark zunehmende judenfeindliche Stimmung läßt es nicht minder zweifelhaft erscheinen, ob dort vor 1914 in breiten Schichten der Bevölkerung der Antisemitismus "allenfalls ein kultureller Code" (S. 326) war. Gleich zu Beginn seiner Einleitung erklärt van Rahden überdies, daß er der "Frage nach der Kontinuität der Beziehungen zwischen Juden und anderen Deutschen im Kaiserreich und dem nationalsozialistischen Antisemitismus" (S. 13) nicht ausweichen wolle. Anhand der Geschichte von Juden und anderen Breslauern vor 1914 schließt er "eine direkte oder verschlungene Kontinuitätslinie, die vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus und zum Holocaust führt" (S. 329) aus. Da er aber die hierfür entscheidende Zwischenphase der Weimarer Republik nur streift, kann der Leser die Richtigkeit dieser Behauptung nicht nachprüfen.

Auch wenn van Rahden den überzeugenden Nachweis führt, daß vor dem Ersten Weltkrieg "die Definition von 'bürgerlicher Kultur' und 'Bürgerlichkeit' [...] in der Odermetropole nicht das Monopol der protestantischen Mehrheitskultur, sondern der Gegenstand von Verhandlungen [war, J. M.], an denen sich das jüdische Bürgertum selbstbewußt und erfolgreich beteiligte" (S. 328) und "in den Auseinandersetzungen über das Ausmaß und die Grenzen ihrer Integration" (S. 328) die Breslauer Juden "eine aktive Rolle" (S. 328) spielten, bleibt doch die starke Dominanz der Mehrheit der nichtjüdischen Breslauer, mithin die strukturell ungleiche Verhandlungsposition der verschiedenen Gruppen unverkennbar bestehen. Wie van Rahden in seiner Schlußbetrachtung überzeugend herausstreicht, konnte sich nicht einmal die "Mehrheit der christlichen Breslauer Linksliberalen" (S. 328) dem von ihm favorisierten Modell des "kulturellen Pluralismus" anschließen, ohne deshalb aber notwendig einen Antisemitismus zu vertreten. Das gilt sicherlich noch in wesentlich höherem Maße für die Mehrheit der christlichen Breslauer insgesamt, die, laut Ausweis der Wahlergebnisse, zu einem beträchtlichen Teil keine geringeren Schwierigkeiten damit hatten, Formen des politischen Pluralismus zu akzeptieren. Da der Autor aus verständlichen Gründen nicht exakt beziffern kann, wieviele Juden in Deutschland glaubten, daß in dem von ihm postulierten Sinne "Vielheit und Einheit, Universalität und Differenz, vereinbar seien" (S. 328), müssen van Rahdens einschlägige Behauptungen notwendig vage und hypothetisch bleiben. Bezogen selbst nur auf die relativ kleine jüdische Bevölkerungsgruppe Breslaus, kann van Rahden jedenfalls nicht überzeugend widerlegen, daß deren Angehörige sich ganz überwiegend möglicherweise als Angehörige einer Minderheit betrachteten und einen "kulturellen Pluralismus" in dem von ihm behaupteten Sinne gar nicht erstrebten. Das schließt trotz der weitreichenden Anpassungsbereitschaft an die dominierende Mehrheitskultur nicht aus, daß die Angehörigen der jüdischen Bevölkerungsgruppe, wie vom Autor nachgewiesen, aktiv und selbstbewußt für ihre Rechte und Interessen stritten.

Da van Rahden entschieden das "Paradigma nationaler Homogenität" (S. 17) ablehnt, hält er auch die "in der deutsch-jüdischen Geschichte gebräuchlichen Kategorien Integration, Subkultur oder Milieu und schließlich Assimilation oder Akkulturation" (S. 17) für seine Forschung jenseits der Scylla des Antisemitismus und der Charybdis der deutsch-jüdischen Symbiose für weitgehend untauglich. Warum aber die von ihm ersatzweise vorgeschlagenen und in seiner Studie angewandten Begriffe der "Integration" (in einem übergeordneten, politisch neutralen Sinn) und "Inklusion" einerseits, der "sozialen Schließung" und "Exklusion" andererseits besser zur Beschreibung der zu untersuchenden Gegenstände geeignet sein sollen, kann der Autor nicht überzeugend begründen. Die von ihm eingeführte Begrifflichkeit wirkt artifiziell und kann ohne Verlust an Differenzierungsvermögen fallengelassen oder durch bereits existierende Begriffe ersetzt werden: Wozu der Begriff der "Inklusion", wenn sich durchgängig nach "Integrationsprozessen" in den gesellschaftlichen Teilbereichen und auf den verschiedenen sozialen Ebenen fragen läßt? Warum "soziale Schließung" für die Bezeichnung einer Ausschließung aufgrund von individuellen Kriterien, hingegen "Exklusion" für eine Ausschließung aufgrund von kollektiven Kriterien?

Weitaus anregender ist das vom Autor seiner Studie zugrunde gelegte "Konzept der situativen Ethnizität". Ausgehend von der Prämisse des konstruierten Charakters von Ethnizität als "gedachter Ordnung" betont van Rahden, daß speziell der Konstruktion von Grenzen für jede Ethnizität eine besondere Bedeutung zukomme. Diese ethnische Grenze muß "nicht notwendig rigide ausgebildet sein, sondern ist oft schwach entwickelt. Häufig strukturiert Ethnizität gerade den die Gruppengrenze überschreitenden Sozialkontakt. Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft schließt demnach die Loyalität gegenüber anderen Sozialformationen und Gruppen wie der Klasse, dem Geschlecht, der Konfession, der Berufsgruppe oder der Nation nicht aus." (S. 20). Ethnizität sei stark an die konkrete soziale Situation gebunden. Die Identität der Breslauer Juden als Juden, so van Rahden, sei nicht allumfassend exklusiv gewesen, "sondern situativ und Teil einer Pluralität von Identitäten" (S. 328). Ihre Identitätsbildung sowie die Formen ihrer Vergemeinschaftung seien vor allem gekennzeichnet gewesen von einem "Nebeneinander von Geschlossenheit und Offenheit" (S. 328). Hier bestehen interessante Anknüpfungspunkte zu Georg Simmels "Exkurs über den Fremden", in dem der deutsch-jüdische Philosoph verallgemeinernd auf das komplizierte Mischungsverhältnis von "Nähe" und "Entferntheit" eingeht.

Der folgenden Forschung zu diesem Thema wird es vorbehalten bleiben, diese Anregungen in neuen Studien aufzugreifen. Es bleibt zu hoffen, daß die dabei erzielten Forschungsleistungen das Niveau der Arbeit Till van Rahdens erreichen, der dafür 1999 zu Recht mit dem "Fraenkel Prize in Contemporary History" ausgezeichnet wurde.

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