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Titel
From Babel to Dragomans. Interpreting the Middle East


Autor(en)
Lewis, Bernard
Erschienen
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
$28.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang G. Schwanitz, Deutsches Orient-Institut Hamburg

Die jüngste Wut der schiitischen Muslime ist verständlich. Sie wurzelt, sagt Bernard Lewis in seiner Aufsatzsammlung weiter, in der Geschichte von Islam und Regierung. Als Mohammed seine Botschaft verkündete, stieß er auf Widerstand in Mekka, so dass er 622 nach Medina auswanderte. Da begann nicht nur die Hidjra-Ära, sondern der Künder baute Regierung und Staat auf. Der Rebell ward zum Staatsmann. Als er zehn Jahre später verstarb, war seine Nachfolge offen. Einen neuen Propheten durfte es ja nicht mehr geben, sah Mohammed sich doch als das Siegel der Propheten an. Seine Vertrauten riefen Abu Bakr zum Kalif aus. Dieses Wort, meint Lewis, heiße sowohl Nachfolger als auch Stellvertreter.

Da brach der Streit los, denn nicht alle liebten Abu Bakr. Nur ein Verwandter Mohammeds wie Ali dürfe rechtmäßiger Kalif sein. Denn dieser war der Mann Fatimas, also der Tochter des Propheten und Vater von dessen Enkel. Das islamische Reich wurde größer wie auch die Schar jener, die nur Ali anerkannten. Als Uthman, der dritte Kalif, ermordet wurde und der Nachfolger Ali bald dem selben Schicksal erlag, war der Zwist innerhalb des Islam offenkundig: Sunniten glauben an die Rechtmäßigkeit der ersten Kalifen sowie an die Tradition der Worte und Taten des Propheten; Schiiten hingegen halten zur Partei Alis und seiner Verwandten. Insgesamt und wieder mit Blick auf Mohammed folgt die sunnitische Tradition ihm stärker als Staatsführer in Medina, die schiitische mehr als Rebell in Mekka.

In dieser Art erhellt Lewis zwei Linien im Islam, Anpassung und Opposition. Von Iran abgesehen, so der Princetoner Altmeister, gab es allein ein Land, wo eine schiitische Mehrheit einer sunnitischen Minderheit unterlag: Irak. Dies war seit dem Mittealter so. Aber es gab auch nur ein Land, wo die Schiiten zur selben Zeit eine Dynastie etablieren konnten: im Iran. Die dortigen extremistischen Saffawiden wurden von den sunnitischen Mehrheiten der Nachbarländer zurückgedrängt. Aber sie verzweigten sich. Eine ihrer Sekten waren die Assassinen Irans mit Einfluss in Syrien. Der Mord am Kalifen Uthman war ihr Idol. Sie verfielen fortan darauf, ihnen unliebsame Führer zu töten und weitere zu terrorisieren.

Es sei für die Schiiten typisch, behauptet Lewis, viele rivalisierende Gruppen hervor zu bringen. Einig waren diese sich immer, die sunnitischen Kalifen abzulehnen. Aber sie gerieten sich stets in die Haare, wer der rechtmäßige Nachfolger sei. Ihr jeweiliger Imam erlangt einen spirituellen Einfluss auf seine Anhänger in einem System mit persönlichen Hierarchien. Was Wunder, die schiitische Geschichte ist voller Märtyrer. Gleichwohl sind ihr das Geheimnisvolle und das Motiv der Wiederkehr eigen. Die Mehrheit der Schiiten zählt zu Zwölfer-Schiiten. Sie meinen, der zwölfte Imam halte sich verborgen und kehre zur Endzeit als Erlöser wieder zurück, als ein Mahdi. Schiitische Zweige gibt es überall. Zu ihnen zählen die Drusen, Ismailiten und Alawiten, etwa in Syrien, Irak, Jemen und im Libanon.

Unsinn ist es, erläutert Lewis, den Zwist von Sunniten und Schiiten mit christlichen Schismen zu vergleichen. Denn gar so tief gehe der Graben nun auch wieder nicht. Beide islamische Gemeinschaften trennt mehr ihre psychologische und emotionelle Erfahrung. Obgleich es Pragmatiker und Radikale beiderseits gibt, zeigen sich diese sehr klar in Iran. Die einen begnügen sich mit einem schiitischen Iran in ihrem Land, die anderen wollen eine globale islamische Revolution auslösen.

Diese Skizze der schiitischen Richtung schrieb der Gelehrte vor zwei Jahrzehnten. Doch ist sie für Irak und Iran wieder brandaktuell. Wer wissen will, warum bei Schiiten ein rebellischer Hang so tief sitzt, greife zu diesem Band mit 51 exzellenten Beiträgen. Meist als Aufsätze verstreut ediert, bergen sie Themen zur Geschichte und Gegenwart von Nah- und Mittelost. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Teil eins betrifft ältere Geschichte, Teil zwei erhellt die Zeitgeschichte und Teil drei birgt Betrachtungen zur Wissenschaftsgeschichte.

Der dritte Teil beinhaltet Beiträge zum Umgang mit der Geschichtsschreibung im Westen, zur orientalischen Geschichtsschreibung in der ersten Person, zur islamischen Historiografie, zu den osmanischen Archiven als Quelle für die europäische Geschichte, zum Zusammenhang zwischen Geschichtsschreibung in der Türkei und dem nationalen Wiedererwachen sowie einen unveröffentlichten Beitrag über den Okzidentalismus und Orientalismus.

Dieser Aufsatz ist besonders aufschlussreich. Lewis stellt dar, wie verschieden sich die gegenseitigen Wahrnehmungen in den beiden großen Zivilisationen entwickelt haben. Muslime empfanden sich selbst als Hochkultur und zeigten wenig Neigung, die barbarischen Länder an ihren Randzonen zu erforschen. Aber unter ihren Gelehrten gab es Ausnahmen wie Hajji Khalifa, der 1655 dazu aufrief, Wissen über Europa zu erwerben. Er fand, wie Lewis durch die Jahrhunderte aufzeigt, kein Echo und kaum Nachahmer. In Europa war es genau umgekehrt. In Cambridge hatte man 1633, in Oxford drei Jahre später erste Lehrstühle für Arabisch etabliert.

Diese Bewegung breitete sich rasch von Leiden über Paris nach Leipzig aus. Orientalisten trugen sie. Von Okzidentalisten, so könnte man ergänzen, also islamischen Gelehrten im Orient, die den Westen ähnlich wissenschaftlich erforschen, konnte freilich bis ins späte 19. Jahrhundert keine Rede sein. Erst im frühen vorigen Jahrhundert setzten solcherlei Bestrebungen ein, die vorläufig in Hasan Hanafis „Muqaddima fi Ilm al-Istighrab“ oder „Einführung in die Okzidentalistik“ kulminierten. Dieser ägyptische Philosoph rief darin dazu auf, überall in der islamischen Welt Lehrstühle zur Erforschung des Westens zu gründen.

Aber all dies geschah in einem belasteten, oft auch vergifteten Klima. Wie Bernard Lewis aufzeigt, sind die Orientalisten beschuldigt worden, vorsätzlich die Geschichte, Kultur und Literatur ihrer Gegenstände in einer Art Konspiration verdreht zu haben. Ebenso wie orientalische Länder kolonisiert und dekolonisiert worden sind, so müsse es nunmehr eine Dekolonialisierung der Geschichtsschreibung geben, spitzt Bernard Lewis solche Anwürfe zu (S. 438): „The assumption is that the past is another territory which has been conquered, subjugated, settled and exploited by imperialist foreigners and the time has come to liberate the past by assault, by an intellectual liberation struggle. The struggle is on at the moment. It is in the guerilla or, as some people would put it, the terrorist phase.“

Prima gelingt es dem Historiker, aus Sprachen des Islams gut verständlich das Geschehen herzuleiten. So benutzt er das Bild von Babylons Stimmengewirr, um die Hauptrolle von Übersetzern zu zeigen. Ursprünglich kam das Wort „Übersetzer“ aus dem Aramäischen und ging in die Mundarten ein: bei den Hebräern meturgeman, bei den Briten drogman oder dragoman und bei den Franzosen truchement. Die Deutschen benannten im Kaiserreich eine konsularische Laufbahn danach, also das Dragomanat. Das betraf rechtskundige Experten orientalischer Sprachen. Dragomane übersetzten und dolmetschten. Im Ausland zählten sie selten zu den Diplomaten, oft nur als Anwärter dafür. Nach dem Ersten Weltkrieg ist das Dragomanat zwar aufgelöst worden, doch das Ideal des regional in Sprachen und Kulturen ausgebildeten Diplomaten hat sich auf alle Gebiete ausgeweitet.

So beeindruckend wie die Beiträge ihr Autor. Zu Recht nennt ihn der Verleger einen „Nationalschatz“, wobei die Briten und Amerikaner gleichermaßen um Lewis streiten dürfen. Zwar wurde er Ende Mai 1916 in London geboren und dort mit 33 Professor, doch ging er als Mittfünfziger nach Princeton. Späterhin ein Amerikaner, schrieb er zwei Dutzend Bücher, heute in gleich viele Sprachen übersetzt. Zwei sind weltweite Bestseller, ihre Auflage ist sechsstellig.

Wie fesselt der Nahost- und Islam-Historiker die LeserInnen? Es ist die Fairness, möglichst unvoreingenommen zuerst historische Sachverhalte aus den betreffenden Sprachen herzuleiten, um sie dann für die Gegenwart anschaulich dartun zu können. Er vermeide, notiert Lewis einleitend in seiner knappen autobiografischen Skizze, eine willkürliche Fakten- und Wortwahl. Ja, recht wenig Ideologie ist ihm eigen. Dies führt dazu, dass in seiner langen Karriere weit verstreut Publiziertes, wie sein Beitrag zu den Schiiten, heute so gediegen wie alter Wein erscheint.

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