Cover
Titel
Maurice Halbwachs. Un intellectuel en guerres mondiales 1914-1945


Autor(en)
Becker, Annette
Erschienen
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Egger, Forschungsstelle für Informationstechnische Bildung, Konstanz

Annette Becker, Professorin an der Universität Paris-X Nanterre und Co-Direktorin des Centre de recherche de l'Historial de la Grande Guerre, hat ein materialreiches, in mancher Hinsicht interessantes und anregendes Buch über Maurice Halbwachs geschrieben. Die Frage ist nur: Für wen? Als Historiker hat man den zeitgenössischen Hintergrund schon in größeren Zusammenhängen dargestellt bekommen,1 der Soziologe erfährt über die Arbeit des Soziologen Halbwachs nur beiläufig etwas, und von einer auch nur annähernd schlüssigen Darstellung des Werks kann und soll wohl ebenfalls nicht die Rede sein.2 Wer allerdings "Biografisches" über Halbwachs erfahren möchte, findet hier zwar nichts grundlegend Neues, aber doch mehr, als bisher bekannt war: Becker hat den beim Institut Mémoires de l'Edition Contemporaine in Paris aufbewahrten Nachlass gründlich durchgesehen und den umfangreichen Briefwechsel zwischen Halbwachs und seiner Frau ausgewertet. Aus diesen und anderen Quellen entsteht ein dichteres, lebendigeres Bild des Menschen und Gelehrten.

Das wäre nun kaum ausreichend für ein ganzes Buch gewesen, und vor allem hätte dafür ein Anlass gefehlt, wenn die Autorin mit ihrer Arbeit nicht noch weitergehende Ambitionen verbinden würde. Die Frage, warum gerade Halbwachs ins Blickfeld einer solchen Geschichte rückt, wird hier als eine am Erfinder des "kollektiven Gedächtnisses" selbst durchexerzierte Rekonstruktion des Erinnerns und Vergessens in und nach den Weltkriegen entworfen, womit Becker gleichzeitig der Entstehung dieses neuen "Paradigmas" in den "Kulturwissenschaften" auf die Spur kommen möchte. Mit Halbwachs, seinen politischen, familiären und universitären Beziehungen soll ein Bild des Intellektuellen im Krieg, in einer "Kriegskultur" hervortreten, das dabei auch entscheidende Momente der Genese des "kollektiven Gedächtnisses" freilegen will – große Fragen also, deren Beantwortung am Ende sehr viel weniger eindrücklich ausfällt als das zumindest in Umrissen dabei entstandene "intellektuelle Porträt".

Beckers Erzählung beginnt 1914, ein im Hinblick auf den hier als "Vater aller Dinge" ausgemachten Krieg vielleicht schlüssiger, für die Ausbildung der politischen und intellektuellen Haltungen des damals bald 40-jährigen Halbwachs aber zweifelhafter Schnitt: Die entscheidend prägenden Erfahrungen lagen schon lange zurück, die politischen hatten vor der Jahrhundertwende mit der Dreyfus-Affäre und dem "socialisme normalien" Gestalt angenommen, die intellektuellen waren zunächst von Bergson bestimmt, dann aber von Durkheim und seiner "Schule". Insofern erfahren wir hier auch nichts Neues: Halbwachs, der Sozialist, der linke, republikanische, "defensive" Patriot, begriff den Krieg als einen Feldzug gegen den preußischen Militarismus und seine feudalen Eliten, ohne sich dabei seine Bewunderung für die deutsche Geisteskultur nehmen zu lassen – die damals aufgemachte Rechnung eines Krieges der Zivilisation gegen die Barbarei hielt er für falsch. Aufgrund seiner Kurzsichtigkeit vom Kriegsdienst zurückgestellt, kam Halbwachs schließlich ins Ministerium für Rüstung und Kriegswirtschaft, wo er sich um die Beschaffung kriegswichtiger Güter kümmerte. Aber auch das war schon bekannt.3

Wir sollen allerdings wohl nur vorbereitet werden auf eine "ungeheuer verblüffende Paradoxie" (S. 151): die "Verdrängung" des Krieges aus Halbwachs’ soziologischem Denken, obwohl doch gerade die 1920er-Jahre eine "Zeit der Konstruktion kollektiver und individueller Gedächtnisse" des zurückliegenden Krieges gewesen sind. Weshalb, so die einigermaßen suggestive Frage, finden sich bei Halbwachs, dessen Reflexionen über die "Rahmen" des Gedächtnisses um 1920 einsetzen, keine Anspielungen auf den Krieg? Die Antwort ist schnell gefunden: Wenn schon die Erfahrung der Frontkämpfer damals oft unvermittelbar war, wie dann erst die eines Mannes, der nicht im Feuer gestanden hatte? Becker meint hier ein "Trauma" zu entdecken, das die Trennung zwischen persönlicher Erfahrung und Anteilnahme und dem wissenschaftlichen Werk erklären soll, eine unbewusste oder "pseudo-unbewusste" Verdrängung, die, selbst wenn damit keine "wilde Psychoanalyse" beabsichtigt sei (S. 161, Anm. 17), nun den Antrieb für eine "Soziologie des Gedächtnisses" gleichsam im Umkehrschluss erklären könne. Die Vorstellung, dass sich wissenschaftliche Fragestellungen aus dem "Kontext" der zeitgenössischen Diskussionen innerhalb der Fächer und zwischen ihnen entwickeln, ist für eine Historikerin der "Kriegskulturen" vielleicht zu abwegig. Denn die Auseinandersetzungen des Durkheimianers mit der damaligen Geschichte und Psychologie, die nach dem Krieg in Straßburg in einem außerordentlich fruchtbaren intellektuellen Klima stattfanden, im Kreise der "Annales" um Lucien Febvre und Marc Bloch, mit Blondel und Le Bras, dies alles ist Becker kaum der Erwähnung wert. Und so gehorchen für die Autorin auch die Auseinandersetzungen über das "Gedächtnis" insbesondere mit dem Psychologen Charles Blondel jenem "unbewussten" Gegensatz zwischen dem Frontkämpfer und dem Daheimgebliebenen, einem Gegensatz, der hier wiederum, ohne "alles" zu erklären, "sehr wohl" eine "intellektuelle Bruchlinie" beschreiben soll (S. 223)4 – "wilder" lässt sich eine Psychoanalyse wissenschaftlicher Fragestellungen kaum denken.

Und so geht es weiter durch die 1930er-Jahre, nun mit einem etwas anderen biografischen Akzent. Entscheidend sind hier familiäre Beziehungen, namentlich die Ehe mit der Jüdin Yvonne Basch. Der in der Tat "ungläubige" Halbwachs, dessen Interesse für die Religion angeblich erst mit den "Cadres sociaux de la mémoire" entsteht,5 nimmt, unbelastet von jeder theologischen Dogmatik, mit der "Topographie légendaire" zwar wirklich die historische Bibelbewegung um mehr als 20 Jahre vorweg. Dass mit dem Nachweis der anfänglichen Prägung des christlichen Gedächtnisses durch jüdische Überlieferungen aber eine "deutliche Umkehrung" seiner in den "Cadres sociaux" vorgetragenen Ansichten stattgefunden habe (S. 277), gehört selbst ins Reich der Legende. Und auch die Wiederholung des "Befundes" von Gérard Namer, dass Halbwachs angesichts der faschistischen Bedrohung das Gedächtnis nicht mehr als "Rekonstruktion der Vergangenheit", sondern als "Rekonstitution der Gegenwart unter dem Einfluss der Vergangenheit" habe verstanden wissen wollen (S. 291ff.), folgt einer biografischen Illusion, die durch keinerlei Evidenzen gedeckt ist.6

Richtig bleibt allerdings, dass es seit Mitte der 1930er-Jahre, spätestens aber mit der Niederlage Frankreichs für Halbwachs nicht mehr möglich sein konnte, Privatleben, politisches Engagement und intellektuelle Leidenschaft voneinander zu trennen. Hier nun endlich wird das Buch, ohne dass man darüber enttäuscht sein müsste, vollends "Biografie"; es erzählt von einem hellsichtigen und mutigen Menschen, der im Angesicht der Katastrophe unabhängig denkt und handelt. Denn tatsächlich hat Halbwachs nie die oft unentschlossene Haltung der französischen intellektuellen Eliten gegenüber dem Nationalsozialismus geteilt – und auch nicht ihre Blindheit gegenüber dem, was in der jungen Sowjetunion vor sich ging. Halbwachs erwies sich gegenüber dem Nazismus als völlig resistent: Sein letztes "Cahier", entstanden zwischen den Sommern 1943 und 1944, enthält immer wieder Einträge über das tägliche Leben unter der Besatzung, seine Kontakte zum Widerstand, über Repressalien, Verfolgungen und Internierungen. Als die Schwiegereltern in Lyon von Milizen ermordet wurden, protestierte Halbwachs ohne Rücksicht auf die Folgen vehement bei den dortigen Behörden. Der Freund Marc Bloch wurde im Juni 1944 gefoltert und erschossen, nur einen Monat später wurde Halbwachs selbst nach Buchenwald deportiert.

Becker schreibt auch dieses letzte "Kapitel" über die Zustände in Buchenwald nicht ohne "kulturwissenschaftliche" Färbung, gibt aber gerade deshalb nicht der Versuchung nach, die menschliche Katastrophe in der geschichtlichen als Drama zu erzählen. Dies ist eine der Stärken des Buchs: dass uns die hier zum ersten Mal eröffneten Quellen und die ganze "Geschichte", von der Becker zu berichten weiß, Halbwachs zwar nicht "unendlich nahe" bringen, wie Pierre Nora in seinem Vorwort schreibt, aber doch viel näher als bisher.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Prochasson, Christophe, Les intellectuels, le socialisme et la guerre, 1900–1938, Paris 1993.
2 Ansätze dazu bietet Marcel, Jean-Christophe, Le durkheimisme dans l'entre-deux-guerres, Paris 2001, S. 145-218.
3 Prochasson (wie Anm. 1), S. 122ff.
4 Zu den damaligen epistemologischen Frontstellungen vgl. Mucchielli, Laurent, Für eine kollektive Psychologie: Das durkheimsche Erbe bei Maurice Halbwachs und seine Auseinandersetzung mit Charles Blondel, in: Egger, Stephan (Hg.), Maurice Halbwachs. Aspekte des Werks, Konstanz 2003, S. 69-113.
5 Eine seltsame Behauptung angesichts der zentralen Bedeutung religiöser Phänomene für den Durkheimianismus. Vgl. auch Halbwachs, Maurice, Les origines du sentiment religieux d'après Durkheim, Paris 1925.
6 Vgl. Egger, Stephan, Auf den Spuren der "verlorenen Zeit", in: Halbwachs, Maurice, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land, Konstanz 2003, S. 219-268.