U. Weckel u.a. (Hgg.): "Bestien" und "Befehlsempfänger"

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Titel
"Bestien" und "Befehlsempfänger". Frauen und Männer in NS-Prozessen nach 1945


Herausgeber
Weckel, Ulrike; Wolfrum, Edgar
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Renz, Fritz Bauer Institut

Das nationalsozialistische Deutschland war eine männerdominierte Gesellschaft. Die Zuweisung traditioneller Geschlechterrollen war essenzieller Bestandteil der NS-Ideologie. Männer machten Politik und somit Geschichte, Männer erteilten auch die Mordbefehle, die wiederum Männer beflissen ausführten. Der Mord an den europäischen Juden konnte nach Ansicht der NS-Führung nur von einer weltanschaulich gefestigten Elite, vom „Orden der SS“, vollbracht werden. Frauen seien Aufgaben von welthistorischer Bedeutung nicht gewachsen. Gleichwohl waren Frauen am systematischen Vernichtungsprogramm von Beginn an beteiligt. Dies gilt für die Krankenmorde ebenso wie für die Massenmorde in Lagern. Als Ärztinnen und Krankenschwestern sowie als Angestellte der SS wirkten Frauen an NS-Verbrechen mit. In den Frauenkonzentrationslagern und in den beiden Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau und Majdanek verrichteten sie ihren Dienst als Aufseherinnen. Auch als mit der Lager-SS kollaborierende Funktionshäftlinge waren Frauen in das Mordgeschehen involviert. Zwar wurde keine Frau Kommandantin eines Lagers; die Dienststellung einer Lager-, Rapport- und Blockführerin nahmen Frauen jedoch ein.

Vor alliierten und deutschen Gerichten standen auch zahlreiche NS-Täterinnen, und sie fanden in der öffentlichen Wahrnehmung mehr Aufmerksamkeit als die meisten männlichen Angeklagten. Wie vielfältig die Bilder von Täterinnen und Tätern waren, auf welchen Geschlechterstereotypen die Darstellung der Angeklagten beruhte, wird in dem von Ulrike Weckel und Edgar Wolfrum herausgegebenen Sammelband aufgezeigt. Der in zehn Fallstudien mit unterschiedlicher Gewichtung praktizierte geschlechtergeschichtliche Ansatz erweist sich als überaus fruchtbar. Neun Autorinnen und ein Autor befassen sich dabei mit unterschiedlichen Quellensorten: Reportagen, Prozessberichterstattung in Presse, Rundfunk und Fernsehen, Gerichtsakten, Belletristik. Die Aufsatzsammlung macht deutlich, wo Forschungslücken bestehen, und trägt teilweise selbst dazu bei, diese Lücken zu schließen.

Irmela von der Lühe, Autorin einer Biografie Erika Manns, schreibt erhellend über die Kriegskorrespondentin und Prozessberichterstatterin Erika Mann. Über die vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg stehenden NS-Größen, die ihnen zur Last gelegten Taten, die Strategien der Anklagevertretung, die Bemühungen der Verteidigung und die „Wahrheitsfindung“ durch das Gericht erfahren wir in ihrem Beitrag aber wenig. Die mögliche Besonderheit der Texte Manns ließe sich nur auf der Basis der Kenntnis des Prozessverlaufs und in vergleichender Analyse von anderen Prozessberichten herausarbeiten.

Anneke de Rudder betrachtet die zeitgenössische Berichterstattung über den Prozess gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive, wobei sie feststellt, dass das Nürnberger Verfahren ein „Prozess der Männer“ war (S. 40): „Männer stellten die Regeln auf, Männer klagten Männer an, Männer richteten über Männer und deren Verbrechen.“ Gleichwohl hält die Autorin einen „spezifisch weiblichen Blick auf den Prozess“ für ertragreich (S. 41). Sie gibt indes keinen systematischen Überblick über die Arbeiten von Korrespondentinnen im Vergleich zu den Texten der männlichen Kollegen.

Ungemein aufschlussreich ist die Rekonstruktion der Täterbilder, die Christine Bartlitz in ihrer Analyse von etwa 100 Sendemanuskripten des Berliner Rundfunks leistet. Bereits Mitte Mai 1945 nahm der für die sowjetische Besatzungszone von Remigranten aus dem Moskauer Exil gegründete Sender den Betrieb auf. Die Repräsentation der in Nürnberg angeklagten Täter als gewöhnlicher Ganoven, Hochstapler, erbärmlicher Kreaturen und Schmarotzer sowie die Darstellung des NS-Systems als Verschwörung einer kleinen Gruppe von Verbrechern hatten den alleinigen Zweck, das deutsche Volk zu exkulpieren. Verbrechern und Betrügern konnten sich die moralisch anständigen Deutschen, hilf- und ahnungslos den Machenschaften skrupelloser Krimineller an der Staatsspitze ausgeliefert, nicht erwehren: Sie erschienen als Opfer und nicht als Mitschuldige (S. 76).

Insa Eschebach untersucht Anklage- und Urteilsschriften von in der SBZ und der DDR durchgeführten Prozessen gegen 35 vormalige SS-Aufseherinnen des KZ Ravensbrück und seiner Nebenlager. Kamen die Angeklagten in den Verfahren der späten 1940er-Jahre mit milden Strafen oder gar Freisprüchen davon, sprachen die DDR-Gerichte in den 1950er- und 1960er-Jahren durchweg harte Strafen aus. Der juristische Diskurs in der unmittelbaren Nachkriegszeit bediente sich im Wesentlichen dreier Argumentationsmuster: Die Taten der Frauen wurden als „Entgleisungen“ qualifiziert und damit entschuldigt; milde stimmte die Juristen auch das jugendliche Alter der fehlgeleiteten Delinquentinnen und ihr ehrbarer Status als Arbeiterinnen. Interessant wäre gewesen, hätte Eschebach im Detail ihre Erkenntnis dargelegt, dass die Anklageschriften der frühen Verfahren noch ein „Negativbild“ beschrieben, die Urteile hingegen die „weibliche Unschuld“ hervorhoben. Hier würde man gern erfahren, auf welche Beweismittel (Zeugen) sich die Staatsanwaltschaften in ihren Anklagen stützten und warum in der Hauptverhandlung die Zeugenaussagen vor dem erkennenden Gericht scheinbar an Beweiswert verloren.

Spruchkammerentscheidungen gegen politisch stark belastete, in Lagern internierte Frauen – vormals SS-Aufseherinnen – untersucht Kathrin Meyer auf die ihnen zugrunde liegenden Weiblichkeitsstereotypen. Über die von öffentlichen Klägern als belastet eingestuften Frauen hatten die mit Laienrichtern besetzten Kammern zu entscheiden. Lageraufseherinnen wurden an geschlechtsspezifischen Moralvorstellungen gemessen und in der Erstinstanz oftmals wegen ihres „wesensfremden“ Verhaltens bestraft. SS-Helferinnen hingegen kamen glimpflich davon, vermochten sie doch den Kammern weiszumachen, sich in ihrer besonderen Lage durchaus geschlechtskonform verhalten zu haben.

Täterinnen von einnehmender Schönheit haben manchen Schriftsteller zu beschönigenden Darstellungen verführt. So nahm Erich Fried in seinem Roman „Ein Soldat und ein Mädchen“ (1960) den Fall der SS-Aufseherin Irma Grese zum Anlass, um gegen die Todesstrafe und für einen unteilbaren Menschlichkeitsbegriff zu schreiben. Den Roman „Die Frau im Pelz“ des Schweizer Schriftstellers Lukas Hartmann diskutiert Regula Ludi in ihrem Essay als „paradigmatisches Beispiel für spezifische Täterinnenbilder“ (S. 140). Hartmanns Vorlage war Carmen Mory, Funktionshäftling in Ravensbrück. Wie Ludi nachweist, exkulpiert und viktimisiert Hartmann die Angeklagte – mehr noch: Mit der Bagatellisierung ihrer Taten banalisiert er die NS-Verbrechen (S. 166).

Einen Vergleich von politischen Gerichtsprozessen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus nimmt Isabel Richter vor. Hielten Weimarer Richter noch an geschlechtsspezifischen Deutungsmustern fest, waren NS-Richter durchaus geneigt, Frauen und Männer gleich zu behandeln. Die Autorin spricht von einem Prozess der „Entgeschlechtlichung“ (S. 192); die Geschlechterdifferenz habe sich in einem Angleichungs- und Auflösungsprozess befunden.

Michael Greve stellt die Gehilfenrechtsprechung bundesdeutscher Gerichte dar. Etwa 70 Frauen hätten sich wegen ihrer Beteiligung an NS-Gewaltverbrechen verantworten müssen, davon aber nur ganz wenige wegen „Massenverbrechen in Lagern und Haftstätten“ (S. 202). Die der Urteilsfindung zu Grunde liegende subjektive Teilnahmelehre führte dazu, dass nur wenige Angeklagte als Mittäter eingestuft wurden. Nach Meinung der deutschen Richter hatte den meisten Angeklagten der „Täterwillen“ gefehlt; schuldig waren sie nur deshalb, weil sie eine „fremde Tat“ unterstützt und gefördert hatten. Zutreffend weist Greve darauf hin, dass die Rechtsprechung ein „NS-Täterbild“ geschaffen habe, welches den historischen Geschehnissen nicht gerecht geworden sei.

Sabine Horn untersucht die Fernsehberichterstattung über den Majdanek-Prozess (1975–1981) hinsichtlich der Selbststilisierungen der Angeklagten sowie der Stereotypisierungen seitens der TV-Journalisten. Rezeptionsgeschichtliche Arbeiten kranken häufig daran, dass ausgewertete Quellen nicht auf Primärquellen rückbezogen werden. Die Primärquellen der NS-Prozesse stellen die Gerichtsakten dar, bezüglich der Angeklagten die Vernehmungen im Rahmen des Vorverfahrens. Die Vernehmungsniederschriften sowie die Sitzungsprotokolle der Hauptverhandlungen, insbesondere die protokollierten Vernehmungen der Angeklagten zur Sache, bilden die Grundlage für jegliche Bewertung späterer Selbststilisierungen und Täterrepräsentationen. Horn führt aus, dass in der Berichterstattung über den Majdanek-Prozess die so genannten Exzesstaten allein mit weiblichen Angeklagten verbunden worden seien (S. 236). Die angeklagten Männer galten den TV-Reportern hingegen als befehlsergebene Werkzeuge, als „Rädchen im Getriebe“. Horn hebt hervor, wie wenig diese Darstellung dem Tatgeschehen entsprach.

Aus medienhistorischer Perspektive vergleicht Christina von Braun die unterschiedlichen Geschlechtercodierungen bei NS-Tätern und NS-Täterinnen. Die schmale Quellenbasis besteht dabei aus Hannah Arendts Eichmann-Buch, Eichmanns autobiografischen Aufzeichnungen sowie einem Buch über die SS-Aufseherin Irma Grese. Braun nimmt an, dass die männlichen Angeklagten im Gegensatz zu den vor Gericht stehenden Frauen als „normal“, die Männer als „unsichtbare“, die Frauen hingegen als „sichtbare“ Täter(innen) wahrgenommen worden seien; diese öffentliche Wahrnehmung habe eng mit den medialen Bedingungen zusammengehangen. Darüber hinaus vertritt von Braun die These, dass die „symbolische Geschlechterordnung“ nicht nur „zu einer je spezifischen Wahrnehmung männlicher und weiblicher Verbrecher und Taten beigetragen hat, sondern auch die Täter selbst in ihren Handlungen beeinflusste“ (S. 265). Belege für diese Sicht bleibt die Autorin indessen schuldig.

Mit dem Sammelband von Weckel und Wolfrum hat die NS-Täterforschung einen interessanten und ertragreichen Schritt getan. Der Frage nach den Auswirkungen von Geschlechtszugehörigkeiten der Beteiligten an den NS-Verbrechen gilt es weiter nachzugehen.

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