H. Böning: Dreißigjähriger Krieg und Öffentlichkeit

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Titel
Dreißigjähriger Krieg und Öffentlichkeit. Zeitungsberichte als Rohfassung der Geschichtsschreibung


Autor(en)
Böning, Holger
Reihe
Presse und Geschichte 126
Erschienen
Bremen 2018: Edition Lumière
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jakub Zygalski, Neuphilologische Fakultät, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Zum 400. Gedenkjahr des Beginns des Dreißigjährigen Kriegs erschienen, widmet sich Holger Bönings Studie der zeitgenössischen, öffentlichen Berichterstattung über die aufkeimenden Konflikte ab 1609 bis etwa zur Mitte des großen Krieges um 1633. Angesichts des Forschungsstands – mit neuen monographischen Darstellungen1, die wie die großen älteren Untersuchungen Moriz Ritters, Anton Gindelys oder wie Ricarda Huchs romanhaft episches Werk2 teilweise monumentalen Ausmaßes sind – hat Böning zu dem auf den ersten Blick schon intensiv bearbeiteten Thema viel Neues zu berichten. Diese „andere“ Perspektive findet der Forscher in der frühesten deutschsprachigen Presse; so unterstreicht er bereits eingangs als Prämisse wie auch als ein Ergebnis seiner Forschung: „Der Dreißigjährige Krieg […] begann nicht 1618“ (S. 12).

Nach einer kurzen Einführung, die sich zunächst mit der Mythisierung der berühmten Kometenerscheinung 1618 zu einem Omen für den Auftakt des Dreißigjährigen Krieges in späteren historischen Werken befasst (S. 13–22), leitet der Autor zu einer knappen und informativen Geschichte der frühesten deutschsprachigen und weltweit ersten gedruckten wöchentlichen Zeitungen – der Straßburger Relation des Johann Carolus von 1605 und des Wolfenbütteler Aviso von 1609 – über.

Im ersten Kapitel kommt dem Jahr 1609 eine besondere Stellung zu: einerseits, weil mit diesem Jahr die noch erhaltene, gedruckte Zeitungsberichterstattung einsetzte; und andererseits, weil sich der Blick der Presse auf den Kaiser und die böhmischen Stände sowie auf alle mittel- oder unmittelbar am späteren Krieg beteiligten Mächte richtete und damit die Perspektive auf fast ganz Europa, von der iberischen Halbinsel bis zum Baltikum öffnete. Hier stellt Böning anhand der Zeitungsberichte fest, dass alle „kriegsauslösenden Konfliktlinien“ (S. 12) bereits fast ein Jahrzehnt vor dem großen Krieg präsent gewesen seien.

Im Kapitel über die Anfangsphase des Kriegs 1618–1621 werden die politischen „Hauptrollen“ des Kaisers, der böhmischen Stände, des bayerischen Herzogs und des Kurfürsten von der Pfalz anhand mehrerer, einschließlich jetzt neu hinzugekommener Zeitungen vor dem Hintergrund der zuvor identifizierten Konflikte ausführlicher betrachtet. Die erste „Entscheidungsschlacht“ (S. 288) am Weißen Berg bei Prag 1620 ist dabei ein bedeutender Aspekt, ebenso werden weitere Kriegsteilnehmer unter den europäischen Mächten ins Auge gefasst.

Der Abschnitt über einzelne Zeitungsausgaben der Jahre 1626 und 1633 schließlich befasst sich mit der Berichterstattung aus der Zeit vor und nach dem Kriegseintritt Schwedens 1630. Hier beherrschen Korrespondenzen mit ebenso akribischen wie schauerlichen Details von Schlachten und Stadtbelagerungen das eindrucksvoll anhand vieler Textquellen erschlossene Bild: Der Detailreichtum der Berichte reicht von Militärfinanzen über den Soldatenalltag, zu welchem neben der kargen Besoldung und blutigen Kämpfen auch das Morden und Ausplündern der Zivilbevölkerung bei den gewaltigen Heereszügen auf ihren Wegen durch Europa gehörte, bis hin zu Nachrichten von bäuerlicher Selbsthilfe gegen marodierende Soldaten. Parteilichkeit in der Berichterstattung mache sich dabei, wie im Schlusskapitel näher ausgeführt wird, zwar in Ausnahmefällen durchaus bemerkbar, doch würden generell die Siege und Niederlagen von Freund und Feind durch die frühen Zeitungskorrespondenten und Verleger mit dem gleichen Gewicht und deskriptiven Tonfall dargestellt und Tugenden wie Fehlverhalten der „eigenen“ Truppen in gleichem Maße zur Sprache gebracht (S. 387f).

Böning will mit seiner Studie nicht die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs neu schreiben, sondern er konzentriert sich auf einen spezifischen Gegenstand: Die deskriptive und interpretatorische „Leistungsfähigkeit“ (S. 28) der frühesten Presse in ihrer Funktion als öffentlich zugängliches Informationsmedium. Wie der Titel des Fazit-Kapitels unterstreicht: „Was wissen die Zeitungen?“ – und was, analog hierzu, erfahren ihre Leser/innen? Als historische Quelle seien die Zeitungen kein alleinstehendes non plus ultra, sie stünden vielmehr im engen Verbund mit anderen Archivquellen (S. 407f.) und zeigten, welche Informationen potenziell für jedermann zugänglich waren, inwiefern das Lesepublikum in einer Ständegesellschaft als Teilöffentlichkeit an der Bildung einer öffentlichen Meinung beteiligt und hierzu, unter anderem durch das Medium der gedruckten Zeitungen, befähigt wurde. Die soziale Beschaffenheit des Publikums nach Bildungsstand oder wirtschaftlicher Situation ist so zwar nicht zu ergründen, wohl aber, welch umfangreiches Volumen an Wissen den Leser/innen zur Verfügung gestellt wurde. Infolgedessen blieb selbst von „der vielbeschworenen Arkanpolitik als dem beherrschenden staatsrechtlichen Prinzip der Frühen Neuzeit“ (S. 10) bisweilen nur noch wenig übrig, wenn beispielsweise geheime Absprachen unter den Fürsten publik gemacht wurden (S. 381f.). Nicht zuletzt darin habe das „kritische Potential“ (S. 385) der frühen Zeitungen gegenüber den Herrschenden gelegen.

Neben anderen aktuellen Monographien zum Dreißigjährigen Krieg wird schnell deutlich, wodurch sich Bönings Studie von diesen abhebt: Ein besonders wichtiges Merkmal ist zum Beispiel die quellengetreue Wiedergabe der frühneuhochdeutschen Sprache in den Medien der Zeit: Viele transkribierte Zeitungstexte belegen die Erkenntnisse anschaulich und praxisnah. Dieser Aspekt fehlt bei Autor/innen anderer Werke (z.B. Medick, Münkler, Schmidt), die ihren Leser/innen fast ausschließlich stark normalisierte Textfassungen bieten. In dieser direkten Konfrontation mit dem gedruckten historischen Sprachgebrauch liegt die Stärke der Studie. Denn sie ermöglicht es den Leser/innen, sich mittels der variierenden Syntax und Orthographie der im Prozess der Festigung begriffenen deutschen Standardschriftsprache – zu welcher die Zeitungen einen nicht unerheblichen Teil beitrugen – in Ereignisabfolgen und Denkprozesse vor 400 Jahren besser hineinzuversetzen. Umso deutlicher erscheinen die Materialschlacht und Verschwendung von Menschenleben in jenem großen Krieg. Ebenso verblassen vor der Nüchternheit der Berichte ominöse Himmelserscheinungen am Ende nicht lediglich zu Marginalien, sondern sie avancieren, auch als Facette späterer Geschichtsschreibung, durchaus zu wirkungsästhetisch ansprechenden narrativen Elementen (S. 376). Das Klingen jener Sprache im geistigen Ohr motiviert, Brechts Mutter Courage zur Hand zu nehmen, um sich die in den Zeitungsberichten weitgehend unsichtbaren Ziviltrosse im Gefolge der Heereszüge (S. 337) neu zu erlesen.

In der Studie werden zudem weitere periodische Druckmedien der Zeit, auch mit niedrigerer Erscheinungsfrequenz als die wöchentlichen Zeitungen, gewürdigt – so das Theatrum Europaeum, die Messrelationen, die Flugpublizistik, Chroniken, Kalender und Zeitungsextrakte (S. 397–405). Dabei ist das beigegebene Personen- und Sachregister sehr nützlich. Zahlreiche Illustrationen wie die bekannte Darstellung des Prager Fenstersturzes aus dem Theatrum Europaeum von 1635 – daneben auch in „naiverer“ (S. 147) Variante aus einer Flugschrift – bieten eine Form der Gegenüberstellung der barocken Bildsprache mit der stellenweise nahezu atemlos wirkenden, akribischen Detailliertheit der wiedergegebenen Nachrichten. Bei der Beschreibung realer Kriegsschauplätze kennen die Zeitungen als „Rohfassung der Geschichtsschreibung“ (S. 32) ebenso wenig wie ihre Rezipienten den Ausgang der jeweiligen Geschehnisse, was dazu anregt, diesen europäischen Konflikt nicht nur von seinem Ende her zu betrachten (S. 336).

Schließlich klingt aus Bönings Werk ein subtiler, doch nicht zu überhörender Grundton, der in der Öffentlichkeit als miteinander geteiltem Kommunikationsraum von Medien und Publikum auch noch für unseren heutigen Umgang mit journalistischen Medien Gültigkeit besitzt. Sozusagen als obligater „Gefallen“ an die Presse seitens ihrer Leser/innen, der ihr selbst seit jeher gebührt und ihren Rezipient/innen zudem gut zu Gesicht steht: Ein bedeutender Anteil der Interpretation und Wirkung des Rezipierten als einem „Substrat der Geschichtsschreibung“ (S. 407) hängt letztlich von einem kritischen, auf unterschiedliche Informationen neugierigen und vom Text unabhängig selbst denkenden Lesepublikum ab: so schon in jener voraufklärerischen Zeit, in der – wie die Studie verdeutlicht – die medialen Grundlagen hierfür geschaffen wurden, aber auch ganz besonders heute, vier Jahrhunderte danach.

Anmerkungen:
1 Johannes Burkhardt, Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 2018; Hans Medick, Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt, Göttingen 2018; Georg Schmidt, Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München 2018; Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648, Reinbek 2017; Peter H. Wilson, Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie, Darmstadt 2017.
2 Anton Gindely, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. In drei Abteilungen, Leipzig 1882–1884; Ricarda Huch, Der Dreißigjährige Krieg, 2 Bde., Leipzig 1957 (zuerst 1912–1914 in drei Bänden erschienen unter dem Titel „Der große Krieg in Deutschland“); Moriz Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555–1648), 3 Bde., Stuttgart 1889–1908.

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