H. Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert

Titel
Adel im 19. und 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Reif, Heinz
Reihe
Enzyklopädie deutscher Geschichte 55
Erschienen
München 1999: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
156 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartwin Spenkuch, Arbeitsstelle Protokolle, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Heinz Reif, mittlerweile quasi der Nestor der deutschen Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, legt mit diesem Band einen souveränen Überblick über alle wesentlichen Themenfelder eines lange vernachlässigten Gebietes vor. Noch vor einem Jahrzehnt hätte ein solches Unternehmen weit dürftiger ausfallen müssen; erst einige Dutzend Arbeiten der 1990er Jahre zu zentralen, nicht zuletzt von Reif selbst formulierten, Forschungsfragen haben es ermöglicht. Über das Referat dieser Studien hinaus, ist der Band aber auch als komprimierte Synthese der Adelsgeschichte lesbar.

Den roten Faden bildet dabei die Entwicklung des deutschen Adels in der modernen Welt, vom Autor auf wirtschaftlichem, politischem und sozial-mentalem Gebiet behandelt. Stets fragt er, wie der Adel auf die säkularen Wandlungen im Zuge der Modernisierung reagierte: Durch Anpassung und Veränderung oder durch Modernisierungsblockade. Zeitgenössischer Konkurrent des Adels und historiographischer Vergleichspunkt für Reif wie für den Großteil der neueren Adelsforschung ist dabei das Bürgertum. Im komprimierten Überblick (1800-1945) wie bei der Besprechung der neueren Forschungsarbeiten gelingt Reif dreierlei. Einmal revidiert er in mehreren zentralen Punkten das konventionelle Bild vom preussisch-deutschen Adel, wie es sich teilweise noch in den Büchern von F. L. Carsten, H.-U. Wehler oder D. Lieven findet. 1 Zweitens lenkt er die Aufmerksamkeit auf bekannte, aber bisher nicht hinreichend gewichtete Tatsachen und Prozesse. Drittens versucht er die Perspektiven künftiger Forschung aufzuzeigen, zumal anhand seines Konzepts "Adeligkeit".

Im Einklang mit einigen neueren Forschungsarbeiten rückt Reif die - seit Max Webers Wort vom ökonomischen Todeskampf des Junkertums - virulente These von der Verdrängung der Aristokraten aus dem Grundbesitz zurecht. Hier gab es zwar bis etwa 1830 erhebliche Einbussen, aber danach - und bis 1914 - reichend auch erhebliche Selbstbehauptung. Beim Einkommen aus Landwirtschaft und landwirtschaftlichen Nebengewerben ist sogar eine erkleckliche Steigerung zu konstatieren. Sie konnte zwar insgesamt nicht mit dem wachsenden bürgerlichen Reichtum mithalten, aber das lag weniger an (land-) wirtschaftlicher Unfähigkeit des Adels als am geringeren Wachstumstempo des primären Sektors und nicht zuletzt an der Selbstbeschränkung des Adels bei der Berufswahl. Hier ist die traditionelle und auch kulturell perpetuierte Konzentration auf Landwirtschaft, Militär und Staatsdienst ausschlaggebend, ja in ihren politischen Konsequenzen folgenreich gewesen.

Aufgrund dieser sektoral beschränkten Berufswelt blieben der Sozialgruppe Adel die modernen, kapitalistischen Sektoren, städtisch-individualisierte Lebensweise und Kultur wie auch das politische Partizipationsverlangen anderer Schichten länger fremd, als es gut für die Gesamtgeschichte Preußen-Deutschlands war. Gerade die von Reif hervorgehobene, im Grunde bekannte, aber nun auch quantifizierbare, starke Militärorientierung des (alt-) preussischen Adels, der, anders als im vergleichsweise zivileren Süd- und Westdeutschland, im Kaiserreich schätzungsweise 60-70% seiner Söhne ins Militär und jeden achten bis zehnten in das Beamtentum entsandte, konservierte seine antiliberale, vordemokratische, ständische Orientierung. Selbst als militärisches und verbeamtetes "Bollwerk vor dem Thron" (S. 109) kam der Adel um stete Leistungsanpassung nicht herum, aber er genoß zugleich die Vorteile der Protektion durch die Monarchen und der Solidarität seitens der bereits arrivierten Standesgenossen.

Vor dem Hintergrund der von Reif herausgearbeiteten inneren Differenzierung im Adel - sowohl zwischen reichen, weltläufigen, häufig katholischen Standesherren und ärmeren, streng preussischen und meist evangelischen Junkern, wie auch zwischen Altpreußen, seinen Westprovinzen und den süddeutschen Staaten - kam eine adelig-bürgerliche Synthese allenfalls in vereinzelten Ansätzen zustande. 2 Als Hauptgrund läßt sich aber die tiefe, bis 1918 und darüber hinaus bewahrte Abneigung des Adels gegen eine offene Elitenbildung in Form eines adelig-bürgerlichen Compositums benennen. Denn der Adel modernisierte sich sehr selektiv, paßte sich etwa bei den Bildungsnormen oder in seinen professionellen Leistungen an, aber blieb doch insgesamt, zumal in weiten Teilen seines Selbstverständnisses und Weltbildes, ein vormoderner, abgeschlossener Stand. Gegen andere Forschungsmeinungen resümiert Reif das Jahrhundert zwischen 1815 und 1918 deshalb: "Die Abschottung des Adels war gewollt, und sie war ein Indiz der Stärke in anhaltender Defensive. Der Rückzug erfolgte kontrolliert und im Gestus des Siegers." (S. 61)

Dem kann der Rezensent durchaus zustimmen, auch wenn damit das verbissene Festhalten besonders des altpreussischen Adels an überkommenen Führungspositionen noch eher untertrieben ist. Bei beinahe jeder preussischen Reformfrage ab 1807 (z. B. Ablösungen, Verfassungsdiskussion, Verwaltungsreorganisation, Wahlrechtsreform, Etablierung der Weimarer Republik) befanden sich große Teile des (junkerlichen) Adels an der Spitze der Reaktionsbewegung. Herrschaftsrechte über Gutshof, Kaserne, Verwaltung wie Gesamtstaat wurden vom Adel stets spät und nur unter großem Druck aufgegeben. Das trug nicht unwesentlich zu den Verwerfungen der deutschen politischen Kultur bei.

Allerdings haben zahlreiche Studien quantitativ einen steten Rückgang des Adelsanteils an Spitzenpositionen aller Art, besonders in Verwaltung und Militär, konstatiert. Gegenüber diesem vorderhand richtig ermittelten Trend ist aber - und das hätte (S. 74 ff.) noch angefügt werden dürfen - ein gegenläufiger Haupterfolg des preussischen Adels nicht zu unterschätzen: Seine Präsenz in Verwaltung und Militär generierte und befestigte das beharrende Element, den konservativen esprit de corps auch im bürgerlichen Personal des Staatsapparates. Da es zudem gelang, liberale, zentrumskatholische oder gar sozialdemokratische Persönlichkeiten faktisch auszuschliessen, besaß die (grosso modo nicht ineffiziente) Bürokratie eine besondere Prägung. Das hat den vorhandenen bürgerlichen Geist der Zivilgesellschaft in Preußen-Deutschland merklich geschwächt. Damit soll nicht der von Reif (S. 58) zurecht als undifferenzierte Verkürzung abgelehnten "Sündenbockfunktion" der Junker in Teilen der älteren Historiographie das Wort geredet, sondern nur an einen wirkungsmächtigen politischen Aspekt erinnert werden.

Als innovative Forschungsperspektive möchte Reif epochenübergreifende Kernelemente adeligen Selbstverständnisses (Ungleichheitsprinzip, Familie, Selbstinszenierung und Herrschaftsanspruch) im - der Bürgertumsforschung entlehnten - Konzept "Adeligkeit" bündeln. Da es (S. 119 f.) allzu knapp erläutert wird, fällt die genaue Abschätzung seiner Tragfähigkeit vorderhand schwer. Trotzdem scheint der heuristische Nutzen dieses Sozial- und Kulturgeschichte verbindenden Konzepts, das die Rekonstruktion der zeitgenössisch möglichen Optionen neben, ja vor die Adelskritik durch nachgeborene Historiker stellt, durchaus vielversprechend.

Dem Leser bleibt somit wenig zu wünschen übrig. Nur einzelne Felder, etwa der Adel im kulturellen Bereich von der Schulbildung über Lesestoffe bis zu adeligen Künstlern und Wissenschaftlern, fehlen im Reigen der knapp resümierten Forschungsfelder. Dafür wartet Reif mit interessanten Fakten auf, etwa der politisch bedeutsamen quantitativen Dominanz der preussischen Junker über den süd- und westdeutschen (Reichs-)Adel bei offenbar deutlich schrumpfender Adelspopulation (S. 8 f., 59 f.), mit einem Abschnitt zur Berufswahl adeliger Frauen (S. 27 f.) oder mit dem Hinweis auf die deutschen Kolonien und den Bankenbereich als untersuchenswerten Tätigkeitsfeldern von Adeligen nach 1880 (S. 14, 86). Die Bibliographie läßt kaum einen relevanten Titel aus. Einzelne Irrtümer in Details - der Herzog v. Ratibor war kaum Industrie-Magnat, eher Graf Tiele-Winckler (S. 6), die Kreisordnung datiert von 1825, nicht 1827, der Pairsschub fand 1860 statt, nicht 1861, und die Bodenreform schon 1946 (S. 42, 55, 109) -, kleine Widersprüche im Text - auch Darmstadt und Stuttgart waren geachtete, quasi verbürgerlichte Höfe (S. 36, 84) - oder die genetisch inkorrekte Zuschreibung der Entdeckung von F. J. Stahls konservativer Konstitutionalismus-Deutung an P. Kondylis (S. 110) statt an G. Grünthal und W. Füssl, seien nur als Petitessen angemerkt. Vielleicht hätte bei der Benennung künftiger Forschungsaufgaben und zur Schärfung des Blicks auch im Darstellungsteil noch der Vergleich mit anderen europäischen Staaten angeführt werden können. Aber die als Forschungsüberblick konzipierte Reihe "Enzyklopädie deutscher Geschichte" soll wohl in erster Linie die Erträge vorliegender Studien resümieren. Dies gelingt Reif durchwegs.

In Summa: Es handelt sich um eine wertvolle Zwischenbilanz der bisherigen und ein unentbehrliches Hilfsmittel für die weitere Forschung. Es steht zu hoffen, daß das von Reif zusammengefaßte, in einigen wichtigen Punkten auch revidierte Bild des Adels von künftigen gesellschaftsgeschichtlichen Studien über Preußen-Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert breit rezipiert wird.

Anmerkungen
1 Francis L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt/M. 1988; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, München, 2. Aufl. 1989 u. Bd. 3, München 1995; Dominic Lieven, Abschied von Macht und Würden. Der Europäische Adel 1815-1914, Frankfurt/M. 1995.
2 Als Beispiele nennt Heinz Reif, Hauptstadtentwicklung und Elitenbildung: "Tout Berlin" 1871 bis 1918, in: M. Grüttner u. a. (Hg.), Geschichte und Emanzipation (Festschrift für R. Rürup), Frankfurt/M. 1999, S. 679-699, das großbürgerlich-aristokratische Berliner Tiergartenviertel und den 1907 gegründeten Lyzeumsclub.

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